Seit Joe Biden Präsident ist, sinkt unser kollektiver Blutdruck. Wir müssen uns nicht mehr jeden Tag davor fürchten, dass jetzt im Moment ein Tweet Weltpolitik machen könnte. Keine Atomkrieg-Warn-SMS auf Hawaii durch eine depperte Äußerung am Klo, keine neue Munition für Corona-Leugner durch Fake News des US-Präsidenten. Nur langweilige Pressekonferenzen. Es ist wirklich beruhigend.
Aber eigentlich ist gerade jetzt die Zeit, in der die US-Politik wieder spannend wird. Denn mit Joe Biden haben die Demokraten nicht nur die Präsidentschaft, sondern auch den Kongress und den Senat zurückerobert. Damit haben sie jetzt das, was am ehesten an “volle Kontrolle” rankommt - sie haben jetzt wirklich die Macht, das Land fundamental zu verändern.
Was spricht dagegen, sich darüber zu freuen? Immerhin haben sie ja jetzt alle Posten, die sie brauchen, um sich durchzusetzen, möchte man meinen. Leider ist das nicht so einfach, wenn man politischer Realist ist. Ein kurzer Exkurs in die Politikwissenschaft erklärt, warum.
Inhalt, Posten oder Wählerstimmen?
Der Job des Politikers ist nicht so einfach, wie man es sich von außen oft vorstellt. Theoretisch ist es nämlich so: Man tritt mit Ideen an und kämpft darum, dass sich diese durchsetzen. Wer auch immer die besten Ideen (und/oder den besten Wahlkampf) hat, setzt sich durch und bekommt in einer Demokratie vom Wahlvolk die Macht geschenkt, diese Ideen auch umzusetzen. Ab da hält einen nichts mehr auf - bis auf weit ausgelegte, heilige Grundsätze, die z. B. in den Menschenrechten oder in der Verfassung festgeschrieben sind.
In der Praxis ist Politik anders. Denn man hat nur wenige Jahre, in denen sich meist keine grundlegende Staatsreform in allen Bereichen ausgeht. Darum haben Politiker mehrere Ziele, zwischen denen sie immer wieder abwägen müssen.
Dieser schirche Screenshot eines schirchen Scans zeigt etwas, das ich im Studium der Politikwissenschaft gelernt habe. Das Modell zeigt, dass es in der Politik eben nie nur um Inhalte geht, sondern um mehrere Ziele:
Policy: In diesem Punkt geht es um die Inhalte, quasi um die “Überzeugungen” politischer Akteure. Für die Grünen wäre das Klimaschutz, für die NEOS werden es in der neuen Wiener Koalition Transparenz- und Bildungsmaßnahmen. Das hier muss man verwirklichen, um sich selbst treu zu bleiben, Versprechen zu halten und etwas in die richtige Richtung zu verändern.
Office: Natürlich muss man aber auch die Posten haben, um diese Dinge durchzusetzen. Das heißt, man muss nicht nur schauen, dass man die eigenen Inhalte durchsetzt, sondern auch, dass man an den Schalthebeln der Macht bleibt. Unter anderem äußert sich das dadurch, dass besonders kontroverse Forderungen eher nicht rund um Wahltermine geäußert werden. Das führt uns auch zum nächsten Ziel eines Politikers.
Votes: Ohne die nötigen Stimmen kann man keine Wahl gewinnen und wird an Macht verlieren. Diese braucht es aber, um weiterhin etwas durchsetzen zu können. Gerade Trump zeigt, wie wichtig es ist, dass man auf diese Dimension schaut: Nach nur einer Amtszeit ist nicht viel verändert, und einiges davon kann sofort rückgängig gemacht werden.
Dieses Abwägen politischer Ziele ist im Wesentlichen das, was politische Profis ausmacht. Und es ist auch das, was Volksparteien wie die ÖVP, aber auch die CDU/CSU in Deutschland perfekt beherrschen: Sie schaffen es immer wieder, bei Wahlen zu überzeugen, wichtige Ämter auf allen Ebenen für sich zu besetzen und gerade genug umzusetzen, um weitermachen zu dürfen.
Bidens To-Do-Liste
Genau diesen Spagat müssen auch Joe Biden und die Demokraten hinbekommen. Mit dem netten Bonus, dass sie die Inhalte diesmal leicht umsetzen können. Nichts hält die Demokraten auf, alle ihre Kernforderungen schnell durchzusetzen. Die Frage ist aber, wie viel sie in den Kategorien Votes und Office verlieren werden.
Die To-Do-Liste für eine Demokraten-Alleinregierung ohne republikanisches Veto im Kongress oder Senat wäre lange, beinhaltet aber auch einige der kontroversesten Punkte der amerikanischen Politik:
Medicare for all war eine der wesentlichen Forderungen von Bernie Sanders und den Progressiven in der Partei, die seit 2016 enormen Zuspruch fanden. Wie genau man das Modell gestaltet, darüber kann man diskutieren und dazu muss man sicher auch ökonomische Fakten berücksichtigen - aber dass sich US-Bürger regelmäßig fürchten müssen, ob sie eine lebenswichtige Behandlung bezahlen können, muss sofort aufhören. Hier hinken die USA weltweit nach.
Student Loan Debt ist eine ähnliche demokratische Kernforderung. Genauer gesagt die Auslöschung dieser Schulden. Wer in Amerika studieren will, muss oft enorme Kredite aufnehmen, die noch Jahre bis Jahrzehnte abgezahlt werden müssen. Diese Schuldenkrise nimmt extreme Ausmaße an, während Demokraten immer wieder versprochen haben, sich darum zu kümmern. Jetzt ist es an der Zeit, das Thema anzugehen.
Gun Control war schon unter Obama eines der wichtigsten Themen der Demokraten. 2019 gab es in den USA mehr School Shootings als Tage. Gleichzeitig ist die Waffenthematik eng mit der Gewaltdebatte rund um Übergriffe der Polizei gegen schwarze Bürger verbunden. Kurz: Biden und die Demokraten müssen verhindern, dass so viele Amerikaner Tag für Tag an vermeidbaren Gewaltdelikten sterben. Das ist auch historisch die Grundaufgabe eines jeden Staates.
Wenn die Demokraten sich inhaltlich durchsetzen, werden die USA ein besseres Land. Neben den oben genannten Punkten sollte sich Joe Biden auch darum kümmern, dass an der Grenze zu Mexiko keine Kinder mehr von ihren Eltern getrennt werden. Sie könnten das Wahlsystem reformieren - weg vom absurden Electoral College, hin zu einem System, das sich am Popular Vote orientiert. Und generell könnte man mal darüber reden, welche Rolle Geld im politischen Prozess der USA spielt.
Jetzt oder nie
Es fehlt mir allerdings der Glaube. Joe Biden hat auch gewonnen, weil er sich als “moderat” gegeben hat und den Hardlinern der eigenen Partei oft genug Konter gegeben hat. Er war eine bewusste Botschaft an Republikaner, die eine anständige Alternative wollten, ohne ihre Grundsätze betrügen zu müssen. Diese Gruppe ist jetzt besonders anfällig dafür, genau zu schauen, ob Biden sich als “Sozialist” entpuppt - und als Sozialist gilt in Amerika jeder, der in Europa ein gemäßigter Konservativer wäre.
Ich bin skeptisch, ob sich die Demokraten in ihren Kernanliegen wirklich trauen werden, die USA zu verändern. Das Problem ist, dass diese Veränderung dringend möglich wäre. Denn wenn in diesen zwei Jahren - denn 2022 sind die “Midterms”, bei denen die Republikaner den Kongress oder den Senat zurückerobern könnten - nichts passiert, um das Leben vieler Amerikaner besser zu machen … dann gibt es eben keinen Grund mehr, sie zu wählen.
Sagt über Republikaner was ihr wollt, aber sie setzen sich durch. Sie fahren radikal einen Anti-Umwelt-Kurs und stehen auf der Seite von Öl- und Waffenkonzernen, sie leugnen den wissenschaftlichen Konsens in Pandemie- und Klimafragen, sie vertreten gnadenlos die Interessen ihrer Spender. Und sie lachen den Liberalen ins Gesicht, wenn sie dafür attackiert werden. Die Demokraten wollten einen Schritt auf konservative Wähler zugehen - werden sie sich trauen, jetzt ähnlich gnadenlos ihr Programm zu fahren? Die Alternative könnte leicht sein, in Schönheit zu sterben. Und dann will ich nicht wissen, wie die Antwort der Republikaner aussehen wird.