Man merkt, wie eing’naht Österreich in vielen Bereichen ist, wenn man sich die Forderungen ansieht, die hierzulande als “radikal” gelten. Während Schweden nach über 200 Jahren im Schnelldurchlauf seine Neutralität aufgibt und gemeinsam mit Finnland der NATO beitreten will, ist man bei uns schon mutig, wenn man auch nur eine Debatte über das Thema fordert.
In einem Offenen Brief, nachlesbar auf unseresicherheit.org, fordern zahlreiche prominente und semi-prominente Charaktere der österreichischen Innenpolitik eine “gesamtgesellschaftliche Diskussion, in der parteipolitische Interessen in den Hintergrund und das Gesamtwohl unseres Staates in den Vordergrund treten sollte”.
Und weil sich gerade quer durch (fast) alle Parteien diese Debatte anbahnt, denke ich mir: Alright, let’s debate. Also hier ein paar Punkte zur Neutralitäts-Debatte, die ich für erwähnenswert halte.
1. Neutralität kann eine gute Idee sein. Eigentlich.
Ich weiß noch, als ich früher meinen Freund:innen erzählt habe, wie genial ich die Neutralität finde. Das ist mittlerweile einige Jahre her - aber ich kann zumindest immer noch nachvollziehen, warum man sie für eine gute Idee hält. Mit allen Seiten zu reden, dialogbereit zu sein und damit (gerade in einer polarisierten geopolitischen Situation) reich zu werden, das klingt zuerst gar nicht schlecht. Und wenn man sich Modelle wie die Schweiz und (bis gerade eben) Schweden ansieht, sieht es nicht so aus, als würden alle Staaten schlecht damit fahren.
2. Österreich ist ein Trittbrettfahrer.
Die österreichische Neutralität aber ist de facto keine wirkliche. (Ja, das doppelt sich jetzt etwas mit dem letzten Newsletter, ist aber wichtig.)
Mit dem Beitritt zur Europäischen Union ist Österreich bereits in ein Bündnis eingetreten, das auch die gemeinsame Verteidigung vorsieht. Das heißt, wir sind zwar in keinem offiziellen “Militärbündnis” - aber in einem Bündnis, das eben auch militärisch werden kann, wenn es sein muss. Die Abgrenzung zwischen unserer Variante und einem NATO-Beitritt ist in Friedenszeiten offensichtlich, aber in Zeiten des Krieges in EU-Europa nahezu hinfällig.
Österreich nimmt also bereits jetzt den Schutz der EU und der NATO wahr. Die Union schützt uns im Verteidigungsfall, die NATO nimmt uns de facto als Kollateralschaden mit, weil wir von NATO-Staaten umzingelt sind, solange uns nicht die gerade die Schweiz angreift. Gleichzeitig sind wir nicht bereit, auch nur irgendwas zur europäischen Verteidigungspolitik beizutragen. Johannes Huber schreibt dazu:
Man würde, um es brutal zu formulieren, den Blutzoll anderen überlassen. Alternativ könnte man auch sagen: Österreich geht davon aus, nie angegriffen zu werden. Und wenn, dann ergibt es sich, weil es keinen Krieg führen will. Ganz egal, ob es die Aufgabe von Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Demokratie bedeuten würde oder nicht. Schlichte Existenz ist wichtiger.
Das Problem ist, dass wir das offensichtliche Problem darin nicht sehen. Sondern uns eher darin bestätigt fühlen, gut verhandelt zu haben.
3. Die Rolle des “Brückenbauers” ist ein Schmäh.
Oft rühmt sich Österreich in der Rolle des “Brückenbauers”, wie anfangs geschildert. Und ich glaube, es gibt eine Nische für Länder, die als wirklich neutraler Partner dazu da sind, um internationale Verhandlungen zu hosten. Aber wieso in einem Staat, der nicht nur Teil der EU ist, sondern sich außenpolitisch ganz klar einordnen lässt und direkt neben der Schweiz liegt? Dazu schreibt Barbara Toth im FALTER:
Und in Österreich? Bisher haben nur die Neos die Weitsicht und den Mut, das Ende der Neutralität alt einzufordern. Dabei wäre es schon hilfreich, wenn alle Parteien einmal ehrlich zueinander und zum Volk wären und die Neutralität als das benennen, was sie spätestens seit Österreichs EU-Beitritt ist: nationalistische Folklore. Schon seit 25 Jahren dürfen sich Österreichs Soldaten an Kampfeinsätzen der EU beteiligen. Seit 21 Jahren erlauben wir, dass über unseren Luftraum und auf unseren Schienen Waffen in Kriege transportiert werden. Das sollte nicht verdrängt, sondern zum Kern eines neuen, solidarischen Selbstverständnisses werden.
Vielleicht ist dann auch die Vision, Österreich in der Tradition eines Bruno Kreisky wieder als Ort von Friedensverhandlungen zu etablieren, nicht mehr ganz so unrealistisch. Dafür braucht es aber auch eine starke, internationale Außenpolitik, und die fehlt seit Jahrzehnten. Russland und die Ukraine verhandeln im Nato-Land Türkei, der Nahostkonflikt wurde in Norwegen geregelt.
Vollkommen richtig. Wir rühmen uns für unsere “Hilfe vor Ort”, wenn wir gerade selbst nicht Flüchtlinge aufnehmen wollen, wir beteiligen uns an Auslandseinsätzen, und teilweise waren unsere Soldaten in Ländern, die der Durchschnittsösterreicher noch nicht einmal annähernd auf einer Weltkarte einzeichnen könnte. Dieser Mythos vom “Brückenbauer”, der zwischen allen Stühlen steht und einen kühlen Kopf bewahrt, scheitert nicht nur an den nicht sehr großen Köpfen der österreichischen Außenpolitik - sondern auch an unserer jüngeren Geschichte, wenn wir sie uns ehrlich eingestehen.
4. Die Neutralität sorgt nicht für unsere Sicherheit.
Das große Problem an Neutralität ist aber ohnehin ein anderes: Nämlich dass sie nur funktioniert, wenn auch beide Seiten daran glauben. Und nachdem Österreich als Teil der Europäischen Union die Sanktionen gegen Russland - wenn auch zögerlich - umsetzt, sind wir für Putin ein Teil des feindlichen Blocks. Denn in Russland wird zwischen der EU und der NATO kaum mehr unterschieden.
Auch unsere große Abhängigkeit von russischem Erdgas ändert daran nichts. Anders als in Friedenszeiten, als Politiker:innen aller drei großen Parteien gute Beziehungen nach Moskau hatten, bringen diplomatische Bemühungen nach Österreich nichts mehr für Putin, denn das Land ist bereits komplett isoliert.
Was bleibt, ist also nicht ein “Wir haben’s ja nicht so gemeint” oder “Schau, wir tun doch eh nichts” - so versteht man die Neutralität in Österreich aber oft. Was wirklich bleibt, ist eine Lücke der internationalen Politik, die dafür sorgt, dass wir in verschiedenen Szenarien sogar ein besonders günstiges Angriffsziel wären, da wir nicht mit einem automatischen Gegenangriff der USA verbunden wären.
5. Sich jetzt auf die Neutralität zu berufen, ist bequem.
Jetzt könnte man sagen: Das mag alles sein, aber die Leute wollen das nicht. Und ich glaube, genau deswegen schwirrt auch überall dieses Hot Take rum, dass man “endlich eine ehrliche Debatte” führen sollte. Denn anders als in anderen Staaten, die eben nicht unsere nützliche geografische Nische nutzen können, ignorieren wir gerne eine reale Bedrohung unweit der österreichischen Grenze - und reden daher gar nicht darüber, wie wir uns davor schützen könnten.
Im innenpolitischen Spiel hat also jede Partei gerade einen Anreiz, an dieser sehr mehrheitsfähigen, wenn auch scheinheiligen Position nur möglichst wenig zu rütteln. So twittert Daniel Kosak, Sprecher des Bundeskanzlers, zum Beispiel:
Die beste Antwort darauf hatte übrigens ORF-Journalist Hanno Settele:
Man merkt: Die Mehrheit der Bevölkerung wird immer nur dann beschworen, wenn es gerade passt. Bei den wichtigen Themen, die der ÖVP schaden könnten, wird anders vorgegangen. Ich würde die Liste von Settele gerne noch durch ein anständiges Informationsfreiheitsgesetz, ein Verbot der Vollspaltböden für Schweine und g’scheiten Klimaschutz ergänzen. Aber da haben wir keine Eile. Wichtig sind nur die Themen, bei denen der Status Quo nützlich ist.
Darum muss man in Österreich überhaupt erst eine Debatte fordern, anstatt sie einfach zu führen: Niemand hat etwas davon, einzusteigen. Alle fürchten sich vor dem Wahlvolk, das in einer innenpolitisch permanent angespannten Situation jederzeit alle abstrafen könnte, die ihm widersprechen. Das scheint bei Themen wie der Kalten Progression unterzugehen, weil sie im Wahlkampf immer wieder versprechen, sie abzuschaffen. Bei der Neutralität aber traut sich niemand so richtig aus der Deckung.
6. Österreich kann sich nur europäisch verteidigen.
Ja, vielleicht ist das jetzt ein Hot Take. Aber ich glaube nicht, dass wir eine konventionelle Landesverteidigung national denken sollten. Wir sind eben keine “Insel der Seligen”, die mitten in Europa auf sich allein gestellt sein kann. Nicht mit diesem Bundesheer, nicht mit dieser Einstellung zu Außen- und Verteidigungspolitik, nicht mit diesem Budget.
Österreich sollte sich viel mehr an der europäischen Sicherheitsarchitektur beteiligen und konstruktiv daran mitarbeiten, dass die EU sich selbständig verteidigen kann. Das heißt nicht, dass wir uns für immer von der NATO distanzieren müssen - aber die USA sind nicht immer ein zuverlässiger Partner, wie die Trump-Wahl gezeigt hat. Unter dem richtigen US-Präsidenten sind sie ein Garant für Sicherheit für alle Bündnispartner. Unter dem falschen sind sie ein Sicherheitsrisiko, von dem man sich nicht abhängig machen sollte.
Aber ich weiß, das ist alles furchtbar unpopulär. Österreich genießt seine Lebenslüge zu sehr, um diese außenpolitischen Fragen ernsthaft anzugehen. Gerade mit einer Kanzlerpartei, die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist, als ernsthaft über so etwas wie Inhalte und Visionen nachzudenken. (Kann nach 35 Jahren an der Macht schon mal passieren.)
Ich glaube trotzdem: Die Augen zuzumachen und zu hoffen, dass der andere mich auch nicht sieht, ist keine Verteidigungspolitik. Wenn mir jemand ein Konzept vorlegt, mit dem wir als kleines, neutrales Österreich auf den Ernstfall vorbereitet sind, bitte her damit. Momentan sieht es für mich aber nicht danach aus, als wäre die Neutralität ein Zukunftsmodell.
Auf eine schöne weitere Debatte
Noch mehr Lesestoff
🐛 Insekten sterben. Könnte mir recht sein, werdet ihr vielleicht denken, ich hasse Spinnen. Wie groß das Problem ist und vor allem, warum uns das nicht egal sein sollte, hat Andreas Sator mal wieder großartig zusammengefasst. Übrigens auch große Folge-Empfehlung für seinen Newsletter und alles, was er sonst macht: Sator versteht es sehr gut, Klima-Themen so zu erklären, dass sie nicht mehr abstrakt sind. (Der Standard)
🛢️ Speaking of Climate: Der britische Guardian weiß, wie man darüber berichtet. Diesmal geht es um die “Carbon Bombs” - fossile Großprojekte, die jetzt erst in der Planung stecken und die insgesamt so viel CO2 in die Atmosphäre blasen könnten, dass wir uns die Klimaziele in die Haare schmieren können. Not to be dramatic, aber ich halte es wirklich für ein Verbrechen, im Jahr 2022 neue Kohlekraftwerke oder Ölbohrungen überhaupt zuzulassen. (The Guardian)
💡 Das russische Denken. Ich tu mir schwer, diesen Artikel zusammenzufassen, aber let’s try. In seinem exzellenten Newsletter beschreibt Timothy Snyder, wie man in Russland über die Ukraine und Faschismus an sich denkt. Es geht um das komplizierte Verhältnis zur Nazi-Ideologie an sich - zuerst waren sie Partner (weil beide totalitär), dann Feinde - und im Endeffekt auch darum, wieso heute alles “Faschismus” sein kann, wie man gerade am Krieg in der Ukraine sieht. (Thinking about …)
📷 Überwachung durch die Hintertür. Wir kennen das ja: Pläne zur großflächigen Überwachung von Internet-Usern kommen meistens versteckt daher, weil sie sonst Proteste auslösen. Daher verbirgt sich der neueste Vorschlag hinter dem Namen “Verordnung gegen Kindesmissbrauch im Netz”. Denn wenn man einfach alle, die irgendwas im Internet verbieten, dazu verpflichtet, diese Daten auch auf Verdacht zu speichern, kann man zwar unendlich viel Schindluder damit treiben - aber auch Pädophile aufspüren! Wir sollten mit sowas immer vorsichtig sein. (Wird aber vermutlich sofort wieder aufgehoben, weil offensichtlich nicht mit dem Recht auf Privatsphäre und dem Datenschutz vereinbar.) (FM4)