In den letzten Tagen haben viele Leute ihre persönlichen Texte geschrieben, wie 2020 für sie war und was wir daraus lernen können. Darin haben wir nochmal die hunderttausenden Katastrophen Revue passieren lassen, die im letzten Jahr passiert sind. Ich glaube nicht, dass ich mit so einem Text viel beisteuern kann. Eher geht es mir in einem Jahresrückblick darum, zu zeigen, was man in diesem Jahr gelernt hat.
Es ist Donnerstag, der 31. Dezember 2020, Silvester, und ich hab jetzt erst die Zeit gefunden, aber: Das hier hab ich gelernt.
Wenn es einen Moment im Jahr 2020 gibt, der mir für immer in Erinnerung bleiben wird, dann ist es der 15. März. Vielleicht war es aber auch der 16. Gerade die Dinge, die einem stark in Erinnerung bleiben, sind oft so emotional, dass man Details entweder vergisst oder hinzu erdichtet. Jedenfalls glaube ich, dass es der Abend war, in dem wir zum ersten Mal in den Lockdown geschickt wurden. Als wir nicht wussten, wie es weitergeht.
Ich war mit meiner Freundin auf der Loggia. Was ich normalerweise nicht mache, weil “nur dasitzen und chillen” nicht meine Freizeitgestaltung ist. (Etwas, das ich mir gegen Ende des Jahres so oft gewünscht hätte.) Im Innenhof, der mich das ganze Jahr über wach hält, war es erstaunlich ruhig - obwohl alle daheim waren, lauschten alle dem einsamen Gitarrenspieler, der sein 18:00-Uhr-Konzert für alle gab. Wir alle hörten nur zu und für einen kurzen Moment hatte ich das Gefühl, dass alles wieder in Ordnung wird.
Aus dem 18:00-Uhr-Konzert wurde Routine, und über den gesamten Lockdown spielten die Musiker in unserem Innenhof ein Konzert. Ich bin mir nicht sicher, ob es mehrere aus verschiedenen Wohnungen waren, aber ich will glauben, dass sie spontan miteinander gejammt haben. Und von da an bestand jeder Tag zu 50 % aus Arbeit und zu 50 % aus noch mehr Arbeit - nämlich damit, auf dem Laufenden und bei Verstand zu bleiben. Jede neue Entwicklung zur Pandemie habe ich aufgesaugt, jede Pressekonferenz geschaut, immer auf der Suche nach einem Silberstreif.
Im gesamten ersten Lockdown war ich ausschließlich draußen, um Einkäufe zu erledigen. Mit Maske, auch draußen, für die gesamte Woche im Voraus. Immer selber kochen, nie rausgehen, McDonald’s vermissen. Alles, um dieses tödliche Virus zu vermeiden, an dem sie in Italien wie die Fliegen weggestorben sind. Um die Alten zu schützen, die Risikogruppen - und mich und meine Freundin, weil das Virus auch Junge töten kann.
In dieser Zeit habe ich zum ersten Mal so etwas wie gesellschaftlichen Zusammenhalt erlebt. Plötzlich war mir nicht mehr egal, wer meine Nachbarn sind oder wie es ihnen geht. Im Supermarkt habe ich aufgepasst, wem ich zu nahe komme, und für das Vortritt lassen tauschten wir nette Blicke über unserer Maske aus. Es fühlte sich kurz so an, als würde die ganze Gesellschaft zusammenrücken - gemeinsam stehen wir das durch, ausnahmsweise denken wir nicht nur an uns selbst.
Aber vermutlich war das alles nur romantisiert.
Denn dann war Sommer.
Für mich bedeutete der Sommer, dass das Schlimmste - vorerst - überstanden war. Die Intensivstation drohte nicht, überzugehen, das schwache Infektionsgeschehen war überschaubar, es gab seltene Todesfälle mit Vorerkrankungen. Es sah aus, als wäre Österreich mal wieder glücklich gewesen und wir könnten uns jetzt langsam wieder trauen, rauszugehen und unser Leben zu leben.
Ich hatte einen coolen Sommer. Wir vergessen das in der Tristesse des Winters oft, aber “mit Freunden etwas trinken gehen” war im Sommer gut möglich. Wir waren in Restaurants, am Faaker See, bei der Familie in Salzburg und auf Vereinsklausur in Eisenerz, und das alles war mit extrem wenigen Einschränkungen möglich.
Das war aber auch die Zeit, in der die Dinge bergab gingen.
Es war nämlich auch ein Supersommer für Sucharit Bhakdi. Den Corona-Fehlalarm-Autor. Auch einige meiner früheren Kollegen haben - zuerst noch zwischen den Zeilen in Addendum-Beiträgen des Chefredakteurs, danach expliziter auf ServusTV - hart daran gearbeitet, die Geschichte neu zu schreiben. Dass Massensterben, überfüllte Intensivstationen und Zustände wie in Italien bei uns immer vollkommen unrealistisch waren. Die FPÖ ist endgültig dem Wahnsinn verfallen und forderte sinngemäß das Ende aller Maßnahmen, “Corona ist nicht gefährlich”, und noch heute sagt Herbert Kickl, er lasse sich weder testen noch impfen. All diese Corona-Leugner und Verharmloser haben sich im Sommer mit einem Stückchen Normalität eine goldene Nase verdient - und tausende Tote im Winter provoziert.
Von da an ging das Jahr wirklich bergab. Die Wildfires in Australien und Kalifornien, die aufgeladene Stimmung nach dem US-Anschlag auf einen iranischen General, das alles rief in mir viel weniger hervor als diese Menschen. Den ganzen Sommer hat eine unheilige Allianz aus ServusTV, der FPÖ, Verschwörungstheoretikern, Impfgegnern und anderen Personen fern jeden Anstands und jeder Intelligenz daran gearbeitet, einem großen Teil der Bevölkerung einzureden, dass es die Pandemie nicht gebe. Diese Menschen lachen, wenn Rudi Anschober davon spricht, dass es den Zusammenhalt des März wieder brauche. “Gerade sterben kaum Leute daran, also gibt es die Pandemie nicht.”
Noch heute, zehn Monate nach dem ersten Fall in Österreich, gibt es Menschen, die so tun, als wäre Corona nur eine Grippe - obwohl im wahrsten Sinne des Wortes die gesamte vernünftige Welt ihnen widerspricht. Und obwohl es noch nie so einfach war, einmal im Leben nicht so unglaublich deppert zu sein.
Ihr merkt, ich werde emotional. Denn in dieser Zeit ist meine Hoffnung etwas gestorben. Der Silberstreif, den ich im März so gesucht habe und im Sommer gekostet habe, erscheint mir ehrlich gesagt so weit weg wie nie zuvor zu sein.
Die Zeit seit Ende September ist für mich eine einzige verschwommene Episode aus dem immer gleichen Tag. Aufstehen, daheim bleiben, Videochats, dann mit zermürbtem Gehirn Videospiele spielen und einschlafen. Repeat. Zwischendurch kochen. Ab und zu einkaufen. Immer weniger Pressekonferenzen schauen. Mit viel zu vielen Impfgegnern auf Facebook diskutieren, die nach wie vor hart daran arbeiten, mit ihrer Dummheit ihre Mitmenschen zu töten. Und wieder Videospielen. Immer ruhig bleiben.
Dass ich dazwischen einiges an Arbeit geschafft habe, ist wahrscheinlich das Einzige, was mich irgendwie über Wasser gehalten hat. Und seit September lebe ich nicht wirklich von den üblichen Dingen, die mir Lebensfreude bereiten - sondern vom Abhaken der To-Do-Lists und positivem Feedback. Dass zumindest andere sehen, dass ich irgendwas mit meiner Zeit mache, ist mir fast wichtiger als mein Gehaltszettel geworden. Und dass mir Menschen ab und zu zeigen, dass sie wirklich wissen wollen, wie es mit in diesem Wahnsinn geht, ist oft der Höhepunkt des Tages. Der fast kompensiert, wenn wieder 100 Menschen am Tag sterben.
Nein, ich bin nicht depressiv oder so. Auch wenn ich merke, dass dieser Text furchtbar negativ ist. Aber als ich zu Weihnachten für zumindest ein paar Tage nach Salzburg bin - getestet, mit dem Auto hin -, hab ich mich ins Bett gelegt und bemerkt, dass ich seit Monaten nicht mehr ausgeatmet hab. Diese ständige Mischung aus Pandemie-Wahnsinn, politischer Debatte, Videochats, Home-Office und Masterarbeit hat mir so viel Luft geraubt, dass sich nur noch Corona-Vergleiche anbieten.
Heute habe ich die Masterarbeit abgeschickt. Und zum ersten Mal seit Monaten habe ich frei. Nämlich wirklich frei. Nicht “ich hab frei, aber ich sollte mir Zeitslots für meine Masterarbeit reservieren” oder “ich hab Urlaub, aber ich bin in dringenden Fällen erreichbar”. Sondern echte Tage ohne offene Punkte auf der To-Do-Liste.
Und ich merke, dass ich mich nicht so frei fühle, wie ich es sollte.
Denn wir sind immer noch im Lockdown. Und meine Impfung ist nicht in Sicht. Und selbst wenn sie es wäre, ist es die Durchimpfungsrate nicht. Das, was eigentlich meine Nebenbeschäftigung für das Jahr war, ist zur Hauptbeschäftigung geworden: Ich denke nur noch darüber nach, wie wir aus diesem Albtraum von Videochats und Intensivstationen je wieder rauskommen können, solange noch eine einzige Person Herbert Kickl zuhört. Wie können wir normal leben in einer Gesellschaft, in der tausende von Menschen im Krieg mit der Realität sind? Wie können wir uns politische Lösungen erhoffen, wenn eine der größten Parteien vollkommen dem Wahnsinn verfallen ist? Es lässt mir keine Ruhe. Und dieses Problem ist trotz allem der größte Vollzeit-Job, der mich 2020 beschäftigt hat.
Aber es sind auch gute Dinge passiert. Wie gesagt hab ich meine MA endlich abgegeben. Die Arbeit läuft so gut, wie sie unter den gegebenen Umständen laufen kann, und ich hab 2020 meinen ersten Pitch auf Anhieb gewonnen. Ich konnte das Coronavirus vermeiden, meine Familie ebenfalls, und alle meine Freunde, die es hatten, sind wieder halbwegs fit. Ich bin beim Verein FIRE in den Vorstand gewählt worden und hab trotz viel zu wenig Zeit vermutlich viel weitergekriegt. Und nebenbei hab ich diesen Newsletter aufgebaut, bei dem schon einige mitlesen, was mir wirklich viel Freude macht.
All das deutet darauf hin, dass ich dieses Jahr gut überstanden habe. Aber es war kein gutes Jahr. Einfach, weil mir nicht egal sein kann, wie es mit uns als Gesellschaft weitergeht. Und solange ich dazu keine Lösung ausklügle, kann ich fast nicht anders, als mir den März zurückzuwünschen. Als wir alle im Lockdown waren, Sucharit Bhakdi noch der irrelevante Niemand war, der er sein sollte und wir uns alle gefragt haben, wie wir da zusammen durchkommen.
Rudi Anschober hat wirklich recht, wenn er diesen Geist des März zurückbeschwören will. Meine Befürchtung ist nur, dass wir diesen Kampf bereits verloren haben.