Ein Wahltag hinter den Kulissen
Wahlen machen mehr Spaß, wenn man weiß, wie es Politikern heute geht
Politiker, Berater, Journalisten und alles, was sich rund um diese Berufe dreht - sie alle arbeiten das ganze Jahr daran, Agenda-Setting zu betreiben und zu bestimmen, worüber gesprochen wird und worüber nicht. Sie alle verfolgen eigene Interessen und sind nicht darauf aus, etwas zu verkaufen, sondern die eigene Ausgangslage für die nächste Wahl zu verbessern. Aber heute ist Wahltag - der eine Tag, an dem die ganze Blase machtlos ist.
Darum mag ich Wahltage. Es ist der eine Tag, an dem die Spin-Doktoren und Politiker sich in Bescheidenheit üben müssen und keinen Einfluss mehr darauf haben, was passieren wird. Gernot Blümel hätte seinen Anti-Wien-Wahlkampf auch fünf Jahre lang machen können - was heute passiert, ist für ihn eine Black Box. Theoretisch kann es sein, dass ihn niemand wählt, theoretisch kann es auch sein, dass er die Absolute kriegt. Theoretisch, eben, aber diese Unsicherheit ist ein fast schon romantischer demokratischer Moment.
Da ich Wahltage auch in Redaktionen erleben durfte und viele Leute in mehreren Bereichen dieses polit-medialen Komplexes kenne - auch solche, für die es heute um alles geht -, kann ich vielleicht etwas Interessantes bis zur Hochrechnung beisteuern. Wenn man nämlich weiß, wie ein Wahlsonntag hinter den Kulissen abläuft, wird er gleich viel interessanter.
Vor 17:00: Zeit schinden und einordnen
Redaktionen haben heute gleich zwei Aufgaben: Die eine besteht darin, zu funktionieren, wenn das Ergebnis da ist, und eine gute Erklärung dafür zu haben. Die andere besteht darin, ihr Publikum bis dahin bei Laune zu halten.
2015 durfte ich beim KURIER die Oberösterreich-Wahl live-tickern. Was natürlich für einen jungen Online-Journalisten sehr reizvoll ist, aber auch anstrengend. Weil es eigentlich nicht viel zu erzählen gibt. “Wir haben erste Ergebnisse aus Gemeinden, dürfen sie aber bis zur Sperrfrist nicht zeigen, jetzt warten wir” wäre der einzig relevante Live-Ticker. Aber da natürlich alle auf erste Infos gieren, muss man als Journalist auch mal improvisieren.
Der Klassiker ist, die Parteispitzen beim Wählen zu beobachten. “Landeshauptmann Josef Pühringer gibt seine Stimme ab” ist zwar keine gute Nachricht, aber vielleicht kriegt man ja ein paar Worte. Meist äußern sich Politiker zuversichtlich - no na - und sagen dann noch ein-zwei Worte, die jetzt auch wirklich im Live-Ticker und in der Zeitung stehen sollen. Dazu schreibt man als Journalist noch, wo sie wählen - Bezug zur Heimatgemeinde und so -, und schon hat man wieder was Aktuelles geschrieben.
In dieser Zeit kann man auch die Ausgangslage gut einordnen. Wo waren die Hochburgen welcher Partei, welche Gemeinde könnte Farbe wechseln, wie wirkt sich die Wahl auf die Bundespolitik aus und wer ist danach angezählt? Aufgelegt sind dazu natürlich Gastauftritte von Politikwissenschaftlern oder anderen Experten, die das mit mehr Expertise unterfüttern können. Währenddessen arbeitet der Rest der Redaktion daran, sich auf den Sturm vorzubereiten.
Nach dem Ergebnis geht’s erst richtig los
Innenpolitik-Journalisten wissen natürlich genau, wie man ein Wahlergebnis deuten muss. Sie können die SPÖ-Absolute genauso erklären wie ein Abstürzen der Partei, weil sie für alle Szenarien die Gründe kennen und sich jeden Tag mit diesen Themen beschäftigen. Das Problem ist: Auch sie arbeiten hinter diesem Schleier der Unwissenheit. Und darum werden meist einfach mehrere Versionen vorbereitet.
Wenn du dieses Update am Sonntagvormittag liest, haben die meisten Journalisten wahrscheinlich schon ihre Analysen fertig geschrieben. Ob die SPÖ massiv zulegt, gleich bleibt oder verliert - sie können es erklären und haben bereits die wahrscheinlichsten Szenarien ausformuliert. Denn wenn dann die erste Hochrechnung kommt, muss es schnell gehen: Im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Klicks will natürlich jedes Medium nicht nur die beste, sondern auch die schnellste Analyse parat haben.
Das spart auch Zeit für den Rest des Abends - denn nach dem ersten Balkendiagramm geht es um Gemeindeergebnisse, Wählerstromanalysen, Koalitionsszenarien und personelle Konsequenzen. Mit den Analysen der Ergebnisse geht es gerade erst los.
In den Parteizentralen rauchen die Köpfe
Richtig stressig wird es aber erst jetzt in den Parteizentralen - denn irgendjemand verliert immer. Und Politiker arbeiten daran, das niemals zugeben zu müssen.
So sagte Maria Vassilakou, die Spitzenkandidatin der Grünen bei der letzten Wien-Wahl, sie würde nach Verlusten zurücktreten. Die Verluste kamen - ein kleines Minus von 0,8 % -, aber Vassilakou blieb. Die Ausrede? In absoluten Zahlen hätten die Grünen ja knapp 3.000 Stimmen mehr bekommen.
Ein etwas weniger frecher Spin ist, wenn sich Parteien mit Zugewinnen zum Wahlsieger krönen. In den Faymann-Jahren der Republik war die FPÖ an fast jedem Wahlsonntag der große Gewinner, ohne einmal stärkste Partei zu werden. Ähnlich wird es bei der heutigen Wien-Wahl werden: Die ÖVP wird dazugewinnen, aber die SPÖ ist immer noch Wahlsieger.
Und wenn es wirklich gar keinen Silberstreif gibt und man einfach abstürzt, gibt es immer noch zwei Möglichkeiten. Die eine ist, sich zufällige Fakten auszusuchen, über die man sich freut - zum Beispiel die hohe Wahlbeteiligung oder das relativ starke Ergebnis bei einer kleinen Gruppe, z. B. jungen Menschen. Oder man macht es wie die FPÖ morgen und sagt sinngemäß: “Alles nicht unsere Schuld.”
Warum ihr diesen Tag besonders genießen solltet
Und so läuft auch der heutige Tag: Alle bereiten sich auf die schöne neue Welt nach dem Wahlergebnis vor. Der ein oder andere Politiker - zum Beispiel Heinz-Christian Strache - wird besonders nervös sein, weil vom heutigen Ergebnis abhängt, ob man nach seinen Job bekommt oder weitermachen kann. Für viele steht heute auf dem Spiel, ob sich jahrelange Arbeit bezahlt macht oder ob man überhaupt eine Zukunft in der Politik hat.
Außer diesem Newsletter hab ich auch keine Idee, wie ich euch die Zeit bis zur ersten Hochrechnung versüßen kann. Aber vielleicht lest ihr die Live-Ticker, findet etwas aus diesem Text wieder und erinnert euch, dass die Spitzenpolitiker, die uns die meiste Zeit sehr fern vorkommen, heute richtig schwitzen müssen. Sie haben berechtigte Angst vor dem, was kommen könnte. In diesem Sinne: Geht wählen, falls ihr noch nicht gewählt habt. Und genießt einen dieser seltenen Momente, in denen ihr das Sagen habt.