Gestern habe ich Teil 2 meiner dreiteiligen Podcast-Serie mit Beate Meinl-Reisinger aufgenommen. Full Disclosure: Ja, sie ist meine Chefin, aber ich glaube trotzdem, dass die Gespräche bis jetzt gut geworden sind, und ich freu mich schon auf den dritten Teil.
In diesem Gespräch sind mir vor allem zwei Aussagen hängen geblieben:
Sie spricht davon, dass wir in einem „neuen Biedermeier“ leben.
Sie sagt „die Party ist vorbei“.
Kennt ihr das, wenn ihr in einem Gespräch über Politik von anderen etwas hört, das so unglaublich gut zu dem passt, was euch auch gerade beschäftigt? So war das für mich, als ich diese beiden Dinge gehört hab. Ich glaube nämlich bei beiden Aussagen, dass sie recht hat. Und dass sie mehr miteinander zu tun haben, als man denken würde.
(Hier ist übrigens Folge 1, die zweite erscheint am Montag.)
Kommen wir zuerst zum „neuen Biedermeier“.
Der Biedermeier ist eine Zeit, die sich durch den Rückzug ins Private auszeichnet - die Menschen wurden weniger politisch, haben sich mit mehr abgefunden. (Zumindest bis zum Revolutionsjahr 1848, als dann doch wieder etwas ging.)
Mir kommt auch vor, dass das heute viele tun. Im Gespräch mit Beate kommt das auf, weil wir über junge Menschen reden: Wer sich durch Leistung nichts mehr aufbauen kann, die Klimakatastrophe am Horizont sieht und mitbekommt, dass sich die Regierungsparteien auf Klientelpolitik für die (absolute Mehrheit der) Pensionisten konzentrieren – finanziert noch dazu durch Staatsschulden –, dann ist es leicht, unpolitisch zu werden. Hält ja keiner aus sonst.
Und ja, I can relate. Als ich letztes Wochenende mal wieder einen Tag hatte, an dem ich sehr „freizeit-produktiv“ war – ein paar Stunden im Fitnessstudio, wo ich meistens den Medienkonsum für die ganze Woche nachhole –, da dachte ich mir auch: Boah. Das sind schon echt viele schlechte Nachrichten. Dabei war meine Woche ohnehin schon aufreibend genug:
Zuerst erzählt die Premierministerin von Estland in Wien, was es bedeutet, von Russland besetzt zu werden (ich hab in der MATERIE über ihre beeindruckende Rede geschrieben).
Kurz danach: Donald Trump kündigt an, dass Russland während seiner (nicht unwahrscheinlichen) zweiten Amtszeit „machen kann, was es will“.
Einen Tag später kommt auf, dass Österreich im Dezember zu 98 % von russischem Gas abhängig war.
Und am Tag darauf sagt unsere Verteidigungsministerin basically, dass sich außenpolitisch gar nichts ändern wird.
Da überkommt sogar das größte Political Animal nachvollziehbar der Instinkt, sich zurückzuziehen. Manchmal denke ich darüber nach, was ich machen würde, wenn mir das alles egal sein könnte. Ich könnte mal dem fossilen Energieunternehmen zurückschreiben, das mir alle paar Monate das gleiche Jobangebot schickt, fett abcashen und wenigstens gut daran verdienen, dass der Planet brennt. Und manchmal plane ich schon, wo es mich hinzieht, wenn der nächste Bundeskanzler wirklich Kickl heißt und den EU-Austritts-Gamble gewinnt. Aber da lande ich auch nur bei einem giftigen Gamble: Verlasse ich mich auf die politische Stabilität Italiens? Oder ins UK, das auch unter den Folgen des Austritts leidet?
Ich schweife ab, aber ihr merkt: Mit der Aussage, dass sich junge Menschen zurückziehen, kann ich auch als nicht-mehr-ganz-so-junger-aber-immer-noch-nicht-alter Mensch gut relaten. Und mit der Erklärung, warum das so ist, sehr. Und trotzdem glaube ich, dass es nicht nur an den Jungen liegt.
Es gibt nämlich auch die andere Seite des Biedermeiers: Die der Boomer.
Yep, kein Generationen-Artikel ohne Boomer-Bashing. Ich glaube, dass sich auch die Boomer – damit meine ich jetzt keine soziologisch enge Definition, sondern „geht gerade in Pension und älter“ – sich mehr oder weniger aus dem politischen Diskurs zurückziehen, die hunderttausend Radikalisierten auf Facebook und Telegram aside.
Denn auf Seiten der Älteren nehme ich mehr und mehr eine derartige Realitätsverweigerung wahr, dass es einem nicht mehr wurscht sein kann. Bei so vielen Themen bleibt ein Großteil der Gesellschaft bei der Meinung, die er schon die letzten 800 Jahre hatte – einfach, weil es bei uns scheinbar nicht drin ist, 1) sich auf eine Veränderung einzustellen, 2) eine ehrliche politische Debatte darüber zu führen und 3) – and this is a huge one – an etwas anderes zu denken außer an Klientelpolitik.
Und diese Klientel, die sind eben „Boomer“. Nicht SPÖ gegen ÖVP, nicht Arbeiter gegen Unternehmer, nicht die kleinteiligen Interessensgruppen, die sonst unseren politischen Diskurs dominieren. Sondern einfach die Generation, die es gewohnt ist, dass sie viele sind. Und dass sich die Welt schon nach ihnen richten wird. Weil sie es immer getan hat. Und sich – wenn man sich anschaut, wer wählen darf und wer auch wählen geht – vermutlich immer weiter nach ihnen richten wird.
Diese Realitätsverweigerung zeigt sich für mich bei vielen Themen. Neben einer generellen Abwehrhaltung gegen komplexe Antworten – das Gesundheitssystem ist kompliziert, „Ausländern Geld wegnehmen“ nicht –, gibt’s gerade bei den sehr sehr sehr großen Baustellen in diesem Land einen politischen Konsens gegen jede vernünftige Veränderung.
Wir können uns die Pensionen nicht leisten? Sorry, aber das respektier ich nicht. Und wenn kein einziger arbeitender Mensch in Österreich 10 % Plus kriegt, ist mir das auch wurscht, weil ich hab mir das verdient. Ja, vielleicht bin ich mit 59 in Pension gegangen und lebe bis ich 100 bin, und vielleicht hätte ich länger arbeiten können, aber dann hätte ich nur 100 Euro mehr im Monat bekommen. Dann nehmt halt Schulden auf, ist mir egal. Stör nicht die Party.
Klimawandel? Ich kann leider nicht Automatik fahren, denn als ich vor 50 Jahren gelernt habe, zu fahren, hab ich einen Knüppel betätigt. Ich werde jetzt meine gesamte Identität um diesen Knüppel bauen und so tun, als wären technisch deutlich effizientere und bessere Autos ohne einen zusätzlichen Arbeitsschritt „Fortschritt“, denn ich mag mich nicht umstellen. Außerdem kursieren im Internet viele schöne Argumente, hast du vom Lithium-Abbau im Kongo gehört? Ich war nämlich immer schon sehr engagiert, was Menschenrechte in fremden Ländern angeht. Fahr einen Verbrenner. Stör nicht die Party.
Krieg in Europa? Betrifft uns nicht. Ignoriere, dass die Ukraine neutral war und es ihr nichts geholfen hat. Ignoriere, dass Putin nur auf Stärke reagiert. Ignoriere, dass wir unsere gesamte Energiesicherheit an einen Schurkenstaat ausgelagert haben. Ich hab in der Schule gelernt, dass wir neutral sind, und ich werd mich sicher nicht jetzt noch auf eine neue Welt einstellen. Stör nicht die Party.
Das Motto: „Jetzt bleibt alles erstmal so, wie es ist.“
Dafür haben wir aber keine Zeit mehr.
Auf der einen Seite ist also eine absolute Mehrheit der Gesellschaft, die sich gegen jede objektiv nötige Veränderung stellt und die Debatte verweigert, weil das schon immer funktioniert hat. Und auf der anderen Seite ist die Jugend, die all diese Folgen dann ausbaden muss und sich aus Angst vor der Zukunft ins Unpolitische flüchtet.
Mit dieser Überforderung – wieder ein Begriff, den ich von Beate klaue (ihr merkt, ihr solltet euch das Gespräch anhören) – kann man ja auch nur durch zwei Arten dealen:
Man wird unpolitisch.
Man wird radikal.
Aber wer unpolitisch wird, nutzt seine Stimme nicht, weil er entweder nicht wählen geht oder sich drei Minuten lang über eine Wahl informiert und dann taktisch eine der beiden Ex-Großparteien wählt (was in etwa die gleiche Wirkung hat wie gar nicht zu wählen, no offense). Und wer radikal wird, geht zwar wählen, aber stärkt die Ränder – und das löst kein Problem, sondern verschlimmert unsere Lage noch weiter.
Mit dieser deprimierenden Situation will ich mich nicht abfinden.
Darum schreibe ich 100.000 Artikel pro Woche, in denen ich erkläre, dass „wenn ich Putin nicht sehe, sieht er mich auch nicht“ keine Außenpolitik ist. Darum führe ich Gespräche im Freundes- und Familienkreis, auf Social Media und sonst überall, wo ich glaube, dass jemand zumindest mal die Realität hören sollte.
Und nein, das heißt nicht, dass die jetzt alle NEOS wählen müssen oder sonst furchtbare Trottel sind – wenn wir eine gemeinsame Faktenbasis hätten, würde sich auch bei anderen Parteien sicher die ein oder andere Lösung finden. Der neue Biedermeier ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, kein parteipolitisches.
Am Ende geht es einfach darum, dass wir nicht ohnmächtig werden bzw. nicht ohnmächtig bleiben. Sondern dass wir uns dieser g’schissenen Ausgangslage, egal wie traurig uns das macht, stellen und dann Lösungen diskutieren. Wie man außenpolitisch auf die russische Bedrohung reagiert, ist eine Frage, bei der es nicht nur ein Richtig und ein Falsch gibt. Fest steht nur: So wie es ist, kann es nicht bleiben.
Wir müssen uns endlich mal zusammenreißen und einsehen, dass die Party vorbei ist. Nur so reißen wir das Ruder rechtzeitig herum, bevor wir wirklich im Worst-Case-Szenario landen: In einem Staat, der sich durch Staatsschulden und verschlafenen Klimaschutz gar nichts mehr leisten kann, weder Gesundheit noch Bildung noch Pensionen.
Da wird’s dann nämlich wirklich eng, nicht nur für die Jungen, sondern auch noch für die Boomer. „Hinter uns die Sintflut“ geht sich für meine Omas aus – für meine Eltern nicht. Und das ist noch ein optimistisches Szenario, in dem wir davon ausgehen, dass Trump nicht Präsident wird und der Krieg sich nicht auf den Rest Europas ausweitet. Denn wie Österreich dafür aufgestellt ist, das ahnen wir. Dann gibt es hier gar keine Zukunft mehr.
Und weil all der Einsatz so unglaublich groß ist, können wir es uns nicht leisten, in diesen neuen Biedermeier zu verfallen und weiterzufeiern, als wäre nichts. Darum muss dieses Superwahljahr auch ein Weckruf sein – endlich mal aufstehen, sich informieren, aktiv debattieren und mitentscheiden, wie wir das Ruder doch noch herumreißen können.
Noch mehr Lesestoff
🌽 Klartext in der PRESSE. „Die Ablehnung der Genschere ist unsinnig“. Denn ja, die CRISPR-Technologie ist „Gentechnik“. Aber sie hat einfach keine Nachteile. Mit dieser Technologie kann man gewisse DNA-Stränge gewissermaßen „herausschneiden“, was z.B. dafür sorgt, dass unsere Lebensmittel klimaresistenter werden können. Eine extrem gute Idee, und biologisch kein Unterschied dazu, wenn das natürlich passiert. Aber in Österreich haben wir’s ja nicht so mit der Wissenschaft.
Dennoch haben die Abgeordneten von vier österreichischen Parteien (ÖVP, SPÖ, FPÖ, Grüne) dagegen gestimmt, nur die Neos plädierten dafür. Das ist kein gutes Zeichen. Es zeigt, dass österreichische Politiker weiterhin gern auf Wissenschaftsfeindlichkeit setzen. Das bedeutet in diesem Fall, nur zum Beispiel, etwa den Verzicht auf Anbau von Erdäpfeln, die durch Resistenz-Gene von Wildkartoffeln vor Knollenfäule sicher sind, was drastische Reduktion des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln erlaubt.
🔍 Ich war in einem extrem merkwürdigen Rabbit Hole. Habt ihr schon mal von den italienischen „Futuristen“ der Zwischenkriegszeit gehört? Wenn nein, dieser Wikipedia-Artikel über Filippo Tommasso Marinetti ist ein wilder Ritt. Meine Lieblingsstelle ist nicht mal mehr komplett absurd, wenn man den Kontext bis dahin kennt, aber so ist sie nur absolut weird.
Marinetti hatte einen neuen Gegner einer futuristisch geprägten Zukunft entdeckt, der die Italiener täglich zweimal an Körper und Geist lähmte und auf lange Sicht zu vernichten drohte: Es war nicht der Kommunismus, es waren die Spaghetti, »diese absurde Religion der italienischen Gastronomie«!
🙎♀️ Eine Frau, die mich sehr beeindruckt hat. Wie oben erwähnt war Estlands Premierministerin in Wien, und ich hab zugehört. Die „Rede an die Freiheit“, zu der das NEOS Lab jedes Jahr einlädt, widmet sich diesmal – wenig überraschend – Fragen der Außenpolitik. Und obwohl Estland auch ein kleines EU-Land wie wir ist, hat es dazu einen anderen (und wesentlich besseren) Ansatz.
Stuff aus dem Internet
Ein Meme, aber wir bleiben beim Thema.
Nochmal die Podcast-Empfehlung, aber eine andere Folge.
Wer mich schon immer mal Englisch reden hören wollte: Hier lang.