Österreich ist ein Land, in dem die Politik traditionell stark auf Umfragen schaut. Das hat hauptsächlich Nachteile - vor allem, dass sich niemand traut, heilige Kühe wie Neutralität, Atomkraft oder Gentechnik anzufassen. Aber um mal wieder ein bisschen Optimismus zu verstreuen, soll es heute um einen Vorteil der Fokussierung auf Umfragen gehen: Sie ermöglicht, dass der Wählermarkt “live” regelt. Lasst mich erklären.
“Markt regelt” ist nicht nur ein Meme.
Und ja, das sagt sich natürlich so leicht bei einem Liberalen. Aber Märkte sind an sich demokratisch: Wenn jeder das macht, was für eine:n selbst das beste ist, kommt am Ende ein Optimum heraus. Natürlich gibt es Einschränkungen - man sollte das Gesundheitssystem z. B. nicht alleine dem Markt überlassen -, aber im Wesentlichen sind Märkte ein gutes Werkzeug, damit die meisten Menschen bekommen, was sie wollen. Markt regelt.
Und so ist das auch auf dem “Wählermarkt”: In einer Demokratie bestimmt die Mehrheit, wie dieses Land aussieht. Das ist zwar oft nur bedingt richtig - 2019 glaubten immerhin 37,5 %, für “Erneuerung” zu wählen, wählten aber eine Partei, die seit über 30 Jahren an der Macht und für die politischen Probleme im Land verantwortlich war. Aber bis auf diesen Umstand der unvollständigen Information hält die Metapher.
Der Wählermarkt regelt also.
Das “Schöne” - und diese Anführungszeichen bitte laut aussprechen - an unserer umfragen-fixierten Demokratie ist, dass dieser Wählermarkt auch außerhalb von Wahlkämpfen eine gewisse Wirksamkeit hat. Dadurch, dass sich vor allem die Politiker:innen der etablierten Großparteien, also ÖVP und SPÖ, permanent daran orientieren, bekommen sie über die Medien vermittelt quasi ein Live-Feedback zu ihrer Politik, ihrem Personal, zu ihren Korruptions-Affären.
Und obwohl genau dieser Fokus auf die Meinungsforschung dem Fortschritt so oft im Wege steht, könnte er in der nächsten Zeit einiges verbessern.
Ein paar Beispiele.
1. Umfragen legen nahe, dass eine Ampel-Koalition - also eine Koalition aus SPÖ, NEOS und Grünen - nicht nur mehrheitsfähig, sondern sogar die beliebteste Regierungsvariante wäre. Und zwar abgeschlagen: 46 % wollen die Ampel, mehr als beide Varianten der “Großen Koalition” zusammen. In Umfragen ist NEOS mittlerweile zweistellig, Kopf an Kopf mit den Grünen, während die SPÖ sich konstant über 25 % bewegt. Das kann sich ausgehen.
2. Es ist außerdem auch völlig eindeutig, dass die Korruptionsgeschichten der letzten Jahre der ÖVP schaden. In Umfragen kratzt die ÖVP an der 20-Prozent-Marke und ist damit wieder in der Phase, in der sie vor Sebastian Kurz war. Das sagt übrigens auch der Salzburger Landeshauptmann Wilfried Haslauer. Und in einem internationalen Vergleich zu den Zustimmungswerten der Regierungschefs kommt Karl Nehammer auf den beschämenden letzten Platz - noch hinter Boris Johnson, als dieser schon zurückgetreten war.
3. Auch die FPÖ dürfte langsam einsehen, dass es keine winning strategy ist, sich von der Realität zu verabschieden. Norbert Hofer hatte fast 50 % der Stimmen bei der letzten Bundespräsidentschaftswahl - ihr neuer Kandidat hat gerade mal 8.000 Facebook-Follower und lieft nur acht Prozent vor dem lächerlichsten Kandidaten in Österreichs Geschichte. Und auch in den Umfragen zur Nationalratswahl geht sich keine Koalition aus, in der die FPÖ an die Macht käme - vor allem auch, weil keiner mit ihr will.
Oder abgekürzt: Es verändert sich etwas.
In den Jahren, in denen ich angefangen habe, mich für Politik zu interessieren, war das noch anders: Die FPÖ beherrschte die Umfragen, die Stimmung im Land war sehr negativ gegenüber beiden Großparteien und allem, was irgendwie links, liberal oder progressiv war. “Keine Flüchtlinge” und Dauerbrenner wie die angebliche Schließung der Balkanroute waren die politischen Inhalte, auf die sich alle verständigen konnten.
Das scheint sich aber zu ändern. Eine ÖVP-FPÖ-Koalition geht sich nicht mehr aus - auch dann nicht, wenn die Ablöse-Gerüchte um ihre beiden Spitzenkandidaten stimmen sollten. Die Korruptionsgeschichten, die sich seit 2017 angesammelt haben, dürften nachhaltigen Schaden angerichtet haben. Auch, wenn sie dachten, dass sie mit jeder Schweinerei durchkommen: Das geht sich nicht mehr aus. Da hilft auch der Fokus auf Flüchtlinge nicht mehr.
Der Wählermarkt regelt also, und er wird durch die Umfragen live ermittelt.
Jetzt gibt es also zwei Möglichkeiten.
Es bleibt, wie es ist, bis wir das nächste Mal wählen. Und dann kommt eine Ampel-Koalition, weil sich alles andere entweder nicht mehr ausgeht oder zu unpopulär ist. (Ich will mir nicht vorstellen, wie die Umfragen für die SPÖ einbrechen würden, wenn sie sich auf Rot-Schwarz festlegt - eine Koalition, die exakt null Menschen in Österreich vermissen.)
Die Politik nimmt diese Signale wahr und ändert sie, um eine Katastrophe zu vermeiden. Und das würde bedeuten, dass die ÖVP mit ihrem Korruptionsproblem aufräumt - ja, ich lache auch, während ich das schreibe - und die FPÖ vom Kickls “Die Echsenmenschen vergiften uns”-Kurs ablässt. Das ist das unwahrscheinlichere Szenario. Aber in der momentanen Stimmungslage das einzige, was ihnen verhelfen könnte, nach der nächsten Wahl zu regieren.
Ich persönlich finde beide Varianten okay. Lieber wäre mir aber Letzteres, weil mir die Existenz einer anständigen bürgerlichen Partei ja eigentlich ein Anliegen ist. Oder wäre. Weil ich glaube auch, dass niemand es schafft, nach 36 Jahren an der Macht nicht korrupt zu sein. Eine Auszeit wird der ÖVP so oder so gut tun.
Und ja, das kann sich alles noch ändern.
Immerhin haben wir einen Winter vor uns, in dem die jahrelang fleißig aufgebaute Gas-Abhängigkeit für extreme Preise und vielleicht sogar kalte Wohnungen sorgen wird. Gleichzeitig mit einer Teuerung, die es vielen eh schon schwer genug macht. Und einer Krankheit, die gerne in Wellen kommt und gerne vergessen wird. All das kann die Stimmungslage nochmal verändern - aber eher in Richtung FPÖ, weniger in Richtung ÖVP.
Aber trotzdem glaube ich, dass sich in Österreich langsam etwas ändert. Dass wir bereit sind, endlich einmal eine Regierung ohne Rechte zu probieren, ohne Single-Issue-Flüchtlings-Wahlkampf davor. Zumindest, wenn man den Umfragen glauben darf. Und das ist bekanntlich die einzige Sprache, die viele in der Politik noch verstehen.
Optimistische Grüße
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