In Verteidigung des Föderalismus
Die Corona-Pandemie legt Fehler offen - aber die liegen nicht am System
Eine Dauerbrennerdiskussion, die uns über den gesamten Lauf der Pandemie beschäftigt, ist die über den österreichischen Föderalismus. Und sie wird gerade jetzt wieder laut, weil manche Bundesländer gerade komplett an die Wand fahren.
Darunter ist auch meine alte Heimat Salzburg, in der kein einziges Intensivbett mehr frei ist. Und Oberösterreich, das als Bundesland allein regelmäßig Rekorde bricht.
Grundsätzliches zum Föderalismus
Bevor wir wieder über die Pandemie reden: Generell bezeichnet Föderalismus die Idee, dass Entscheidungen dort getroffen werden, wo sie gelten.
Das mag für uns Österreicher:innen logisch klingen, weil wir eben schon immer so organisiert waren, aber es gibt auch Staaten, in denen Zentralismus die Alternative ist. Frankreich hat z. B. einen starken Zentralstaat, Deutschland wiederum starke Bundesländer mit eigenen Ministerpräsidenten (bei uns Landeshauptleute).
Das ist erstmal sinnvoll, weil man ab einer gewissen Größe nicht mehr alle wichtigen Informationen überblicken kann. Ich finde es gut, dass Dinge wie der Bau eines Spielplatzes oder ein neuer Zebrastreifen auf der kleinsten Ebene, in den Gemeinden bzw. Bezirken entschieden werden. Die meisten werden da zustimmen und sich eher über die als unnötig empfundene Komplexität des österreichischen Systems aufregen. (Etwas, das man übrigens bald als sehr kunstvolles Poster bestellen kann.)
Und bei vielen politischen Anliegen verstehe ich auch, dass es das Land braucht - wenn nur Wiener über die Salzburger Verkehrspolitik reden, werden sie eher nicht die Lebensrealität derer im Kopf haben, die aufs Auto angewiesen sind, obwohl sie in einer “Stadt” leben. (Tun wir kurz so, als hätte Österreich mehr als eine Stadt.)
Die Vorteile sind für mich relativ klar: Zentralismus hat historisch schon keinen besonders guten Ruf (nicht nur durch den Kommunismus), sondern es liegt auch auf der Hand, dass man vor Ort besser entscheiden kann und Arbeitsteilung irgendwie sinnvoll ist. Trotzdem wird jetzt oft so getan, als müsste man den Föderalismus an sich abschaffen, nur weil manche Bundesländer gerade, nun ja … Probleme haben.
Das Salzburger Beispiel
Der offensichtliche Nachteil des Föderalismus ist nämlich wiederum, dass Länder falsche Entscheidungen treffen können. Und momentan wirkt es von außen so, dass manche Bundesländer die Abwägung zwischen “Wirtschaft öffnen” und “Menschen schützen” falsch getroffen haben. Das ist kein Salzburger Phänomen, das haben wir letzten Winter genauso gut in Tirol beobachten können und es geht mir nicht darum, andere Bundesländer hier schlecht dastehen zu lassen.
Aktuell polarisiert das Zitat des Salzburger Landeshauptmanns Wilfried Haslauer, das nach der (vorerst ergebnislosen) Krisensitzung mit dem Bund gefallen ist:
Da muss ich jetzt kurz mit einem Klischee zu mir brechen: Haslauer ist einer der wenigen ÖVP-Spitzenpolitiker:innen, die ich durchaus für kompetent halte.
Als ich 2013 in Salzburg das erste Mal gewählt habe, war es noch ein rotes Land mit einer roten Hauptstadt. Seitdem hat sich das beides in Richtung Schwarz gedreht - und so gerne ich die ÖVP im Bund auch in diesem Newsletter kritisiere, in Salzburg habe ich nicht den Eindruck, dass das geschadet hat. Aber ich bin auch weit weg.
Wilfried Haslauers Zitat ist natürlich sachlich Blödsinn. Niemand will Menschen einsperren. Niemand will Lockdowns. Wir alle sind uns einig, dass diese Pandemie gerne sofort aufhören darf, aber rund 40 % der Gesellschaft halten den Rest von uns als Geiseln und sorgen dafür, dass die Krankenhäuser und Intensivstationen sich füllen. Das weiß Haslauer - aber als Politiker in einer Spitzenposition muss er sich überlegen, wie und mit wem er spricht.
Und er spricht nun mal auch für die 40 % der Salzburger:innen, die nicht geimpft sind. Oder die vielen Geimpften, die nicht einsehen, dass sie sich jetzt wieder einschränken müssen. Er spricht für alle, denen diese Pandemie schon am Oasch geht und die nicht einsehen, dass der Unterschied zwischen 61,2 % und 64,1 % Geimpften einen regionalen Lockdown rechtfertigt, der noch dazu von Wien aus verordnet wird. So falsch die Aussage auch ist - ich glaube nicht, dass sie ihm politisch wirklich schadet.
Das mag komisch aussehen, wenn man von Wien aus zusieht, wo wir seit fast einem Jahr ein flächendeckendes, einfaches Gurgeltest-System haben, während man in Salzburg oft noch immer keine bekommt. Genauso, wie es eben befremdlich ist, von der Öffi-Hauptstadt Wien nach Salzburg zu kommen, wo die Busse in Stoßzeiten alle zehn Minuten kommen, was in Wien eine Katastrophe wäre. Aber die Realität in Salzburg sieht eben anders aus, und nicht jeder kann von heute auf morgen auf ein Elektro-Auto umsteigen. (Auch, wenn ich der erste wäre, der das befürworten würde.)
Ich finde jedenfalls, dass das keine Schwäche des Föderalismus ist. Sondern eine Stärke.
Wie Föderalismus positiv wirkt
Man sagt ja (gerne auch despektierlich), dass jedes Land die Regierung kriegt, die sie verdient. Und Salzburger wollen nun mal einen wie Haslauer. Das hat sachliche Gründe, das hat persönliche Gründe und manchmal vergreift er sich auch im Ton, ohne direkt alle Wähler:innen zu verlieren. Aber aus einem kantigen Spruch eines Politikers eine Grundsatzdebatte zum Föderalismus aufzumachen, halte ich für überzogen.
Es gibt nämlich auch Positivbeispiele für den Föderalismus. You guessed it: Wien again.
Die Wiener Landesregierung ist seit Beginn der Pandemie der einzige politische Akteur, der sich hinstellt und das Richtige tut, egal, ob es populär ist. Wenn bundesweit Maßnahmen beschlossen werden, die es nicht durch die Inhaltskontrolle der Tiroler:innen und Oberösterreicher:innen geschafft haben, geht Wien einen Schritt weiter. Hier gilt 2G schon länger, der “Freizeit-Lockdown” ist eine Wiener Erfindung. Hier wurden im Sommer nicht alle Maßnahmen aufgehoben, sondern ein paar lästige wurden behalten.
Kurz: Die Wiener:innen profitieren vom Föderalismus, der sie vor den zu schwachen Entscheidungen einer zögerlichen Bundesregierung schützt.
Und das mag jetzt einfach nur klingen als wäre ich ein Wien-Fanboy, aber es geht mir um etwas ganz Grundsätzliches: Föderalismus ermöglicht erst, dass solche Entscheidungen auf der richtigen Ebene getroffen werden können. Wien muss reagieren, weil es die einzige Millionenstadt mit U-Bahn ist und solche sehr schnell zum Epizentrum einer Pandemie werden können - und dass wir föderalistisch organisiert sind, erlaubt es uns, mit einer Landesregierung entsprechend zu reagieren.
Die Alternative wäre, dass eine Bundesregierung - in österreichischer Tradition nach Bundesländer-Proporz besetzt - sich auf einen schwachen Kompromiss einigt, von dem am Ende niemand so wirklich profitiert. Dann retten wir die Skisaison in Salzburg und Tirol nicht wirklich, aber schützen auch die Pflegeheime in der Steiermark nicht wirklich, und die Wiener:innen sind dann auch nicht wirklich besser dran. Das ist nicht die Art von Land, in der ich leben will.
Es liegt nicht am System
Das heißt übrigens nicht, dass es gar keinen Diskussionsbedarf gibt. Wir könnten längst über die angebliche “Länderkammer” reden - den Bundesrat, dessen einzig möglicher Spielraum es ist, Gesetze im Nationalrat zu verzögern. Es leuchtet auch ein, dass es keine neun Jugendschutzgesetze braucht. Aber dass Entscheidungen vor Ort getroffen werden und auf regionale Unterschiede Rücksicht nehmen, das halte ich für richtig und wichtig.
Und dass es in der Corona-Krise eine bessere Abstimmung braucht, liegt auch auf der Hand. Wobei ich das eher darauf zurückführen würde, dass nach einem Jahr “Alles Gurgelt” kein ÖVP-geführtes Land zugeben will, dass das rote Wien es von Anfang an richtig gemacht hat. Da dürften Parteiinteressen genauso mitspielen wie Landesinteressen - wobei die Bundesländer ja immer den Spielraum haben, strenger zu sein als die Bundesregierung.
Insofern plädiere ich dafür, dass wir die politischen Fehler einzelner Politiker:innen nicht zu grundsätzlichen Fehlern des österreichischen Systems aufblasen. Corona mag einige Negativbeispiele geliefert haben, die man diskutieren kann - aber ein zentralistisches Österreich hätte es wohl kaum besser hinbekommen.
Schönes Wochenende