Eigentlich hätte heute anders aussehen sollen.
In einer besseren Timeline wäre ich heute mit meiner Familie zusammen. In Wien, an der Uni. Ich hätte sie rumgeführt und ihnen die Highlights meines Studiums gezeigt. Das schirche, alte NIG, an dem ich so viele Stunden mit eher philosophischen Diskussionen verbracht habe. Den Hörsaal D am Unicampus, der hauptsächlich Rückenschmerzen verursacht. Und den Arkadenhof der Uni Wien - nicht, weil ich da so oft war, sondern weil er irgendwie für das letzte bisschen Prestige steht, das diese Uni noch mit sich bringt.
Aber heute geht mein Studium auf andere Weise zu Ende. Heute ist meine Masterprüfung - und es ist ein fucking Videochat.
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich bin einfach nur Videochat-erschöpft. Und es ist schwierig, sich auf die wichtigste Prüfung meines Lebens vorzubereiten, wenn ich weiß, dass Humor und andere Social Skills, die mich noch in jeder Situation gerettet haben, nicht erlaubt sind. Nicht, weil meine Professorinnen keinen Spaß verstehen. Sondern weil ich weiß, dass Witze in der Verzögerung eines Videochats einfach untergehen und maximal unangenehm sind.
Also werde ich heute nicht mit meiner Familie durch den Arkadenhof gehen. Ich werde aufstehen, frühstücken und mich auf den gleichen Tisch setzen, an dem ich seit über einem Jahr jeden Tag sitze. Ich werde wie immer die Kamera anschalten, fragen, ob man mich hört, und dann werde ich den Bildschirm freigeben und wieder fragen, ob man alles sehen kann. Die üblichen Videochat-Phrasen werden fallen.
Meine Präsentation ist dafür ganz solide. Schwarz auf weiß, keine fancy Übergänge. Nichts, was Videochat-Verzögerungen kaputt machen könnten. Ich hab mir auch keine witzigen Überleitungen überlegt, keine Gags für zwischendurch. Kurz: Ich werde das nicht so präsentieren, wie es mir eigentlich am besten gefallen würde. Und nicht nur deswegen komme ich mir irgendwie beraubt vor.
Aber eigentlich passt das ganz gut in die Geschichte meines Studiums. Es hätte nie so richtig laufen dürfen. In der Hauptschule - heute sagt man dazu “Mittelschule” - war ich in der dritten Leistungsgruppe in Mathe und bin gerade so mit Vierern durchgekommen. Die Lehrerin sagte meiner Mutter, dass ich auf keinen Fall auf eine höhere Schule gehöre. Der Bua soll irgendeine Lehre machen. Und auch die Aufnahmeprüfung zur HAK habe ich dann nur geschafft, weil mir Frau Lindinger bei der Übung mit dem gleichschenkeligen Dreieck geholfen hat. Von da an war alles geschenkt, alles Zugabe und mehr, als man mir je zugetraut hätte.
Im Endeffekt hab ich trotzdem die Matura gemacht. Mit gutem Erfolg sogar. Und seitdem ist es immer irgendwie gut gegangen. “Ich geh nach Wien und werde Journalist”, sagte der Maturant, der Publizistik und Politikwissenschaft anfängt - Publizistik als Karrierestudium natürlich, klar. Und ich war sogar eine Zeit lang im Journalismus unterwegs und hatte coole Jahre darin, bis ich aus freien Stücken gewechselt bin. Auch die Bachelorarbeit ging irgendwie, alles hat sich ganz leicht so ergeben. Aber trotzdem hatte ich nie das Gefühl, wirklich in diese Lebenssituation zu gehören.
Nennt mich dramatisch, aber man sieht das Leben anders, wenn man kein Akademikerkind ist. Meine Eltern haben nicht studiert, meine Familie kennt die Uni erst seit meiner Generation von innen, und meine Oma bezeichnet das alles noch heute als “die Schule”. Aber für alle rund um mich, egal ob im Journalismus, in der PR oder an der Uni, schien eine höhere Ausbildung immer selbstverständlich zu sein. Nur für mich nicht.
Aber das ist alles nur Hintergrundinfo. Es beeinflusst das Ergebnis nicht. Im Endeffekt wird es ablaufen wie immer. Im Laufe meines Studiums war ich vor jeder Prüfung drei Tage vorher fertig und hatte Zeit, mich zu entspannen. Eine Taktik, die ich aus einem Anime meiner Kindheitstage geklaut habe und die mich kein einziges Mal enttäuscht hat. Nur diese drei Tage, vor der größten aller Prüfungen, fühlen sich irgendwie anders an. Zum ersten Mal seit der Matura bin ich wirklich, wirklich nervös.
Als ich mit Freunden darüber diskutiert hab - was ist das Worst-Case-Szenario, wie kann ich mich besser vorbereiten -, ist mir auch aufgefallen, warum. Ich habe keine Angst, die Prüfung heute nicht zu schaffen. Ich habe Angst, dass ich sie schaffe. Und dass das morgen alles vorbei ist.
Im letzten Pandemie-Jahr hab ich mich vor allem dadurch über Wasser gehalten, mir immer wieder kurzfristige Ziele zu setzen. Momentan gibt es keinen Urlaub, keine Feiern, kein bis in die frühen Morgenstunden philosophieren nachdem man die langweilige Party früher verlassen hat. 2020 bis heute gab es nur die kleinen Siege in der Arbeit und die Meilensteine in meinem Studium. Letzte Prüfung, check, Masterarbeit, check, Masterprüfung …
Und jetzt, ab heute Nachmittag, ist das alles weg. Und es gibt das erste Mal kein fixes Ziel, auf das ich hinarbeiten kann. Das ist furchteinflößender Erwachsenen-Scheiß. Und solang man das Leben pandemiebedingt nicht so einfach genießen kann, hab ich noch keine Ahnung, wie ich dieses Loch füllen werde. “Auf die Impfung warten” alleine ist zu wenig.
Heute endet jedenfalls der Teil meines Lebens, der “Ausbildung” war. Wenn bei der Defensio alles glatt läuft, bin ich schon bald ein Master - und darauf arbeite ich hin, seit ich 6 Jahre alt bin. Und ich weiß: Am Ende wird sich nicht viel ändern, außer dass auf meiner Visitenkarte ein “MA” steht, das ein kleines bisschen mehr begeistert als “BA”. Niemand wird nachfragen, niemand wird sagen “Aaah, Politikwissenschaft, ein Mann von Welt!”. Aber für mich ist es ein huge fucking deal und nicht selbstverständlich. Es ist einer der wichtigsten Tage meines Lebens.
Wenn ihr diese Mail kriegt, ist es in einer Stunde soweit und die Prüfung geht los. Also dann - let’s do this!