Überwachung durch die Hintertür
Politiker nutzen Terroranschläge, um in unsere Grundrechte anzugreifen. It won't work.
Terroranschläge sind Katastrophen. Und meist sind sie vermeidbare Katastrophen. Gerade islamistische Anschläge der letzten Jahre und Jahrzehnte weisen meist das gleiche Muster auf: In Europa radikalisiert, europäische Staatsbürger, der Polizei bekannt, und plötzlich macht’s Bumm.
Ich habe kein Rezept dafür, wie man damit umgeht und vollständige Sicherheit schafft. Ich glaube auch nicht, dass das möglich ist. Aber auf eines ist in Europa Verlass: Wenn es passiert, fordern Politiker Eingriffe in unsere Grundrechte.
Sie kommen durch die Hintertür
Auch nach dem Terroranschlag in Wien hat es nicht lange gedauert, bis man von der kollektiven Trauer und dem (völlig verdienten) Lob der Polizei wieder ins politische Tagesgeschehen übergeht. Und das bedeutet in Österreich eben, dass man sich gegenseitig die Schuld zuschiebt, von den eigenen Fehlern ablenken will und Dinge fordert, die niemandem etwas bringen würden. Und diesmal kann man ihn in einem FM4-Bericht nachlesen: Das Ende der Verschlüsselung.
Im EU-Ministerrat wurde binnen fünf Tagen eine Resolution beschlussfertig gemacht, die Plattformbetreiber wie WhatsApp, Signal und Co. künftig dazu verpflichtet, Generalschlüssel zur Überwachbarkeit von E2E-verschlüsselten Chats und Messages anzulegen.
Und ja, “Verschlüsselungsverbot” ist verkürzt. Aber de facto auch zutreffend. Denn die meisten Staaten fordern nicht einfach, dass gar nicht mehr verschlüsselt werden darf - sie fordern nur, dass sie selbst diese Verschlüsselung knacken dürfen. Und dafür braucht es eine technische Lösung, um den gängigen Standard der “Ende-zu-Ende-Verschlüsselung” zu brechen.
Was ist Ende-zu-Ende-Verschlüsselung? Damit werden zum Beispiel unsere Nachrichten auf WhatsApp vor Fremdzugriff geschützt. Dabei werden Nachrichten von A nach B versandt und dabei doppelt geschützt. Im ersten Schritt sende ich eine Nachricht, die ich mit meinem Schlüssel schütze. Und im zweiten Schritt empfangt ihr die Nachricht, die zusätzlich auch mit eurem Schlüssel geschützt ist. So kann neben mir als Absender nur der echte Empfänger der Nachricht auch lesen, was drinsteht - selbst, wenn Hacker das Signal abfangen würden, wäre es nutzlos, weil es nicht entschlüsselt ist.
Dieser Standard war lange Zeit nicht gängig, ist jetzt aber spätestens durch WhatsApp zum Mainstream geworden. Das ist natürlich lästig für Staaten, die gerne mitlesen wollen - aber so ist das eben mit der Privatsphäre. Das gilt auch für das Postgeheimnis oder dafür, dass man einen richterlichen Beschluss braucht, um bei mir eine Hausdurchsuchung zu machen. Rechtsstaat, yo.
Viele EU-Staaten wollen das allerdings kippen. Und das würde in der Praxis so aussehen, dass die Plattformen, auf denen wir kommunizieren, eine Art “Generalschlüssel” einbauen müssen. Das würde bedeuten, dass nicht nur noch Sender und Empfänger unsere Nachrichten lesen können, sondern auch der, der diesen Schlüssel hat. Das öffnet nicht nur enormes Potential für Missbrauch durch staatliche Akteure - der Staat verpflichtet dadurch Social-Media-Konzerne, eine Backdoor für Hacker zu bauen. Damit gefährdet er unsere Privatsphäre und Sicherheit.
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Ein Verschlüsselungsverbot ist sinnlos
Und das alles wäre schon schlimm genug. Aber dann kommt noch dazu, dass niemand diese Regelung braucht. Der Terrorist in Wien war der Polizei bekannt, hat in der Slowakei Munition gekauft und die zuständigen Behörden wurden aus Deutschland und der Slowakei dazu verständigt. Man hätte dieses Attentat verhindern können, ohne auf Online-Überwachung zurückzugreifen. Man hätte ganz einfach hinschauen müssen. FM4 dazu:
Mittlerweile wird zwar immer klarer, dass offenbar haarsträubende Ermittlungsfehler im BVT den Anschlag erst ermöglicht hatten und nicht fehlende digitale Überwachungsbefugnisse. Ob irgendein solcher Zusammenhang zur Tat besteht, ist allerdings unerheblich. In Brüssel wird so ein Anlass seit 25 Jahren mit schnöder Regelmäßigkeit dafür missbraucht, längst geplante Überwachungsvorhaben durchzusetzen. Auf diese Weise wurde die fünf Jahre lang in der EU umstrittene Vorratsdatenspeicherung nach den Zugsanschlägen in Madrid (2004) und London durch Islamisten (2005) durch den Ministerrat und das Parlament geschleust.
Und ja, das ist das übliche Bild. In Europa ist man es fast schon gewohnt: Immer, wenn eine unmenschliche Katastrophe wie ein Terroranschlag passiert, sind wir kurze Zeit traurig, und dann reden wir über Gesetze, die nichts geholfen hätten. Die allermeisten Dschihadisten sind bereits bekannt, in den allermeisten Fällen war das Gefahrenpotential vorher abschätzbar, und in keinem dieser Fälle hätte eine derart dreiste Verletzung unserer Privatsphäre irgendetwas geholfen. Das Problem ist nicht, dass Terroristen online kommunizieren. Sie können sich auch im Darknet absprechen, das ist kein Problem. Das Problem ist, dass unsere Behörden das nicht im Griff haben.
Das mag auch damit zu tun haben, wer in diesen Behörden sitzt. Nehammer und Kurz kann man nicht mehr vorwerfen, zur Generation der Boomer zu gehören - aber viele der älteren Politiker in ganz Europa, die solche Vorschläge machen, gehören noch zu der Generation, die sich von ihren Mitarbeitern Mails ausdrucken lässt. Die verstehen das alles nicht. Sie verstehen weder, dass ihre Vorschläge niemandem helfen, noch, warum Privatsphäre im Internet wichtig ist. Sie kennen nur die Privatsphäre ihrer Post und kommen nicht auf die Idee, dass auch digitale Kommunikation privat sein sollte.
Was wir tun können
Insofern fasse ich einmal noch kurz zusammen:
Politiker fordern Gesetze, die niemand braucht, um Terroranschläge zu verhindern, die man jetzt schon verhindern könnte. Damit bedrohen sie unsere Freiheit und Sicherheit, eröffnen ein enormes Missbrauchspotential und zerstören die Privatsphäre auf den Plattformen, mit denen wir jeden Tag kommunizieren. Sie nutzen die emotionale Verunsicherung nach einem Terroranschlag, um solche Vorschläge im Eiltempo durchzubringen, damit niemand kritisch nachfragt. Und in wenigen Monaten werden wir uns zum wiederholten Mal auf die europäischen Höchstgerichte verlassen müssen, um uns davor zu retten.
Aber wir müssen uns das nicht gefallen lassen.
Sagt allen Bescheid, was gerade passiert. Durch steigende Corona-Zahlen, die nicht enden wollende US-Wahl und den Anschlag an sich sind viele zu abgelenkt, um zu verstehen, was passiert. Damit rechnen sie. Postet auf Social Media, erzählt es euren Freunden, schreibt euren Abgeordneten oder teilt diesen Artikel - whatever works. Öffentlichkeit ist nicht egal.
Wählt keine Parteien mehr, die mit diesen Frechheiten auffallen. Die ÖVP steht seit Jahren und Jahrzehnten konsequent auf der falschen Seite, wenn es um sinnlose Angriffe auf die Privatsphäre geht. Auf sie gehen auch umstrittene (und mittlerweile gekippte) Gesetze wie die Vorratsdatenspeicherung zurück. Die SPÖ und die FPÖ haben sich als Koalitionspartner immer wieder dafür hergegeben, während sie in der Opposition die großen Ritter der Privatsphäre spielen. Mal sehen, ob die Grünen es besser machen …
Unterstützt Menschen, die dagegen sind. Nicht nur die JUNOS, die Jugendorganisation der NEOS, haben sich dagegen geäußert - auch die NGO Epicenter Works ist in Überwachungs-Themen immer wieder auf der richtigen Seite und bedient Politik und Medien mit wichtigen Informationen zu unserer Privatsphäre. Hier könnt ihr sie unterstützen.
Ich weiß, dass es sich nach unzähligen vergeblichen Eingriffen in unsere Privatsphäre oft so anfühlt, als wäre alles umsonst. Aber das ist es nicht. Wir müssen das Internet nur über die Zeit rennen. Irgendwann sind die digital natives in der Mehrheit - und die Jungen verstehen schon jetzt viel stärker, wie wichtig ihre Freiheitsrechte im Internet sind.
Die Politik kann sich nur mit sinnlosen, rechtswidrigen Vorschlägen spielen, weil sie sich erstens selbst aus Boomern rekrutiert und zweitens, weil sie darauf bauen muss, dass es zu wenige Menschen verstehen. Aber wir werden mehr. Und irgendwann sind wir die Mehrheit. Wir müssen das freie Internet, inklusive Ende-zu-Ende-Verschlüsselung auf unseren Plattformen, nur über die Zeit retten - das ist zumindest die Hoffnung, warum ich mir dieses Thema überhaupt noch antue. Ich hoffe, ich konnte euch mit diesem Text auch ein wenig dazu motivieren.