Herr Sobotka und die schnelle Politik
Themen zu setzen wäre möglich - wenn man die richtigen hätte
Wolfgang Sobotka ist der unbeliebteste Politiker Österreichs. Als Nationalratspräsident in Zeiten von Herbert Kickl, Gerald Grosz und Peter Schmiedlechner ist das schon an sich eine Leistung – aber er hat auch viel dafür getan.
In den U-Ausschüssen vor diesem Jahr hatte Sobotka trotz offensichtlicher Befangenheit den Vorsitz inne, blockierte dabei kritische Fragen und half Parteifreunden in Befragungen – die mehr als 80 Erinnerungslücken eines Gernot Blümel wären unter Vorsitz eines Norbert Hofer eher nicht möglich gewesen. Und auch außerhalb dieser Tätigkeit kennt man ihn teilweise nicht so, wie er es gerne hätte, sondern eher so:
Wie erklärt sich Sobotka, dass er und seine Partei so unbeliebt sind? In der ORF-Pressestunde findet er eine Erklärung:
Es ist auch eine Ursache, dass die Politik immer schneller wurde. Schauen Sie: Was ist eine Schlagzeile? Nach zwei Tagen ist sie bereits weg. Es ist nicht möglich, ein Thema länger zu halten. Dann heißt es: Hab ich alles schon gehört, hab ich alles schon gesehen, was ist neu. Wir brauchen immer etwas Neues. Und es braucht immer mehr Aufregung. Wir müssen wieder zu einer Solidität, auch Themen längerfristig behalten können.
Damit hat Sobotka nicht ganz unrecht.
Es ist wirklich schwierig, Themen langfristig zu halten. Wenn es in Österreich langfristig um Bildungs- oder Wirtschaftspolitik ginge, wäre das Leben für NEOS leichter, durch permanente Verteilungsdebatten könnte wohl die SPÖ profitieren.
Aber zu wenige Menschen interessieren sich für Inhalte, und dadurch werden sie auch von Medien zu wenig gespielt. Mein letzter Artikel als MATERIE-Chefredakteur hat sich übrigens am gleichen Tag, an dem Sobotka in der Pressestunde war, genau diesem Thema gewidmet. Ich schwöre, wir haben uns nicht abgesprochen.
Aber ja, I get it – man wird einfach nicht belohnt dafür, ein Thema dauerhaft und glaubwürdig zu besetzen. Denn wie ich im Artikel auch betone, liegen die Antworten für die großen Themen ja seit Jahren, teilweise Jahrzehnten auf dem Tisch. Nach 100 Artikeln darüber, welche Folgen die mangelhafte Kinderbetreuung in Österreich hat, kann man immer noch einen 101. nachballern, aber weder Problem noch Lösung ändern sich dadurch. Der Deal „die Medien tragen Themen aus der Gesellschaft in die Politik, wo sie gelöst werden“ funktioniert nicht mehr, und das haben wir längst gelernt.
Ein paar Beispiele für Themen, die man langfristig setzen könnte.
Dass gerade Frauen am Land zu oft weniger arbeiten können, als sie wollen, weil die Kinderbetreuung nicht ausgebaut wird? Schon gehört.
Dass unser Bildungs- und Gesundheitssystem viel kostet, aber nur durchschnittliche Ergebnisse bringt? Schon gehört.
Dass wir qualifizierte Zuwanderung brauchen und dringend vom Diskurs über Asyl lösen sollten? Schon gehört.
Dass die hohen Steuern wenig Anreiz für mehr Leistung geben und es Unternehmen schwer machen, die Löhne zu erhöhen? Schon gehört.
Dass wir unsere Klimaziele nicht erreichen werden, wenn wir so weitermachen wie bisher? Schon gehört.
Dass Österreich nach wie vor abhängig von russischem Gas ist und damit den Ukraine-Krieg mitfinanziert? Schon gehört.
Lustigerweise alles Themen, bei denen die ÖVP blockiert.
Nach 37 Jahren in der Regierung ist es natürlich nicht leicht, den Spirit einer frischen Reformpartei zu haben, I get that. Mit dieser Maskerade führte Sebastian Kurz die Partei zu neuen Erfolgen, geblieben ist wenig bis gar nichts – die meisten Gesetze von Türkis-Blau wurden vom VfGH gekippt. Das Einzige, was die Volkspartei jetzt noch davon hat, ist ein verlässliches Minus vor jedem Wahlergebnis, weil der „Kurz-Boost“ wegfällt. (Ähnlich wird es übrigens auch in der Post-Kickl-Zeit sein. Don’t believe the hype.)
Ich will gar nicht klein reden, dass es unabhängig von Parteiperformance wirklich nicht leicht ist, ein Thema langfristig zu halten. Es ist nicht falsch, dass Bürger etwas Neues hören wollen und müde sind für die Diskurse, die wir in der Vergangenheit geführt haben, auch Medien gieren nach neuem. Aber das liegt eben vor allem daran, dass die großen Visionen ausgelutscht sind, weil sie an Sobotka und Co. scheitern.
Jetzt sind wir jedenfalls wieder „back to black“, und die ÖVP ist wieder eine Partei in acht bis neun Ländern – ich bin mir nicht sicher, ob Wien bei ihr noch zählt – und mit sechs Bünden. Heißt: Der ÖAAB, der Bauernbund und der Wirtschaftsbund streiten sich auf Bundes- und Landesebene intern um Minimalkompromisse, die so unambitioniert sind, dass jeder Koalitionspartner mit kann, weil es eh nur um homöopathische Veränderungen geht. Große Anliegen gibt es keine mehr.
Darum fällt es der ÖVP auch so schwer, Themen zu setzen.
Wenn sich der Bereich des Möglichen darauf beschränkt, wer welchen Gutschein oder Bonus bekommt, wenn der eigene Horizont sich auf die Bundesländergrenze beschränkt, wenn da niemand mehr da ist, der so etwas wie eine Idee formulieren könnte, die nicht schon 100-mal abgesagt wurde, dann gibt eine Partei eben ihre Möglichkeit auf, etwas zu verändern. Der ÖVP ist das längst passiert. Sie weiß es nur noch nicht.
Aber grundsätzlich ginge es ja, die Themen liegen am Tisch. Und nur, weil wir schon viele Jahre über die selben Politikbereiche reden, heißt das nicht, dass man nichts damit gewinnen könnte, sie zu verbessern.
Man stelle sich vor, die ÖVP würde mit den Grünen noch ein Klimaschutzgesetz auf den Weg bringen, Verbesserungen im Bereich der Informationsfreiheit, eine Senkung der Steuern auf Arbeit, oder gar eine Pensionsreform. Letzteres mag in Wahljahren unpopulär sein – mutig wäre es allemal. Auch die Volkspartei hätte viel zu gewinnen, wenn sie imstande wäre, Dinge umzusetzen.
Wolfgang Sobotka hat also recht, wenn er meint, dass man in Österreich alles schon gehört habe. Was er nicht versteht: Diese Themen sind jahrzehntelang genau wegen seiner Partei unverändert. Und er hätte selbst daran arbeiten können, das zu ändern.
Wenn die ÖVP also ein Thema setzen will, hat sie es eigentlich ganz einfach: Sie müsste nur die To-Do-Liste abarbeiten, die sie in ihren letzten Regierungsbeteiligungen verschlafen hat. Dass das im Spätherbst der Legislaturperiode noch passiert, dazu fehlt mir der Glaube. Aber angesichts dieses historischen Hintergrunds braucht sich Sobotka wirklich nicht zu beschweren.
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