Fühlt ihr euch eigentlich als Europäer oder als Österreicher? Oder ist das für euch kein Widerspruch?
Ich denke in letzter Zeit wieder öfter darüber nach. Weil die EU bald wieder ernsthaft in Gefahr sein könnte. Wenn man sich ansieht, wie fleißig im Brexit-UK geimpft wird, wie weit voraus uns die polarisierten USA sind und wie Israel von der ganzen Welt beneidet sind, muss man beim Pandemie-Management vom Totalversagen sprechen. Währenddessen bildet das krisengeplagte Italien eine Expertenregierung, um nicht wählen zu müssen - denn momentan würden zwei Parteien, die rechts von der FPÖ stehen, auf Platz 1 und Platz 3 landen.
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Das alles macht mich nachdenklich, was die nächsten Herausforderungen für Europa werden und was es eigentlich immer noch bringt, EU-Bürger zu sein. Impfungen vielleicht nicht - aber was uns die Union an Frieden und Wohlstand gebracht hat, sollten wir auch in Krisenzeiten nicht vergessen. Also sollten wir doch klar benennen können, was Europa uns bringt. Oder?
Was ist Europa?
Ein einfacher Ansatz ist es, Dinge dadurch zu definieren, was sie nicht sind. Was bei Europa relativ einfach ist, weil EU-Staaten auf Demokratie und dem Rechtstaat basieren. (Auch, wenn man zwischendurch daran zweifeln kann - nicht nur in Polen und Ungarn.)
Aber gerade seit dem letzten Jahr bietet sich dafür auch der Vergleich mit den USA an. Der Unterschied zwischen Europa und den Vereinigten Staaten ist für mich immer aufgelegt, wenn es um diesen ausufernden Individualismus geht, den wir in Europa lange Zeit nicht gekannt haben. Die Vorstellung, dass man nur selber zähle. Die Abwesenheit eines Gesellschaftsvertrages und grundlegender Solidarität. Das unterscheidet uns von den USA.
Klingt unrealistisch? Reality Check: Wie wütend macht euch dieses Posting eines texanischen Bürgermeisters, das während eines Blackouts veröffentlicht wurde?
Europa darf nicht Amerika werden
Solche Worte machen mich unfassbar wütend. Alleine die Vorstellung, dass Politiker es nicht als ihre Aufgabe sehen, anderen Menschen zu helfen, ist für mich unvorstellbar. In den USA ist das aber nicht so unkontroversiell - da eine von nur zwei großen Parteien jahrelang gegen Big Government angetreten ist und die Lösung für alle Probleme darin sieht, nur möglichst wenig zu regulieren, das Individuum alleine zu sehen und den freien Markt arbeiten zu lassen.
Am anderen Ende des Atlantik sind die meisten Menschen der Welt im Gefängnis. Das hat auch mit der Debatte rund um Defund the Police zu tun: Die Polizei übernimmt teilweise Bereiche, die bei uns eher anderswo liegen. “Drogenkranken helfen” ist in den USA vielerorts ein Fremdwort - dort wird man für Marihuana-Konsum, der in manchen Staaten legal ist, oft auch eingesperrt.
Die Deregulierung im Energie-Bereich hat zuletzt auch zu den Blackouts geführt, die jetzt in Texas stattfinden und Menschen wie Tim Boyd zu libertären Fantasiepostings animieren.
Das hat auch Auswirkungen auf das Klima. Die Vereinigten Staaten sind nach China der zweitgrößte Umweltverschmutzer - was auch daran liegt, dass US-Konzerne die Weltwirtschaft dominieren und mit schwachen Regulierungen arbeiten können.
Versteht mich nicht falsch: Die USA haben auch Vorteile. Sie sind wahrscheinlich das lebenswerteste Land der Welt für Menschen, die bereits Geld haben. Es ist möglich, mit einer guten Idee und viel Fleiß zumindest sehr wohlhabend zu werden, da Risikokapital offensteht und die Vision “vom Tellerwäscher zum Millionär” noch immer in den Köpfen der Amerikaner weiterlebt.
Gleichzeitig sprechen aber die Zahlen dafür, dass die USA kein Gesellschaftsmodell sind, das wir haben wollen. Alleine die Tatsache, dass Menschen sich Behandlungen für tödliche Krankheiten leisten müssen und an ihrer Armut sterben, wäre in einem europäischen Land zurecht ein Politikum. Der radikale Individualismus ermöglicht jedem theoretisch das beste Leben, lässt aber die Masse an Menschen eher auf der Strecke.
Der europäische Weg
Für mich definiere ich Europa also im Wesentlichen dadurch, was wir nicht sind. Dass wir nicht China, Russland oder Saudi-Arabien sind, weil wir in Demokratien leben, war schon lange klar. Die Ablehnung totalitärer Systeme sollte sich mittlerweile von selbst verstehen, darum lege ich auch nicht den Fokus dieses Artikels darauf.
Aber wir sollten auch nicht die USA werden. Europäische Gesellschaften zeichnen sich nicht nur durch einen Recht-, sondern auch durch einen Sozialstaat aus. Und dadurch, auch auf die Schwachen Rücksicht zu nehmen. In Europa kann man vielleicht nicht so schnell mit Risikokapital reich werden und hat mit mehr Bürokratie zu kämpfen - aber am Ende ist man nicht allein.
Mehr und mehr sehe ich dieses Konzept aber als umstritten an. Das wird besonders deutlich, wenn im ORF direkt nach einem Krankenpfleger eine Maskengegnerin reden darf, die erklärt, dass sie gar nicht für die Gesundheit anderer Menschen verantwortlich sein kann. Sie leugnet dabei nicht nur biologische Tatsachen, sondern setzt sich auch über geltendes Recht hinweg. Und dass wir dabei zuschauen und eine Gruppe an Wahnsinnigen in der Gesellschaft beschwichtigen, weil sie Grundrechte dazuerfindet - das ist doch ein Trend, der vor allem aus den USA zu uns überschwappt.
Unser European Way of Life ist also in Gefahr - vor allem dadurch, dass die Rechten immer wieder die Strategien der US-Republikaner übernehmen. Der “Culture War”, der als amerikanisches Spezifikum angefangen hat, findet längst auch bei uns statt. Nur eben in Staaten, die in ihren Institutionen den Vereinigten Staaten weit voraus sind.
Und wir sollten alle unseren Teil tun, damit das so bleibt.