Als das Internet zum Real Life wurde
Wenn sie mit Waffen das Kapitol stürmen, sehen wir endlich, wie echt sie sind
Als Gamer, der mit und im Internet aufwächst, stößt man oft auf eine falsche Dichotomie: Die zwischen “online” und dem “real life”. Untereinander spricht man über Dinge, die IRL (in real life) passiert sind, als wäre das, was wir auf TeamSpeak und Discord besprochen und in Spielen wie League of Legends erlebt haben, nicht Teil dieses Lebens. Das haben wir wahrscheinlich von unseren Eltern übernommen, die meinten, wir sollten “etwas Echtes” machen, mit Menschen, und eben nicht vor dem PC sitzen.
Ich glaube nicht, dass mir meine Kindheit mit PlayStation und PC geschadet hat. Es gibt zahlreiche Studien, die auch die positiven Seiten von Videospielen betonen. Hand-Augen-Koordination, Problemlösungskompetenz, Intuition in neuen Situationen und allgemeine Technik-Kompetenz fallen mir da schnell als Benefits ein, die ich davon mitbekommen habe. Aber vor allem geht es um das Verständnis dafür, was “im Internet” abgeht. Denn anders als viele sehe ich das Internet nicht als abgekoppelt vom Real Life. Und so ziemlich alles, was gerade in der Welt passiert, fühlt sich wie ein monatelanger Told-you-so-Moment an.
In den USA haben also Leute das Kapitol gestürmt. Ich schreibe “Leute”, weil die Diskussion noch relativ jung ist und man noch darüber diskutiert, wie man sie bezeichnen soll. Für mich wäre relativ eindeutig, dass ein bewaffneter Versuch, die gewählten Gesetzgeber an der Bestätigung einer demokratischen Wahl zu verhindern locker als Faschismus oder Terrorismus gelten kann - aber anscheinend ist das ein kontroverses Statement.
Viele Leute wirkten überrascht über die plötzliche Gewaltbereitschaft. Und ich kann es ihnen nicht verdenken, denn die Ausgangslage sah ja an und für sich eindeutig aus: Joe Biden hat mit vielen Millionen Stimmen Vorsprung nicht nur den Popular Vote, sondern auch das Electoral College gewonnen, und ist dadurch deutlich zum US-Präsidenten gewählt worden. Alle Versuche von Trump-Gegnern, Wahlbetrug zu beweisen, sind gescheitert. Und zuletzt blamierte sich der scheidende Präsident auch damit, explizit danach zu fragen, wie man denn diese 11.000 Stimmen finden könne, die ihm in Georgia gefehlt hätten:
Die naheliegende Frage ist also: Woher kommt diese Gewalt?
Als jemand, der mit dem Internet groß geworden ist und es regelmäßig gegen unnötige Angriffe von digital immigrants verteidigt, kann man es nicht leugnen: Ein Mob wie dieser wäre nicht möglich gewesen, gäbe es kein Facebook, kein YouTube, kein QAnon und keine Neonazi-Foren. Und es ist nur das jüngste Beispiel: Aus der gleichen Ecke kommen jene, die das Coronavirus für einen Mythos halten, sich nicht impfen lassen werden und die Wirkung von Masken leugnen. Sie alle kommen aus der Parallelwelt der Rechten, die über ein Jahrzehnt lang aufgebaut wurde.
Die (r)echte Radikalisierung
Auch das ist wieder so eine Geschichte, zu der man als Gamer ein bisschen mehr Kontext hat. Und jetzt meine ich wirklich einen Klischee-Gamer wie mich, als jungen, weißen Mann im Westen. Denn die Leute, die Trump wählen, Corona leugnen und mit Waffen gegen die Demokratie kämpfen, sind eben oft genau das: Weiße Männer, die sich im Internet radikalisiert haben.
Irgendwann gegen Anfang der 10er-Jahre ist es unglaublich vielen jungen Männern passiert, dass YouTube ihnen plötzlich andere Dinge vorgeschlagen hat. Obwohl wir nur Gaming- und Comedy-Content mochten, wurden uns Accounts vorgeschlagen, die explizit politisch waren. Und deren Meinungen sicher nicht rechtsextrem, aber zumindest “conservative” waren - im US-Kontext, versteht sich. Von da an geht es schnell und man fällt in ein Rabbit Hole, aus dem man nicht leicht rauskommt.
Da müssen wir aber kurz drüberskippen.
Das alles ist eine furchtbar kurze Zusammenfassung eines Trends, der mit Algorithmen, US-Innenpolitik, Strategien rechter Populisten und weiteren 100 Themen zu tun hat - aber wenn ihr euch für das Thema interessiert, hört euch den Podcast Rabbit Hole an oder schaut die YouTube-Videos von AltRightPlaybook, besonders dieses hier.
Man kann nicht schnell abhandeln, wie sich junge Menschen im Internet radikalisieren, weil es ein riesiges Thema ist, das unglaublich viele Facetten hat. Insofern will ich das hiermit abkürzen, aber ich werde weiterhin darüber schreiben und bin auch für Kommentare dazu jederzeit offen.
Jedenfalls ist daraus schnell eine rechte Parallelwelt geworden. Wer sich Mitte der 10er-Jahre für Politik interessierte und nicht dezidiert links war, konnte sich sehr leicht informieren, ohne je auf echte Medien angewiesen zu sein. Das Spektrum zwischen konservativen Influencern wie Ben Shapiro und Jordan Peterson und Fake-News-Seiten wie Breitbart oder InfoWars deckte alles ab, was man wollte - und lieferte einem gleich die Argumente mit, die man für den politischen Diskurs braucht. Dass Donald Trump gewählt wurde, liegt sicher auch daran, dass ein großer Teil seiner Fans keine Medien mehr konsumiert, ihnen nicht mehr glaubt und ausschließlich durch Falschinformation und Spins die Welt versteht. Und das ist nicht das einzige Beispiel:
Der Brexit trifft England, Schottland, Wales und Nordirland - obwohl es vor allem Engländer waren, die ihn wollten. Diese wurden unter anderem durch Fake News spezifisch getargetet, damit sie für den Austritt stimmen. Viele sehen mittlerweile ein, dass sie gegen ihre eigenen Interessen gestimmt haben. Aber es ist zu spät.
In der Ukraine arbeiten die Russen seit Jahren daran, die Faktenlage und das Vertrauen in die Demokratie und Institutionen zu untermauern. Das führt dazu, dass in “umstrittenen” Grenzregionen Menschen teilweise nicht wissen, zu welchem Staat das Gebiet gehört, in dem sie leben, und wer die Soldaten sind, die gerade angreifen. (Quelle und Buchempfehlung dazu: This is NOT Propaganda)
Und natürlich das offensichtlichste Beispiel unserer Zeit: Viele Menschen aus der digitalen Parallelwelt der Rechten wollten lange nicht an das Coronavirus glauben - und lernten es auf die harte Tour, indem sie auf der Intensivstation sterben mussten.
Und obwohl sich das alles vor den Augen der Weltöffentlichkeit abspielte, galt immer noch das gleiche Stigma, mit dem “Online sein” generell immer bezeichnet wurde: Das ist doch nicht das Real Life.
Das Internet ist längst IRL
Mittlerweile zeigt sich mehr als deutlich: Das Internet ist genauso das echte Leben wie alles, was offline stattfindet. Nicht nur, dass Medien mittlerweile ganz einfach durch digitale Kanäle ersetzbar sind und die eigene Sicht auf die Welt grundsätzlich biased sein kann - die Bubble, die man sich online aufbaut, geht auch in die Offline-Welt über. Die klassischen Trump-Supporter sind nicht nur junge, weiße Männer mit Gamer-Hintergrund, sondern auch alte Menschen, die ihr Handy gerade gut genug bedienen können, um auf Facebook keine Quellen zu checken. Und quer über alle Altersgruppen erweitert sich der Kreis jener, die sich durch ihre Online-Leben entschieden haben, diese früher klar abgegrenzte “echte Welt” einfach abzulehnen.
Das Problem ist, dass die echte Welt existiert. Sie ist nicht vom Internet abgetrennt, aber sie existiert unabhängig von Alternativrealitäten, die dort ihren Ursprung finden. Joe Biden hat die Wahl gewonnen und die USA sind ein Land, das trotz bester Ausgangsbedingungen brutal vom Coronavirus getroffen wurde. Das sind Fakten, die sich nicht ändern, nur weil ein großer Teil der Gesellschaft nicht mehr an sie glaubt. Genauso wenig, wie sich dadurch ein Wahlergebnis ändert. Facts don’t care about your feelings.
Wenn uns die Geschichten, die uns aktuell in den Medien begleiten, irgendetwas zeigen sollten, dann eines: Das Internet ist sehr wohl das Real Life. Und auch die letzten sollten jetzt langsam aufhören, so zu tun, als wäre Zeit, die man online verbringt, losgelöst vom echten Leben. Für manche ist es realer als alles, was in der Welt rund um sie passiert. Und wir sehen jetzt auch die negativen Konsequenzen, die das haben kann.