„Inhalte überwinden“ - die österreichische Prämisse
3 Gründe, warum es sich in Österreich nicht lohnt, echte Lösungen zu diskutieren
Ich freue mich, euch mitteilen zu können, dass ich mich in letzter Zeit wieder etwas radikalisiere. Und ja, ich glaube, dass das nicht unbedingt eine schlechte Nachricht ist.
Um das zu erklären, muss ich mit einer Aussage einsteigen, die vielleicht lächerlich klingt: Politik ist ein zermürbendes Geschäft. Vielleicht lächerlich, weil ich wirklich noch nicht lange bei NEOS arbeite und dementsprechend nur kurz Zeit hatte, zynisch zu werden. Aber mir sind politische Themen einfach wichtig – und jeden Tag „von innen“ mitzubekommen, wie schlecht die österreichische politische Debatte geworden ist, fühlt sich doch nochmal schlechter an als das Beobachten und Raunzen von außen.
Eine Front, an der sich diese Debatte täglich abspielt, ist die Kommentarspalte.
Im Kampf um die Meinungshoheit und das tägliche Agenda Setting kommt man an sozialen Medien einfach nicht vorbei. Darum bewerbe ich Materie-Artikel zu wichtigen Themen auch auf Facebook, obwohl ich selbst mal geschrieben habe: Das F in Facebook steht für FPÖ. Aber ich bin überzeugt, dass man auch den Austausch mit denen suchen, die ganz weit weg von einem stehen, wenn man was verändern will.
Während ich diesen Text schreibe, bewerben wir etwa eine lesenswerte Materie zum Thema Vermögenssteuern. Lukas Leys hat dabei die vielen praktischen Probleme einer solchen neuen Steuer abgearbeitet: Der Bürokratieaufwand wäre nicht nur aus Gründen der Privatsphäre bedenklich, sondern würde auch mehr kosten, als die Steuer eigentlich einbringt. Darum wurde sie von vielen Staaten wieder abgeschafft - inklusive Österreich. Es gibt viele offene Fragen und die Berechnungsmodelle, die es für Österreich gibt, sind ziemlich shady.
In den Kommentaren bekommen wir zwar auch viel gutes Feedback. Aber viele fragen sich auch, warum wir das machen. Ob uns die IV oder die Wirtschaftskammer zahlen würde, hat ein Kommentator gefragt – wobei ich nicht glaube, dass die WKO nach meinem Artikel über sie so viel Freude mit uns hätte. Es wird, wahrscheinlich ohne die Argumente zu lesen, einfach das Gegenteil behauptet: Eine Vermögenssteuer wirke (falsch), fast alle Staaten haben sie (falsch), und es gibt kein gutes Argument gegen eine Vermögenssteuer (falsch und nur einen Klick entfernt).
Das wirkt wie verlorene Liebesmüh. Aber dann sehe ich, dass viele diese Texte liken, teilen, teilweise sogar positiv kommentieren und vor allem: Klicken. Das alles ist nicht umsonst – die, die lieber glauben, als sich mit Argumenten zu beschäftigen und so etwas wie einen politischen Diskurs inhaltlich zu führen, sind einfach nur lauter.
Immerhin belohnt unsere öffentliche Debatte die Vereinfachung, die Verkürzung, die Behauptung und die Lüge. Konzepte, Berechnungen, sachliche Argumente werden ignoriert – sie werden seit Haider-Zeiten nicht nachgefragt, sie schaffen es selten bis nie in die Medien, sie gelten als merkwürdiges Nerd-Interesse.
1. Das Versagen der Altparteien
Ich sage bewusst „Altparteien“ und nicht „Großparteien“, weil ÖVP und SPÖ schon lange nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Beide können sich freuen, wenn sie ein Viertel der zur Wahl gehenden Staatsbürger von sich überzeugen können, und beide wundern sich regelmäßig, dass sie keine Wahlen gewinnen, obwohl sie sich nicht ändern. Auch die FPÖ gehört dazu – sie wird zwar von vielen nicht so wahrgenommen, aber auch sie ist alt und ihre Regierungsbeteiligungen waren die schlimmsten.
Fred Sinowatz hatte recht mit seinem Satz über österreichische Politik: „Es ist alles sehr kompliziert“. Und das Problem ist, dass sich die Wahrheit dieses Satzes bis heute nicht geändert hat. Politische Probleme sind einfach komplex – man muss sich nur das zersplitterte Gesundheitssystem, unsere merkwürdigen Zuständigkeiten zwischen Bund und Ländern anschauen. Oder das politische System der EU, aus der immerhin ein Großteil unserer Gesetze kommt. (Was auch oft besser so ist)
Aber da sich die rot-schwarze Koalition jahrelang daran abgearbeitet hat, alles als entweder „zu kompliziert“ zu bezeichnen oder sich gegenseitig die Schuld am Stillstand zu geben, haben Strukturreformen keinen fortschrittlichen Vibe. Sie klingen wie eine Verzögerungstaktik, wie etwas, das im realen Leben keinen Unterschied macht. Mir doch egal, wie sich die Länder, die Ärzte und die ÖGK abstimmen – ich hab keinen Arzt im Ort!
Darum ist es kein Asset mehr, die Komplexität der Realität zu akzeptieren. Die Leute suchen einfache Lösungen. „Preise runter“ klingt besser als langfristige Strukturmaßnahmen zur Senkung der Inflation. Dass Preisbremsen selten eine gute Idee sind und dass es dafür viele gute Gründe gibt, interessiert keinen – warum würden es sonst so viele so laut fordern, wenn es doch offensichtlicher Bullshit wäre?
Ja, why would they. Weil es sich einfach lohnt.
2. Ein kleines Medienversagen
Bei dem Punkt muss ich jetzt sehr vorsichtig sein. Denn momentan versucht auch die ÖVP mal wieder, dieses Narrativ für sich aufzubauen. Dass Journalisten, die völlig zurecht kritisch über sie berichten, „Gesinnungsjournalisten“ wären, denen man nicht trauen dürfe. Gleich vorweg: Das ist nicht mein Argument, und es ist eine sehr offensichtliche Finte einer Partei, der einfach gar nichts mehr einfällt.
Trotzdem muss man Medienkritik zulassen, wo sie zutreffend ist. Und ich glaube, dass die österreichische Medienlandschaft ein inhaltliches Problem hat.
Denn viele der Themen, die in der Tagespolitik aufkommen, werden zuerst mal auf politischer Ebene eingeordnet. Warum fordert Politiker X das? Wie wirkt sich das auf Partei Y aus? Und was bedeutet das für eine Wahl, die in etwas mehr als einem Jahr stattfindet? Die inhaltliche Einordnung bekommt im Vergleich dazu zu wenig Raum.
Wie oft haben wir gehört, dass die Neutralität beliebt ist und man sich Feinde machen würde, wenn man sie in Frage stellt? Und zum Vergleich: Wie oft haben wir eine ernsthafte sicherheitspolitische Debatte bekommen, die Vor- und Nachteile der Neutralität und ihrer Alternativen prüft?
Wie schaut es mit unserer Wissenschaftsfeindlichkeit aus? Warum brauchen wir Schweizer Medien, um uns zu erklären, dass Atomkraft aus gutem Grund ein Comeback feiert? Warum lese ich zuerst, dass Gentechnik unbeliebt ist, statt die sehr guten Argumente für fortschrittliche Technologien mitzubekommen?
Wie oft habt ihr in den letzten Monaten taktische Artikel darüber gelesen, wie sich die SPÖ positioniert, um Wahlen zu gewinnen? Und wie schaut das im Vergleich aus mit Artikeln darüber, dass Ideen wie Vermögenssteuern, Mietpreisbremsen und eine Arbeitszeitverkürzung mitten in einem Arbeitskräftemangel einfach nicht funktionieren würden?
Wenn sich Medien auf Taktik, Strategie und „Politik-Politik“ versteifen, leidet der inhaltliche Diskurs. Wir sollten zuerst wissen, was die Argumente sind, und erst dann, was unsere Politiker dazu sagen – warum sie das sagen, ist ein interessantes Add-On, aber nicht die eigentliche Geschichte. Außer wir sehen Politik als Schauspielaufgabe. Aber das wäre doch ein sehr pessimistisches Demokratieverständnis.
Daran sind natürlich nicht nur die Medien schuld. Das sind sie selten. Wenn die Politik hauptsächlich auf einer emotionalen Ebene kommuniziert, die mit catchy Überschriften und einfachen Lösungen arbeitet, hat man als Journalist eben wenig Inhalt, um damit zu arbeiten.
Jetzt könnte man den Ball zur Politik spielen und sagen: Soll sie doch machen! Soll sich doch mal jemand hinstellen und sagen, was ist! Das Blöde ist eben: Es interessiert niemanden. Medien halten dir kein Mikrofon hin, wenn es um Reformvorschläge geht, aber sie fragen proaktiv nach, was man von Transgender-Themen und dem letzten innenpolitischen Sager hält.
Daher glaube ich auch, dass die Medien da eine gewisse Verantwortung haben, diese Inhalte einzufordern – oder diese Inhaltslosigkeit, diese Beliebigkeit, diesen Populismus auffliegen zu lassen.
3. Die FPÖ macht es auch nicht anders
Aber nehmen wir mal an, ich bin da unfair gegenüber den Medien und es ist gar nicht so kompliziert, wie ich tue. Dann sollen sich die Politiker doch einfach hinstellen und sagen, wie es ist, ein mutiges Konzept vorlegen und zack, umsetzen.
Ein Problem dabei ist, dass jeder weiß: Die FPÖ wird das auf keinen Fall zulassen.
Weil anders als andere Parteien sind die Freiheitlichen eine Fundamentalopposition. Egal, was die Regierung sagt, sie wird nicht nur im Parlament dagegen stimmen, sondern auch mit Sprüchen, Reimen, Shareables und Bierzeltreden alles tun, um möglichst schlecht zu machen, was ihre Konkurrenz tut. Verweise auf Ausländer und Corona inklusive.
Als seriöse Partei fühlt man sich da wie der Qualitäts-Biobauer, der mit dem importierten Billigsdorfer-Tierleidschnitzel im Supermarkt konkurrieren muss. Den Leuten ist völlig egal, was „besser“ ist – die Leute kaufen das billigere. Im Fall der FPÖ, weil sie es einfach verstehen: Es sind Zwei-Wort-Lösungen, die zwar nichts lösen würden, aber zumindest verständlich klingen: „Ausländer raus. Festung Europa. Nicht geimpft.“
Und diese Zwei-Wort-Lösungen werden gedruckt. Der Boulevard berichtet über sie, weil sie polarisieren, und die Qualitätsmedien setzen sich mit ihnen auseinander. Während andere Parteien mit ihren Vorschlägen selten mediale Resonanz bekommen, wird bei der FPÖ kryptisch überlegt: Was könnte er damit meinen? Wie könnte das in der Praxis ausschauen?
Man stelle sich vor, statt immer nur die Anti-Ausländer und Anti-EU-Rhetorik zu übernehmen, würden wir im gleichen Ausmaß über sinnvolle Dinge diskutieren. Wo ist die Profil-Sonderausgabe zur umstrittenen Idee der Schulautonomie? Wann war das letzte „Im Zentrum“ zur Frage der Gerechtigkeit im Steuersystem? Wie oft rechnen wir durch, wie viel uns Migration bringt, und wie oft rechnen wir bei den Pensionen nach?
Dieses Spannungsfeld zwischen Populismus und Qualität betrifft übrigens auch mich persönlich. Ich weiß, dass ich mit Materie durchaus populistischer sein könnte – aber anders als die Wähler der FPÖ haben NEOS-Wähler eine intellektuelle Schmerzgrenze, die man nicht überschreiten darf. Bei uns ist wichtig, dass die Argumente stimmen, und wir würden ernsthafte Kritik bekommen, wenn wir uns nicht an einen gewissen Qualitätsstandard halten. Unzensuriert, FPÖ TV und die zahlreichen anderen FPÖ-Parteimedien müssen sich nicht daran halten.
Fazit: Die Spielregeln belohnen keine Inhalte
Ich fasse also zusammen: Eine Mischung aus dem Versagen der Großparteien, dem allgegenwärtigen Populismus der FPÖ und Medienversagen sorgt dafür, dass sich inhaltliche Vorstöße nicht lohnen. Nehmen wir als Beispiel dafür einen Politiker, der nicht automatisch ein Mikrofon bekommt. Statt Karl Nehammer nehmen wir also, sagen wir, Martin Polaschek.
Für alle, die nicht sehr tief in der Bubble sind und Expertenwissen haben: Das ist unser Bildungsminister. (Könnte man wissen, wenn er ab und zu aktiv werden würde.) Wenn dieser sich selbst neu erfinden und mutige Zukunftsansagen bringen will, die evidenzbasiert sind und auch den ein oder anderen Wähler verstoßen würden – er würde genau wissen, was passiert:
Viele Medien würde es gar nicht interessieren – er bekommt nicht das gleiche Mikrofon, das Nehammer für Aussagen wie „Kein Geld für die EU“ bekommt. Wenn es inhaltsstark ist, ist es einfach weniger interessant.
Andere würden es nur taktisch einordnen. Warum macht Polaschek das? Braucht er einen Befreiungsschlag? Und wer aus der ÖVP könnte den Bildungsbereich übernehmen, wenn das nicht aufgeht? Zumal die Regierung ja einen Steirer braucht – nur deswegen wurde er überhaupt Minister.
Die FPÖ würde sich garantiert nicht an die Spielregeln halten. Mit depperten, aber schön gereimten Inhalten würde sie so tun, als wäre der inhaltliche Vorschlag ein Volksverrat. Tausende Shares und Gewaltdrohungen in Telegram-Gruppen würden dagegen mobilisieren.
Es liegt also nicht nur daran, dass die Politiker der Altparteien keine Ideen mehr haben. Selbst wenn wir inhaltsstark wären – solange andere Parteien, Medien und nicht zuletzt die Bürger mitziehen, kann das nicht wahnsinnig viel verändern.
Darum ist es eben so wichtig, über Politik zu reden. Ich mache das mit Texten, aber eigentlich zählt jedes einzelne Gespräch. Wenn wir bei uns selbst die inhaltliche Kompetenz aufbauen und sie dann mit anderen teilen und von der Politik einfordern, kann sich „bottom up“ etwas ändern.
Und das ist eben auch der Grund, warum ich mich gerade wieder ein bisschen radikalisiere. Denn je schwieriger es ist, mit den richtigen Lösungen durchzukommen, desto mehr Aufwand muss man eben reinstecken. Ich versuche, nicht müde zu werden und suche weiterhin einen Weg, zu überzeugen, ohne den Fokus auf die Inhalte zu verlieren.
Im Sinne von Michelle Obama: If they go low, we go high.
Noch mehr Lesestoff
💸 Wenn ihr euch dafür interessiert, was wir eigentlich zur Vermögenssteuer schreiben: Alle unsere Inhalte dazu gibt es hier. Auch, wenn sich viele Leute darüber aufgeregt haben, dass wir diese Steuer thematisieren, habe ich noch kein gutes Gegenargument gehört.
🍗 Könnt ihr euch noch an das Chlorhendl erinnern? Das war eine beliebte Warnung von Freihandels-Gegnern, als es um das Abkommen zwischen der EU und Kanada ging. Mittlerweile ist CETA in Kraft – und erstaunlicherweise scheint die Welt nicht schlechter geworden zu sein. Meine Abrechnung mit Freihandels-Mythen lest ihr in der Materie.
🐶 Und sorry, wenn ich jetzt schon zum dritten Mal auf Materie-Texte verweise, aber der hier ist wirklich super: Fari Ramic, der eigentlich hauptsächlich mit Korruption und U-Ausschuss-Themen zu tun hat, hat den womöglich bisher nischigsten Text auf materie.at geschrieben: „Wie liberal ist Paw Patrol?“
Stuff aus dem Internet
Ein Fun Fact aus Deutschland.
Wenn die Deutschen gefragt werden, ob die AfD eine Gefahr für die Demokratie ist, sagen sogar 10 % ihrer eigenen Leute Ja. Für die ist das wohl keine Drohung, sondern das offen ausgesprochene Konzept. Mich würde interessieren, wie viele offene Antidemokraten sich zu diesen Tendenzen in der FPÖ bekennen.