Am Sonntag waren in Österreich alle Augen auf Tirol gerichtet. Eine an und für sich uninteressante Wahl, Landtagswahlen in “ÖVP-Bundesländern” führen selten zu Überraschungen. Aber es ging immerhin auch um das weitere Schicksal der Volkspartei und um einen interessanten Einblick dazu, wie sie durch eine Mischung aus Korruptionsskandalen, Politikverdrossenheit und Reaktion auf die aktuellen Krisen abstürzt.
Währenddessen fand aber noch eine ganz andere Wahl statt, die für die Zukunft Europas viel wichtiger war - und auch einen Kontext zur Volkspartei hat. Denn in Italien wurde gewählt.
Italien wird in Zukunft von einer rechten Koalition regiert.
Mit über 25 % der Stimmen gewinnt die postfaschistische Partei Fratelli d’Italia, die Wurzeln in der faschistischen Bewegung von Benito Mussolini hat, die Wahl in einem Land, das jedes Mal wieder umschwenkt. Wenn man von “italienischen Verhältnissen” spricht, meint man wechselnde Mehrheiten, ein zersplittertes Parteiensystem und ein generell unregierbares politisches System.
Die Kurzfassung dazu: Bei der letzten Wahl gewann das Movimento 5 Stelle - die “Fünf-Sterne-Bewegung” - mit hohem Abstand. Eine neue Bürgerbewegung, die von einem Komiker gegründet wurde, versprach, mit dem bestehenden System aufzuräumen. Im Endeffekt konnte auch die Koalition zwischen M5S und der rechtspopulistischen Lega in Italiens schwer reformierbarem politischen System nicht den Ansprüchen gerecht werden. Das Land leidet seit den 90ern unter wirtschaftlicher Stagnation, Korruption prägt das Land quasi seit seiner Geburt.
Gerade das Beispiel Italien zeigt deutlich, was passieren kann, wenn einem Staat die konservative Partei verloren geht.
Was hat das jetzt mit der ÖVP zu tun? Ein kurzer geschichtlicher Exkurs: Ihr italienisches Äquivalent, die Democrazia Cristiana (DC), war bis 1993 die wichtigste Partei des Landes und stellte in 45 Legislaturperioden den Ministerpräsidenten.
Dann kam der Tangentopoli-Skandal. So bezeichnete der Staatsanwalt Antonio Di Pietro die Stadt Mailand, die im Zentrum von Korruptionsskandalen stand, die Italiens traditionelle Parteien erschütterten. Korruption, Machtmissbrauch, illegale Parteienfinanzierung - Vorwürfe wie diese, die einem in Österreich leicht bekannt vorkommen können, führten dazu, dass die DC bei der Parlamentswahl zur Kleinpartei wurde, die linke Partito Socialista Italiano verschwand quasi über Nacht.
Aber Halt: Wenn es doch beide Parteien zerlegt hat - "Rote und Schwarze", wie man bei uns sagen würde -, wieso wird dann nur über die DC gesprochen? Die These in der Politikwissenschaft und vieler Beobachter:innen:
Konservative sind extrem wichtig für die Demokratie.
Einer, der diese These hochhält, ist z. B. der Politikwissenschaftler Daniel Ziblatt von der Universität Cambridge. Er schreibt in einer viel beachteten Studie darüber, dass die Stärke einer Demokratie nicht etwa an der Arbeiter:innenbewegung liege, sondern Konservative die bestimmende Größe seien.
Diese These stützt der Forscher auf Beispiele. Deutschland etwa hatte auch im europäischen Vergleich vor dem Nationalsozialismus eine besonders starke Sozialdemokratie. Warum hat das nicht dabei geholfen, Hitler zu verhindern? Grund für den Zerfall der Demokratie ist laut Ziblatt, dass die konservativen Eliten der Versuchung einer Allianz mit Hitler nicht standhalten konnten.
Eine ähnliche Entwicklung kann man den angeblich “moderaten” Republikaner:innen unterstellen, die zwar an und für sich weit weg vom Rechtsextremismus wären, aber auf der Trump-Welle mitschwimmen und sich ihm anbiedern, um Wahlen zu gewinnen. Für Ziblatt ist das die Folge mangelnder organisatorischer Stärke bei den Konservativen - darin sieht er die zweite Gefahr für die Demokratie.
Die Folgen von Tangentopoli
Auch in Italien hatte das Verschwinden der Konservativen Folgen: Als Reaktion auf die Korruptionsermittlungen wurde die Lega Nord zur stärksten Partei im Norden Italiens. In ihrem Wahlkampf machte sie Stimmung gegen die "Diebe in Rom". Auch heute ist die Lega - das "Nord" verschwand 2019 aus dem Namen - unter den stärksten Parteien Italiens und wird Teil der neuen Regierung werden.
Sorge über die Zustände in Italien ist nichts Neues. Immerhin gibt es dort kaum echte Parteien der Mitte. Die Leere, die von den zwei Großparteien hinterlassen wurde, füllte zwar einerseits der Partito Democratico, der alles in allem eine durchschnittliche sozialdemokratische Partei ist. Aber andererseits eben auch Silvio Berlusconis Forza Italia, das linkspopulistische Movimento Cinque Stelle, die rechtspopulistische Lega und die post-faschistischen Fratelli d’Italia. Wer in Italien eine Partei wie die ÖVP, die Grünen oder die NEOS sucht, wird enttäuscht.
Wenn Extreme die Politik dominieren, führt das zu Instabilität. Die Umfragen für Italien führen elf Parteien, nicht einmal die Hälfte wäre für unsere Standards eine Partei der Mitte. Gleichzeitig kämpft das Land mit einem politischen System, das Regieren nur sehr schwer macht - es gibt zwei starke Kammern und einen Präsidenten, es gibt die lokalen Regierungen, es gibt Korruption, es gibt die Mafia.
Das führt uns zum Kernproblem: Das Institutionenvertrauen ist dahin
Eine weitere Folge von Tangentopoli. Denn obwohl sich die Wähler:innen einig waren, den etablierten Parteien keine Chance mehr zu geben, wurden sie in vielen Fällen freigesprochen. Gleichzeitig gab es übrigens über 1.000 Verurteilungen - aber der Eindruck, dass da etwas nicht stimmen kann, lag für viele Italiener:innen nahe.
Während die zentralen Akteure um ihr politisches Überleben kämpften, schlugen sie um sich und versuchten, den Eindruck einer unfairen Rechtsordnung zu zeichnen. Diese Strategie teilt sich Sebastian Kurz mit Silvio Berlusconi - denn der hat schon 2002 (damals schon acht Jahre in der Politik) gesagt:
„Die Mailänder Staatsanwälte missbrauchten die Untersuchungshaft, um aus den Verdächtigen Geständnisse herauszupressen.“
Eine ähnliche Tonalität wird heute von Politiker:innen der ÖVP und FPÖ benutzt, wenn es darum geht, die Justiz zu diskreditieren. Man hört von “roten Netzwerken” und davon, dass Anzeigen nur ein Instrument wären, um politische Gegner:innen zu diskreditieren. Die Ermittlungsbehörden sind wahlweise parteiisch, faul, schlampig, und insgesamt würde das sowieso alles eingestellt. (Letzteres wäre eigentlich ein gutes Argument dafür, dass der Rechtsstaat funktioniert. Warum ihn dann angreifen?)
Neben einer Vielzahl an Parteien, wechselnden Mehrheiten und instabilen Regierungen kommt also noch der Eindruck dazu, das Justizsystem sei unfair, sperre die echten Verbrecher:innen nicht ein und benachteilige genau meine Leute. Kein Wunder, dass Italien kein Vertrauen mehr in die Institutionen hat. Und wie sieht das in Österreich aus?
Wenn man sich ansieht, in wie vielen Korruptionsskandalen die ÖVP gerade versinkt, wie die Umfragewerte aussehen, wie stark die FPÖ davon profitiert und wie viele namhafte Politiker:innen der Volkspartei darauf reagiert haben, kommt man zum Schluss:
Italien ist eine Warnung, wie Österreich werden könnte.
Zum Einen bedeutet das Beispiel Italiens für uns, dass Korruptionsskandale nicht immer bedeuten, dass die handelnden Personen schadlos davonkommen - es ist möglich, das Schicksal der Democrazia Cristiana zu teilen.
Zum Anderen aber lernen wir, dass das keine gute Wendung wäre. Denn auch, wenn es durch die bekannt gewordenen Vorwürfe viele Kritikpunkte an früheren und aktuellen Politiker:innen gibt: Eine anständige, konservative Partei ist wichtig für eine Demokratie.
Für Italien war die Alternative ein zersplittertes Parteiensystem, in dem die Mitte der Gesellschaft kaum vertreten ist. Und ein Staat, den kaum jemand ernsthaft regieren kann. Ein Worst-Practice-Beispiel, das sich Österreich nicht wünschen kann.
Noch mehr Lesestoff
⛑ Ein Thema, das mir schon länger am Herzen liegt, haben wir in der Materifgegriffen. Und zwar die Abhängigkeit des österreichischen Rettungssystems von Zivildienern. Als ich vor neun Jahren nach zwei Monaten Ausbildung in Schwarzach Rettungssanitäter war - oder #Schettungssanitäter - habe ich selbst gemerkt, dass das extrem unverantwortlich ist. Dass mir und ähnlich schnell ausgebildeten Leuten niemand weggestorben ist, war ehrlich gesagt reines Glück. Umso wichtiger wäre, dass wir uns von dieser Abhängigkeit endlich lösen. Mehr darüber hat Steffi Braunisch in der Materie.
🧓 Apropos “Irgendwas mit Jugend und Politik”: Wer passt eigentlich gerade auf die Pensionen auf? Die Alterssicherungskommission, die Gutachten erstellt, wie nachhaltig das Pensionssystem aufgestellt ist, ist schon länger unbesetzt. Ihr letzter Chef, Walter Pöltner, ging vor allem, weil die Pensionen regelmäßig in einem Ausmaß erhöht werden, das wir langfristig nicht finanzieren können. Gerade meine Generation sollte sich doppelt gefrotzelt vorkommen - es kann gut sein, dass genau unsere Jahrgänge wegen der Versäumnisse von heute keine (ausreichende) Pension mehr bekommen. Aus dem Artikel der Presse:
In den vergangenen Jahren wurden im Zuge einer „sozialen Staffelung“ niedrige Pensionen stärker erhöht als höhere. Wie sozial das ist, ist umstritten: Bezieher niedriger Pensionen sind nicht automatisch bedürftig. Viele haben einen verdienenden Partner oder eine Pension aus dem Ausland. Dennoch hat Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) auch für dieses Mal eine solche Staffelung in Aussicht gestellt. Ein Prozentpunkt Pensionserhöhung bedeutet wohlgemerkt Kosten von rund 500 Mio. Euro – pro Jahr. Dabei wendet der Staat allein heuer 23 Mrd. Euro für die Pensionen auf.