Das Spiel mit dem Vertrauen
Oder: Die Antwort auf die schwierigste Frage der Politikwissenschaft
Ich studiere seit 2014 Politikwissenschaft. Und je mehr ich über Politik lese, nachdenke, diskutiere und lerne, desto mehr habe ich mich vor der absoluten Standardfrage gefürchtet:
Was ist Politik?
“Politik ist der Ort, an dem wir uns ausmachen, wie wir leben wollen” war dazu lange meine Standardantwort. Aber ein Matthias-Strolz-Plagiat wird bei meiner anstehenden Masterprüfung nicht mehr reichen. Langsam sollte ich doch wirklich wissen, was Politik ist - und zwar auf einer eigens erarbeiteten Verständnisebene, nicht einfach nur als Zitat.
Lange habe ich mit meiner Freundin darüber gewitzelt, dass mich die absolut aufgelegteste Frage bei meiner Masterprüfung legen könnte und dass ich wirklich ein Master of Arts werden könnte, ohne den Gegenstand zu definieren, über den ich so viele Jahre schon nachdenke. Aber ich glaube, jetzt hab ich’s. Und es hat viel damit zu tun, was wir aktuell diskutieren:
Politik ist das Spiel mit dem Vertrauen
Es ist eine Tatsache, die uns überall im Leben unterkommt: Wenn die Leute an Bitcoin glauben, steigt Bitcoin. Wenn die Leute zum Spaß GameStop-Aktien kaufen, verlieren Hedgefonds ihre Wetten. Und wenn morgen niemand mehr an die EU glaubt, wird es sie auch nicht mehr geben. All unsere sozialen Konstrukte sind im Wesentlichen darauf aufgebaut, dass wir uns einfach darauf einigen können, dass sie existieren.
Das ist auch der Grund, warum die Grünen in einer Koalition auf die meisten ihrer Grundsätze verzichten müssen. Viele Dinge sind nur so, wie sie sind, weil es kein Window of Opportunity gibt, um sie zu ändern.
Bis dann plötzlich doch rauskommt, dass es die ganze Zeit möglich gewesen wäre, etwas zu ändern.
Ein Beispiel aus den USA
Die besten Erklärstücke für Politik findet man meist in den USA. Dort, wo Politik eben Spitzensport ist und amateurhafte Geschichten wie hierzulande einfach nicht reichen würden.
Als Barack Obama 2008 als Senator gegen Hillary Clinton antreten musste - eine National Brand mit hohem Bekanntheitsgrad - mussten sich beide entscheiden, wie sie mit dem Thema der LGBTIQ-Rechte umgehen wollten. Beide sind heute nicht als Schwulen- und Lesbenfeinde bekannt, aber das hat sie nicht entscheidend dabei beeinflusst, ihre Worte zu finden.
“I believe that marriage is the union between a man and a woman” - Barack Obama
“I prefer to think of it as being very positive about civil unions” - Hillary Clinton
Haben Obama und Clinton geglaubt, was sie gesagt haben? Wahrscheinlich nicht - zumindest legen das ihre späteren Äußerungen nahe, genau wie Obama-Berater David Axelrod, der die gezeigte Aussage von Obama später als Lüge bezeichnete. Beide richteten sich nicht nach ihren Überzeugungen - sondern nach dem, was politisch opportun war. Wenn man im Jahr 2008 US-Präsident werden will, muss man da eben defensiv sein. Obama und Clinton haben verstanden, was auch der frühere EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker verstanden hat:
“We know what to do, we just don’t know how to get re-elected once we do it.”
Und diese Konflikte gibt es überall. Was Gay Marriage in den USA im Jahr 2008 war, ist bei uns heute vieles gleichzeitig. Zum Beispiel, dass es keine Mehrheit in Österreich gegen die ÖVP gibt. Wir nehmen an, dass es wahr ist, und alle politischen Akteure nehmen diese Tatsache in ihre Strategie mit auf. Und die meisten werden diese Strategien erst ändern, wenn sie bereits bestätigt bekommen, dass sich die Tatsachen geändert haben - “when the facts change, I change my mind”.
Dabei ist es gar nicht sicher, ob es keine Mehrheit gegen die ÖVP gibt. Ja, die letzte Nationalratswahl hat dieses Ergebnis gebracht. Und auch die aktuellen Umfragen deuten nicht gerade auf einen Erdrutschsieg der SPÖ drin. Aber irgendwas in diesem Window of Opportunity übersehen wir. Unter welchen Umständen wechseln Menschen von der ÖVP zu anderen Parteien? Welche Themen sind wichtig, wer hat dort die Themenführerschaft und welche Koalition wäre am realistischsten, wenn Sebastian Kurz nicht gesetzt wäre? Alles Fragen, die man sich stellen sollte, wenn man in der Politik sein Geld verdient und daran glaubt, was man spricht.
Ausweiten, was möglich ist
Aber meist beschäftigen sich politische Akteure eben nicht mit diesen langfristigen Fragen. Und ich fasse “politische Akteure” bewusst breit. Da zählen die Leute im Wahlkampf- und Kommunikationsteam genauso dazu wie Politiker selbst, und man kann gerne auch über die Rolle von Aktivismus, Journalismus und PR-Beratern sprechen. Die meisten nehmen einfach die Fakten, wie sie sind, und ändern sich dann, wenn sich die Fakten bereits geändert haben.
Dabei ist das nur die halbe Arbeit. Denn historisch hat Politik nicht nur bedeutet, mit dem Status Quo zu dealen und irgendwie zu verwalten, sondern vor allem zu gestalten. Vor dem Zeitalter der ständigen Sonntagsfrage und des Horserace-Journalismus haben es auch mehr politische Akteure noch als ihren Beruf gesehen, für Mehrheiten zu kämpfen und gewisse Anliegen erst mehrheitsfähig zu machen. Dass das möglich ist, zeigt sich immer noch laufend - Türkis-Grün als Koalitionsform war zuerst unbeliebt, weil unmöglich. Sobald im Amt, wurde sie wesentlich beliebter.
Und das ist letztendlich bei fast allem so. Ein Sozialstaat wirkt solange verrückt, bis er zur Norm wird und wir den Amerikanern mitleidig dabei zusehen dürfen, wie sie Kranke an ihrer Armut sterben lassen. Wären öffentliche Büchereien nicht schon ewig lange etabliert, heute würde es sie niemals geben. “Hast du mal an die Verlagsindustrie gedacht? Da hängen zigtausende Arbeitsplätze dran! Wieso soll ich für das Freizeitvergnügen anderer bezahlen?!”
Politik heißt Gestaltungsanspruch
Politik muss aber auch nicht so sein und sich mit Dingen abfinden. Das war letztlich auch das große Experiment der Obama-Kampagne. Auch, wenn er lügen musste, um so weit zu kommen, hat er sich doch durch einen neuen Stil ausgezeichnet und einiges umgesetzt, was früher undenkbar gewesen wäre - ganz abgesehen von der Tatsache, dass ein Afro-Amerikaner Präsident werden konnte. Und genug andere Beispiele zeigen das auch in Europa. Nicht umsonst ist Kreisky so vielen ein Begriff.
Mein Standard an Politiker war schon immer, dass man auch fähig sein muss, unpopuläre Antworten zu geben. Wer wirklich etwas verändern will - und zwar auch abseits des Status Quo, in dem wir nur Steuern rauf- und runterschrauben und von “Reformen” reden -, der muss auch Dinge aussprechen, die noch keine Mehrheit in Umfragen haben. Der muss ernsthaft für seine Anliegen kämpfen, sie immer wieder wiederholen und begründen, der muss raus aus der eigenen Bubble und endlich mal wieder für etwas einstehen. Das klingt populistisch, aber war in einer anderen Zeit noch selbstverständlicher. Als es uns noch nicht so gut ging damit, wie “die Dinge nun mal sind”.
Denn heute beschränkt sich Politik oft auf angebliche Fakten, die nur scheinbar gegeben sind. Wir tun zum Beispiel nur so, als wäre die EU ein Fakt - während in Italien laut Umfragen eine (literally!) faschistische Regierung an die Macht käme, die das Projekt Europa in die Luft sprengen könnte. Sich mit diesem Fakt abzufinden heißt short-term, eine Expertenregierung ohne die Fratelli d’Italia einzurichten. Aber hat jemand den Anspruch, Italien fundamental zu verändern und vor den Fehlern der Vergangenheit zu retten?
Gute Politik sollte sich also nicht nur am Status Quo orientieren und darauf reagieren - sondern eben auch die Gesellschaft selbst umgestalten wollen. Man kann nicht immer nur abwarten, was die Bürger wollen, und dann darauf reagieren. Mal ganz abgesehen davon, dass Bürger nicht perfekt informiert und rational sind und sich in einer immer weiter individualisierten Gesellschaft kein zu 100 % klarer “Volkswille” mehr herauskristallisieren lässt: Die großen Anliegen, die kommen selten von alleine, sondern müssen erst in die Arena gebracht und artikuliert werden. Wo sind sie geblieben, die Kämpfer für die noble Sache? Wer traut sich heute noch, radikale Forderungen zu stellen?
Fazit: Was ist also Politik?
Vielleicht findet sich ja unter meinen Newsletter-Abonnent*innen der oder die nächste, um diese großen Fragen zu stellen und große Dinge zu fordern. Auch als jemand, der in einer Branche arbeitet, die oft “politik-nahe” ist, will ich nicht aufhören, daran zu glauben. Es kann nicht sein, dass Politik in diesem Land für immer nur heißen wird, die richtigen Leute zu kennen und den Minimalkompromiss besser zu verkaufen als der Koalitionspartner. Irgendwann kommt der große Wurf, der das Leben vieler Menschen wieder besser macht.
Wenn mich also unwahrscheinlicherweise jemand bei meiner Masterprüfung fragen sollte, was Politik ist, habe ich endlich eine Antwort: Politik ist das Spiel mit dem Vertrauen. Es ist die Kunst, entweder im Bereich des Möglichen zu bleiben oder den Bereich des Möglichen zu erweitern und damit den Staat und auch die Gesellschaft zu verändern. Politik kann Verwaltung bedeuten und heißen, sich nur nach bereits vorhandenen Stimmungen zu richten - aber sie kann auch das Potenzial haben, das Leben vieler Menschen fundamental zu verbessern und den Spielraum zu erweitern, was gedacht werden kann und was nicht.
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