Die Einstiegsdroge für Pseudointelligenz
Eine Geschichte über Jesus-Konvertierte und "kritische Denker"
Dieses Wochenende hatte ich einen interessanten Denkanstoß. Bei einer dieser Partys, auf der man immer spannende Gespräche führt, hat mir nämlich jemand eine Geschichte erzählt.
Er erzählte mir von jemandem, dessen Lebensgeschichte er einfach nicht begreift. Es ging um einen guten Freund, der anscheinend sehr gescheit war, offen, aufgeklärt - meiner Interpretation der Geschichte nach das, was viele einen Intellektuellen, aber auch einen Bobo nennen würden. Dieser Bobo jedenfalls zog in irgendeinen republikanischen US-Bundesstaat, um dort mit seiner Frau ein neues Leben aufzubauen. Und Jesus zu finden.
Ja, mein erster Reflex war auch “Hä”. Mein Gesprächspartner und ich verbinden die Kategorie “intelligente Menschen” - also betont intelligente, intelligenter als der Durchschnitt - nicht unbedingt mit der Kategorie “religiöse Menschen”. Und nein, das heißt natürlich nicht, dass alle religiösen Menschen dumm sind. Aber gefühlt gibt es keinen Zusammenhang zwischen Glaube und Intelligenz.
Woher also der Sinneswandel?
Es war danach wie immer nach coolen Diskussionen auf Partys: Ich habe dann noch länger darüber nachgedacht, und jetzt hab ich eine Antwort, die ich im Moment gerne gebracht hätte. Ich glaube nämlich, dass es eine Art Einstiegsdroge gibt, die es ermöglicht, sich sehr plötzlich mit Meinungen einzulassen, die davor weit weg gewirkt hätten.
Dazu muss ich kurz ausholen und auf ein Hörbuch verweisen, das ich über den Urlaub verschlungen habe: Think Again von Adam Grant. In mehreren Geschichten verpackt Grant seine eigentlich sehr einfache Kernbotschaft: Wer bereit ist, seine Meinung zu ändern, trifft nicht nur bessere Entscheidungen, sondern hat auch Vorteile im Alltag. Vielleicht sogar ein glücklicheres Leben.
Grant verpackt diese Weisheit in Geschichten, es geht z. B. um “Super-Forecaster”, die weit in die Zukunft gerichtete Prognosen geben sollen. Aber eine Botschaft, die im Subtext immer mitschwingt: Es ist gscheit, offen zu bleiben und seine Meinung ändern zu können. Eine Aussage, der viele - auch ich - zustimmen würden, und irgendwie auch eine Voraussetzung für den demokratischen Diskurs. Und das führt mich zurück zu meiner Antwort auf die Frage nach der Einstiegsdroge.
“Kritischer Denker” zu sein ist ein geiles Selbstbild.
Wir hören immer wieder, dass es intelligent sei, seine Meinung zu ändern. Die wissenschaftliche Methode, die beim Wissenserwerb erhaben sei, sieht vor, dass Theorien immer falsifizierbar sind. Damit steht grundsätzlich alles zur Disposition - auch Meinungen, von denen wir ziemlich sicher sind, ja, eigentlich gerade diese.
Ich glaube, dass es ein attraktives Selbstbild ist, sich so zu bezeichnen. Nicht umsonst wirbt der Exxpress mit dem Slogan “für Selberdenker” zu sein. Das suggeriert: Du lässt dir nichts vorschreiben, sondern bildest dir deine eigene Meinung. Du bist mehr als informiert - du bist ✨ kritisch ✨. (Dass das Wort “Selbstdenker” schon zu kompliziert war, sagt wahrscheinlich auch etwas über das Medium aus.)
If the facts change, I change my mind.
— John Maynard Keynes (wahrscheinlich)
Und ich glaube, dass dieses Selbstbild so attraktiv ist, dass sich viele aktiv dafür entscheiden - auch, wenn sie eigentlich bereits intelligent sind und gar nicht so dumme Standpunkte vertreten haben.
Das führt zu komischen Entwicklungen.
So erkläre ich mir z. B. zum Teil einen meiner früheren Freunde, den zwar jeder als intelligent, aber eben auch als extrem edgy und merkwürdig beschrieben hätte. Für seinen Mut zur unpopulären Meinung bekam er Aufmerksamkeit und auch oft Zuspruch, und dass er selbst gscheit ist, das stand für ihn außer Frage. Also lag es wahrscheinlich näher für ihn, sich als “kritischer Denker” eine “eigene Meinung” zu bilden. Und die war dann irgendwann, Donald Trump zu verteidigen. Und danach, Impfgegner zu werden.
Ähnlich erkläre ich mir auch den Jesus-Typen aus der Geschichte vom Anfang. Es kann natürlich auch sein, dass ich da aus der Ferne zu viel reininterpretiere - vielleicht lag es auch daran, dass das Leben für rational denkende Menschen sehr viel sein kann und der Glaube einfache Antworten gibt, die strenge Empirie nicht geben kann. Wobei auch das ein big stretch sein könnte. Jedenfalls glaube ich, auch der fühlt sich dadurch intelligent.
Sie fühlen sich alle intelligent, wenn sie “andere Meinungen” vertreten.
Und manchmal liegt das schlicht und einfach nur an der Tatsache, dass die Meinung “anders” ist als die von, nun ja … vielen, fast schon allen anderen.
Als früherer Verschwörungstheoretiker (ich war 16 und zu viel im Internet) kann ich mir das ja durchaus erklären: Man fühlt sich leicht so, als würde man “es durchschaut” haben, wenn man sich einmal selbst dabei erwischt hat, eine Meinung zu ändern. Sich selbst als überdurchschnittlich intelligent wahrzunehmen, ist ein sehr angenehmes Weltbild. Aber leider auch ein sehr durchschnittliches.
Intellektuell ist das ja durchaus eine Meisterleistung: Es ist nicht leicht, sich selbst einzugestehen, falsch zu liegen.
Das Problem beginnt da, wo die Meinungsänderung an sich zum Ersatz für Intelligenz wird.
“Ich habe das auch so gesehen wie du, und ich habe mich geändert” beweist nicht, dass deine aktuelle Meinung intelligent ist. Es beweist nur, dass du deine Meinung ändern kannst und damit eine Eigenschaft hast, die intelligente Menschen besitzen. Das Besitzen dieser Eigenschaft ist wahrscheinlich eine gute Voraussetzung für Intelligenz - es ersetzt diese aber nicht und führt auch nicht auf magische Weise dazu.
Das Problem ist nicht nur, dass viele Menschen glauben, dass sie intelligent sind, obwohl sie es nicht sind. Das ist mir eigentlich relativ egal. Es ist aber eben eine Einstiegsdroge - und zwar auch eine für ganz absurde Meinungen, darunter auch die Parallelwelt der Rechten.
Denn genau die Leute, die unironisch glauben, dass wir wegen Maskenpflicht in der U-Bahn in einer Diktatur leben, während Russland eine Demokratie ist, die nur “legitime Sicherheitsinteressen” wahrnimmt, klopfen sich dafür auf die Schulter, dass sie diese Meinung vertreten. Sie sind “gegen den Mainstream”, sie haben ihre Meinung geändert, und genau das ist ja der Beweis für ihre Intelligenz - Selberdenker eben.
Noch schlimmer: Da viele dieser Leute ja strategisch gar nicht so dumm sind, reden sie von ihrer Reise zur Erkenntnis und heißen jeden Willkommen, der sich ihnen anschließen will. “Du kannst stolz auf dich sein, dass du die Größe besitzt, deine Meinung zu ändern”, sagen die Rechten, während du den Klimawandel leugnest. Aber wo sind eigentlich die Anständigen auf der Gegenseite, die jene willkommen heißen, die ihre Meinung nochmal ändern wollen?
Wahrscheinlich gibt es davon zu wenige, und daraus können wir auch etwas lernen. Für den ersten Schritt ist es aber deswegen mal wichtig, zu verstehen:
Sich selbst megagscheit und geil zu fühlen ist eine Einstiegsdroge in alle möglichen Richtungen.
Das ist nicht per se schlecht, und wir sollten deshalb natürlich nicht aufhören, unsere Ansichten zu hinterfragen, nur weil sie uns im Moment richtig vorkommen. Aber es ist eben nicht immer eine lustige Geschichte vom Jesus-Typen, sondern kann sich zu einer gesellschaftlichen Entwicklung summieren, die in die falsche Richtung geht.
Ein ganz großer Teil jener, die Arschloch-Meinungen vertreten, feiert sich selbst dafür, einfach eine Meinung zu vertreten, die eben neu ist. Auch, wenn diese Meinung faktisch widerlegbar ist. Es mag für Außenstehende nicht nachvollziehbar sein, wie man in diese Richtung abdriftet, aber für ihr Selbstbild ist das einfach die richtige Entscheidung.
Was uns bleibt, ist, ihnen ein Rückfahrticket anzubieten und sie ebenfalls wieder willkommen zu heißen, wenn sie ihre Meinung erneut ändern wollen. Also raten wir ihnen ernsthaft, und nicht herablassend, im Sinne von Adam Grant: Think Again.
Noch mehr Lesestoff
Gute Nachrichten: Klimaschutz wirkt schneller als gedacht! Statt einer “Verzögerung” der Wirkung von Klimaschutzmaßnahmen in der Länge von 30-40 Jahren sind es eher 3-5 Jahre. Das sagen renommierte Forscher:innen in der Kleinen Zeitung.
Related Rant dazu: Ich kann jeden Tag weniger einsehen, warum wir nicht wirklich alles dafür tun, diese Chance zu nutzen. Ohne Klimaschutz können wir unseren Planeten vergessen, aber wir leisten uns die zweitgrößte Parteienförderung der Welt und kaufen davon dann Inserate, in denen wir vor den Folgen für den Tourismus warnen. Na dann machen wir doch den Tourismus klimafit? Jeder Euro, den wir heute in Klimaschutz investieren, kommt ums Zigfache zurück, wenn wir den Schaden haben. (Den wir minimieren könnten.)
Ich hab was zu den Sanktionen geschrieben. Die Executive Summary: Sie wirken. Sehr gut sogar. Und zwar immer mehr, je länger sie andauern. Und ja, Russland leidet darunter wesentlich mehr als Österreich und die EU.