Das Leben im Krieg macht coole TikToks
Die russische Invasion erzeugt die Art von Content, die Putin zensieren will
In den letzten Jahren haben wir uns daran gewöhnt, vieles, was in der “echten Welt” passiert, auf Social Media zu schieben.
Dahinter liegt schon mal die völlig falsche Trennung zwischen “online” und “echt”, aber ihr versteht, worauf ich hinaus will: Wenn in den USA ein schlichtweg dummer Mensch zum Präsidenten gewählt wird, ist Facebook Schuld. Wenn junge Männer zu Waffen greifen, ist YouTube schuld. Wenn unsympathische Menschen mit unsympathischen Forderungen durch Wien marschieren, ist Telegram Schuld. Und so weiter, und so fort.
Ich könnte jetzt im Detail darauf eingehen, wie das Silicon Valley auf den russischen Angriffskrieg in der Ukraine reagiert hat. Aber erstens gibt es eine genaue Übersicht hier und zweitens sind die Konsequenzen letztlich überschaubar, da Facebook und Twitter in Russland gesperrt sind.
Das Internet ist aber nicht komplett abgeschnitten. YouTube, Instagram und WhatsApp funktionieren noch. Und dann gibt es da noch den Kanal, auf dem sich der viel zitierte “Information War” zum vielleicht ersten Mal abspielt: TikTok.
Krieg hat eine neue Plattform
Eigentlich wollte ich in diesem Beitrag einige Videos zeigen, aber Substack unterstützt diese Funktion leider nicht. Daher werde ich TikToks verlinken und hoffe, ihr seid am Handy unterwegs, damit ihr die Videos auch in der App ansehen könnt. (Die Desktop-Version von TikTok ist ziemlich trash.)
Auf jeden Fall nutzen Russland, die Ukraine, aber auch wir Beobachter im Westen, diesmal eben nicht nur Twitter, sondern auch TikTok, um uns über diesen Krieg zu informieren. Im NEW YORKER wird sogar schon von “WarTok” geschrieben.
TikTok’s mind-reading algorithm nearly predicts what you want to watch before you watch it. It serves you a stream of videos it hopes you like and then observes how you respond, whether they’re of gross kitchen concoctions or endless versions of smartly dressed Gen-Zers rotely dancing to Nelly Furtado’s Say It Right.
Now the algorithm is trying out something new on many of us. The cute animal videos, self-recorded teen breakdowns, Karens acting up at the local grocery store, and Euphoria reviews are joined by a novel variety of programming: scenes from a sudden war. Call it the birth of WarTok.
Dass das nicht nur eine “spannende Entwicklung” ist, sondern auch Nachteile hat, liegt auf der Hand: TikTok ist eine Videoplattform, und Videos sind schwerer zu fact-checken. Mehr als eine Milliarde Videos werden jeden Tag auf der Plattform geschaut, sie gehört zu den größten sozialen Netzwerken der Welt, also ist das manuelle Aussortieren von problematischem Content unmöglich.
Dazu ist das Durchschnittsalter der TikTok-User gefühlt 300 Jahre jünger als der von Twitter, und es gibt Barrieren auf beiden Seiten. Jungen Menschen wird oft geringe Medienkompetenz unterstellt - und bei den ganz Jungen mag das auch (noch) stimmen -, aber andererseits basieren TikToks oft auf Memes und Running Gags, die auf vielen Videos davor beruhen, die man erst kennen muss. Viel Spaß dabei, diese Videos den Boomer-Kolleg:innen zu erklären, die TikTok im März 2022 das erste Mal öffnen, um den Krieg zu verfolgen.
Einblicke in WarTok
Aber ich könnte noch stundenlang weiter über TikTok schreiben, ohne eine Aussage zu treffen, die man versteht, wenn man nicht auf der Plattform ist. Also dachte ich, ich zeig euch einfach ein paar Einblicke in WarTok.
Davor noch ein kleiner Disclaimer: Ich verstehe, dass man diskutiert, ob Humor in so einer Situation erlaubt ist. Meine Antwort ist da recht eindeutig Ja. Humor ist ein Coping-Mechanismus, den man anderen nicht nehmen sollte, und ist auch ein gutes Vehikel dafür, Aufmerksamkeit für ein Thema zu generieren. Einige dieser TikToks werden wahrscheinlich nicht alle von euch lustig finden - aber ich will auch gar nicht darauf hinaus, dass das alles so lustig ist. Es ist einfach ein Nebeneffekt, weil TikTok als Plattform hauptsächlich für Entertainment steht.
katrin.melody zeigt ihr Leben vor und nach Putins “Rettung” der Ukraine treibt einem Tränen in die Augen.
valerisssh macht lustige (“lustige”) TikToks über ihr Leben im Bunker. Galgenhumor geht immer.
martywithap stellt den Ukraine-Krieg schauspielerisch als WG-Streit dar. Generell ist ein Dialog, bei dem der Video-Urheber selbst beide Seiten spielt, ein beliebtes Format auf TikTok. Ich finde das eigentlich nicht so schlecht erklärt.
one_badass_crna feiert den ukrainischen Präsidenten und die Ukrainer auf eine eher lustige Art.
Apropos Selenskiy-Content: whats_going_on06 (ja, anscheinend sind Menschen, die 2006 geboren sind, jetzt alt genug für das Internet) greift den Trend des Selenskiy-Fantums auf.
inesadnoire postet eine Szene aus der ukrainischen Netflix-Serie Servant of the People, in der der ukrainische Präsident (vormals Schauspieler) eben den ukrainischen Präsidenten spielt und eine Einladung in die EU bekommt.
nikdyjsemtunebyl hat das obligatorische Avengers-Endgame-Meme zum Krieg (das mittlerweile bei jeder politischen Auseinandersetzung verwendet wird).
martavasyuta macht darauf aufmerksam, wie Präsident Selenskiy auf Putins Photoshop-Video hinweist.
thehardpillguy weist auf einen nebensächlichen, aber lustigen Fakt hin: You know you fucked up, when …
thechampagne_socialist über einen starken Gegner, den Putin nicht auf der Rechnung hatte.
a_bit_rebecca spielt Vladimir Putin, wenn er mit den Genfer Konventionen konfrontiert wird.
melissafairlady feiert die Schweizer Entscheidung, die “Neutralität zu brechen” (fragwürdige Formulierung) und sich bei Sanktionen einzuschließen - mit dem Eurovision-Beitrag der Ukraine vom letzten Jahr.
shane.duffy über Deutschlands Entscheidung, in diesen Krieg einzusteigen.
ukrainevrussianews, ein Kanal, der nach “Nachrichten” klingt, zeigt ein Meme, das die NATO als Partyvan darstellt, der in der Ukraine zur Hilfe kommt. (Die NATO hat genau das übrigens ausgeschlossen. Minus the party.)
businesscasualty, die den verstörten Büroalltag von uns allen zeigt, die während eines Krieges weiterhin sinnlose PowerPoint-Präsentationen für Kampagnen in der fernen Zukunft machen.
jennahushka hat eine ähnliche Idee.
Ich könnte damit noch lange weiter machen, aber ich glaube, das reicht, um einen Eindruck zu bekommen.
Warum zeige ich diese TikToks?
Weil jeder auf TikTok sein sollte, der aktuelle Trends verstehen und/oder mit Social Media auch noch mal Spaß haben will.
Die Art, wie wir Informationen über einen Krieg gewinnen, verändert sich gerade, und wir können das live beobachten. Es ist der erste Krieg, der mit TikTok begleitet wird, und ich glaube, dass es hier etwas zu lernen gibt.
Aber ich glaube auch, dass diese harmlosen, lustigen Videos auch eine wichtige Rolle in der Kriegskommunikation spielen - mit dieser Transparenz kontert der Westen das klassische System der russischen Kriegspropaganda.
Aber dazu morgen mehr. Bis dahin: Checkt euch TikTok.
Noch mehr Lesestoff
📡 Was wurde eigentlich aus dem “Cyberwar”? Einen guten Text dazu gibt’s im Lawfare Blog. Es hieß ja eigentlich, dass die Zeit des konventionellen Kriegs mit Waffeneinsatz entlang einer Grenze vorbei sei - warum ist der Ukraine-Krieg jetzt dann kein Cyberwar? Unter anderem dadurch, dass schnell (auch unabsichtlich) andere Parteien involviert sind und weil beide Seiten davon nur verlangsamt werden. Aber mit “Cyber” alleine gewinnt man kein Territorium, sondern sorgt hauptsächlich für kleine Ärgerlichkeiten im Alltag. (Lawfare)
😶 Die Ukraine finanziert ihren Krieg unter anderem mit NFTs. Hey, whatever works I guess. Ich hab dazu nichts Konstruktives zu sagen, aber das fällt unter “Headlines, bei denen ich ‘That Funny Feeling’ bekomme”. (The Guardian)
📱 Trumps soziales Netzwerk floppt. Auf Truth Social dürfte so gut wie nichts los sein. Die meisten stecken in der Warteliste fest, Content kommt vor allem von rechten Influencern, die auch schon auf anderen Kanälen bekannt sind. Und: Der Big Boy, Donald Trump, nutzt Truth Social anscheinend nicht mal selbst. Warum Rechte Menschen mit anderen Meinungen auf Social Media brauchen und warum es kein rechtes Social Network gibt, habe ich übrigens schon mal hier beschrieben. (Axios)
Spannende und wichtige Analyse. Aber man sollte sich über seine Leser*innen nicht lustig machen. Auch wenn Sie der Generation der Boomer angehören. Ist auch deine Zukunft 😉.