Die Wahlkabine ist wieder da: Der Wahlhelfer für alle, die Politik nicht permanent verfolgen, also gefühlt 99,9 % der österreichischen Gesellschaft.
Gleich zu Beginn: Das wird ein Rant gegen die Wahlkabine, aber ich bin nicht dagegen, dass es sie gibt. Eigentlich bräuchte es viel mehr Wahlhelfer, die aus bestimmten Richtungen Orientierung bieten, weil Politik eben kompliziert, unübersichtlich und einsteigerunfreundlich ist. Der ÖGB hat etwa eine Wahlhilfe gemacht, die natürlich aus ÖGB-Sicht geschrieben ist, aber hey, if that’s your camp, coole Sache.
Trotzdem glaube ich nicht, dass die Wahlkabine eine gute Orientierung für die Wahl ist. Nicht, weil bei mir das Falsche rausgekommen ist. Sondern aus mehreren Gründen.
1. Wie sucht man überhaupt nach Fragen?
Um herauszufinden, welche Partei zum Wahlkabine-Publikum passt, gibt es zwei Ansätze:
Ich nehme die 25 Themen, die in Österreich am aktuellsten sind, und frage dann Parteipositionen ab. Dann habe ich einen guten Ausschnitt aus dem politischen Diskurs, der möglichst relevant ist – auch wenn die Gefahr besteht, dass einige Parteien „untergehen“, wenn sie andere Prioritäten haben.
Ich nehme pro Partei, die ich abfrage, drei Kernpositionen her und frage genau die ab, damit man sich anhand der politischen Trennlinien einordnen kann. So gehe ich mehr auf die Unterschiede ein, aber verliere eventuell einige Themen, die im Diskurs rumgeistern und von keiner Partei beackert werden.
Beide dieser Möglichkeiten könnte man vertreten. Was ich schwierig finde, ist, dass die Wahlkabine keine dieser beiden macht: Sie geht weder offensiv auf die Schwerpunkte der Parteien ein, noch konzentriert sie sich auf Themen, die den politischen Diskurs dominieren. Beides kommt ein bisschen vor, aber eben nicht ganz.
Wie wurde dieser Fragenkatalog also erstellt? Vermutlich anhand von Vibes. Die Frage, ob Österreich den Pandemievertrag der WHO unterschreiben soll, ist ganz klar der FPÖ und der Liste Madeleine Petrovic geschuldet, die das Impfgegnertum zu ihrem USP gemacht haben, die Frage nach der Lohnnebenkosten-Senkung ist dafür eine NEOS-Frage.
Exemplarisch schauen wir uns mal drei Fragen an:
Diese Frage ist ein gutes Beispiel für „klar bei einer Partei zuhause“: Diese Forderung gehört im Wesentlichen der SPÖ. Die Grünen, die KPÖ und „Keine der Genannten“ geben zwar ebenfalls ihre Unterstützung an, aber nur Andreas Babler wirbt proaktiv damit – auch, wenn die Frage, wie man das finanzieren soll, ungelöst ist. Ob es wirklich sinnvoll ist, so unkonkrete Policy-Vorschläge mit reinzunehmen? Wenn man es als Vision tituliert: Vielleicht.
Woher kommt dieses Thema? Mir wäre keine Partei aufgefallen, die mit dieser Forderung proaktiv rausgeht. Ja, kostenloser Zugang zu Verhütungsmitteln ist eine politische Position, die manche vertreten – auch wir NEOS haben in Wien diesen Zugang ausgebaut. Aber oft geht es da zum Beispiel darum, dass in der Regel Frauen die Kosten für die Pille tragen, während Männer nur ab und an ein Kondom kaufen: Es geht also um einen „Gender Gap“. Warum ist die bestimmende Variable auf einmal das Alter 25? Sollen ab dann eh alle Kinder kriegen?
Völlig egal, wie man zur Erbschaftssteuer an sich steht: Die Frage ist zu grob. Wenn ich „Nein“ sage, was gerüchteweise passiert ist, frage ich mich trotzdem: Was heißt das? Eine hohe Steuer ab 1,5 Millionen Euro auf das Gesamterbe lehne ich ab, und ich glaube, da bin ich nicht alleine. Eine moderate Steuer auf jeden Euro über der 1,5-Millionen-Marke? Schon eher. Aber der Detailgrad muss in irgendeine Richtung wandern. Entweder es geht um die Wertefrage: Dann diskutieren wir „Erbschaftssteuer Ja/Nein“. Oder wir diskutieren Policy – dann braucht es einen ganz konkreten Vorschlag, inklusive Steuersätze. So ist das wenig sinnvoll.
2. Wie kann man das also anders machen?
Machen wir also einen Zwischenstopp: Es gibt zwei Arten von Fragen in der Wahlkabine, die ich als wenig sinnvoll erachte.
Einige der Themen, die abgefragt werden, sind schlicht kein relevanter Teil unseres politischen Diskurses.
Manche Konzepte, die es reingeschafft haben, sind zu unkonkret, um eine pauschale Ja/Nein-Antwort zu geben.
Und eine dritte will ich noch hinzufügen:
Viele Themen, die wirklich wichtig sind und von Parteien im politischen Diskurs bespielt werden, fehlen.
Ja, ich hör’s schon: Das sag ich nur, weil ich parteiisch bin. Das stimmt auch ein bisschen – aber das trifft wahrscheinlich aus der Sicht aller Parteien zu. Ich würde mir etwa wünschen, dass die Fragen gestellt werden, die ich für relevant erachte:
Sollen die Steuern auf Arbeit gesenkt werden?
Soll sich die nächste Bundesregierung dafür einsetzen, dass keine neuen Schulden gemacht werden?
Soll die Schulautonomie eingeführt werden, damit Schulen ihren Unterricht freier gestalten können?
Sollen das Informationsfreiheitsgesetz auf Gemeinden mit mehr als 10.000 Einwohner:innen ausgeweitet werden?
Soll sich Österreich auf EU-Ebene für eine europäische Armee einsetzen?
Was NEOS-Fragen sind, klar. Und die Wahlkabine muss sich nicht auf NEOS-Politik konzentrieren. Aber soll sie das doch auch für andere Parteien machen:
Soll der Staat Enteignungen durchführen dürfen? (KPÖ)
Soll es Eignungstests für Politiker:innen geben? (BIER)
Soll Österreich aus der Europäischen Union austreten? (FPÖ)
Dann kann man sich auch an deren Prioritäten orientieren und wäre deutlich besser informiert darüber, worum es wirklich geht bei dieser Wahl.
Viel besser macht das der Wahlhelfer des STANDARD, der gestern erschienen ist: Er stellt Richtungsfragen zu großen Themen, die nicht nur politisch relevant sind, sondern auch von Parteien bespielt werden. Am Ende bekommt man nicht nur eine Übereinstimmung in Prozent (statt Punkten) inklusive Übersicht, sondern auch diesen Political Compass, a treat for the nerds.
Und ja, ich muss jetzt natürlich meinen herzeigen. Nein, ich hab wirklich nicht gelogen, ich war sogar 2-3x gegen die Parteilinie, aber das hat sich scheinbar ausgeglichen. Turns out, ich bin wirklich NEOS-liberal.
Der STANDARD-Rechner arbeitet mit 12 Überblicksfragen, die eigentlich ausreichen sollten, um zumindest mal eine grundlegende Einschätzung zu bekommen. Soll der Staat in die Wirtschaft eingreifen? In die Preise? Soll Österreich neutral bleiben? Mehr oder weniger Europa? Das sind konkrete Trennlinien zwischen den Parteien, ohne sie auf zu konkrete Policys zu vertiefen, bei denen man sich wieder streiten kann.
Nehmen wir das Statement „Der Staat sollte weniger ins Wirtschaftsleben eingreifen“. Meine Antwort ist 6, die meiner Partei 7. Weniger bedeutet „weniger als jetzt“, was definitiv stimmt, aber es gibt Bereiche, in denen der Staat eingreifen soll, und ich nehme an, dass ich auch nicht alle Bereiche ausreichend überblicke. Gute Richtungsentscheidung – und sie wäre viel weniger aussagekräftig, wenn wir sie anhand von „Soll der Staat Monopole zerschlagen“ diskutiert hätten. Denn da wäre ich eindeutig pro Staatseingriff und weiter weg von meiner Partei.
Das ist der Kern meiner Kritik: Die Wahlkabine fragt keine Richtungen ab, sondern eine Mischung aus konkreten Policy-Vorschlägen und unkonkreten Ideen, die keine Relevanz haben. Aber ein Problem hat jede Wahlhilfe:
3. Was soll man überhaupt werten?
Wer hier schon länger mitliest, der wird sich vorher gewundert haben: Bei mir ist die ÖVP auf dem dritten Platz. Die gleiche Partei, die ich in keinem Newsletter auslasse. Immerhin bin ich wegen der Korruption der Kurz-Zeit wieder in die Politik gegangen. Ich würde lieber nicht wählen, als die ÖVP zu wählen, und zwar nicht, weil ich eine gute Meinung vom Nichtwählen habe.
Dieses Ergebnis ist aber ganz einfach erklärt: Die Wahlkabine fragt nicht ab, was die Parteien wollen, sondern das, was sie vorgeben zu wollen. Und bei einer Partei, die seit, ihr kennt die Zahl schon, 37 Jahren in der Bundesregierung ist, bedeutet diese Ansage nichts mehr.
In der Theorie will die ÖVP schöne Dinge. Sie will Steuern senken, ist offen für eine Pensionsreform, diskutiert über die Live-Übertragung von U-Ausschüssen und steht seit neuestem sogar für Sicherheit. Gleichzeitig sind die Steuern unter ihr stetig gestiegen, die Pensionsreform gibt es nicht, in den U-Ausschüssen blockiert sie und mehr Polizei für Wien gibt es nicht, weil davon die „falschen“ profitieren würden. Die ÖVP in der Theorie ist eine ganz nette Partei, die mit Karl Nehammers Truppe exakt gar nichts zu tun hat.
Und so ist das auch bei anderen Parteien. Die Bierpartei muss de facto bei 0 Punkten zum Stehen kommen, weil sie keine Positionen hat, die man erwähnen könnte. Ihr Programm, das sie „Menü“ nennt, besteht aus elf schlechten bis mittelschlechten Punkten, die in der Wahlkabine nicht abgefragt werden, viele der Antworten sind kommentarlos. Dass Wlazny die ein oder andere NEOS-Position rhetorisch übernimmt, ist nett und sorgt dafür, dass er bei mir weit oben ist. Aber tun wir bitte nicht so, als wäre eine Bierpartei ein ernstzunehmender Teil des politischen Systems, dem man Inhalte und Kompetenz zutrauen könnte.
Dieses Problem ist auch das einzige, bei dem ich selbst einsehe, dass es unfair ist, es der Wahlkabine anzulasten. Denn was soll sie denn nehmen, wenn nicht Wahlprogramme. Die ÖVP einfach nicht werten, weil sie in der Vergangenheit gelogen hat? Dann würde sie Partei ergreifen und wäre kein guter Überblick mehr.
Auf der anderen Seite finde ich nicht, dass man Wahlentscheidungen komplett entkoppelt vom Kontext ihrer Zeit sehen kann. Die ÖVP setzt nicht um, was sie verspricht – das wissen wir. Die SPÖ macht Vorschläge, die populär klingen, weil man dann Dinge gratis bekommt, aber sie weiß nicht, wie man das finanzieren soll. Das F in der FPÖ steht für vieles, aber nicht mehr für Freiheit. Politik ist mehr als Behauptung. Und genau das unterscheidet politische Beobachtung im Alltag vom simplen Quiz auf wahlkabine.at. Ein Widerspruch, den die Betreiber niemals auflösen können.
Fazit
Fassen wir also zusammen, was das Problem mit der Wahlkabine ist: Die Fragen beziehen sich teilweise nicht auf den aktuellen politischen Diskurs und sind weder konkret noch schwammig genug, um ein Ja/Nein zu ermöglichen. Manchmal braucht man ein spezifisches Modell mit Zahlen, um zu einem Urteil zu kommen, manchmal braucht man Werte – die Wahlkabine balanciert an der Grenze dazwischen. Außerdem bewertet man mit ihr nur die Theorie, nicht die Praxis.
Wer sich also darauf verlässt, was auf wahlkabine.at rauskommt, verlässt sich auf eine willkürliche Auswahl an mehr oder weniger relevanten Themen, die teilweise nicht wirklich debattiert werden, und darauf, was die Parteien dazu sagen. Wichtige Themen wie Bildung und Entlastung haben es leider nicht in die Auswahl geschafft.
Ich finde, das ist dann doch ein bisschen zu wenig.