Ich mag es, wenn Inhalte aus meinem Powi-Studium in die semi-öffentliche Debatte drängen. „Semi“ ist ein Zusatz für: Auf Twitter. Ja, interessiert keine Person ohne Sucht nach polit-medialem Gossip, aber hey, ich arbeite darin, ihr folgt mir dafür.
Jedenfalls habe ich kürzlich einen Tweet gelesen, der mich zum Nachdenken gebracht hat. Der Comedian Hosea Ratschiller twittert, dass Andi Babler – der dritte Kandidat neben Rendi-Wagner und Hans Peter Doskozil im Führungsstreit der SPÖ – das sogenannte „Overton window“ verschieben würde, also den Rahmen, was sagbar ist und was nicht. Zeit für ein bisschen Powi-Philosophie.
Was ist dieses „Overton Window“ überhaupt?
Das Overton Window ist nach dem Politikwissenschaftler Joseph Overton benannt und beschreibt, vereinfacht gesagt, die „Summe von allem, was sagbar ist“. Aber ich weiß, das auch dass eine technische Erklärung ist, also hol ich kurz aus.
In jedem Land, in jeder Gesellschaft, gibt es eine riesige Anzahl an Meinungen. Und irgendwie werden die immer kategorisiert. In einem Overton Window sind alle Meinungen vertreten, die in der öffentlichen Debatte noch halbwegs ein Leiberl haben. Je weiter in der Mitte des Overton Windows eine Position ist, desto akzeptabler ist sie – der Standpunkt im Zentrum ist quasi Konsens. Worauf niemand überhaupt käme, das liegt außerhalb des Fensters.
Theoretisch könnten wir hunderte, sehr komplexe Modelle entwerfen, für die Erklärung bleiben wir kurz bei Links und Rechts.
Ein kurzes Beispiel zur Erklärung:
Nehmen wir das Overton Window der österreichischen Klimapolitik. Das Overton Window formulieren wir jetzt als Achse zwischen „radikal“, im Sinne von „möglichst viel tun“, und „konservativ“ im Sinne von „möglichst nichts tun“.
Da haben wir – würde ich zumindest behaupten – einen ganz klaren Konsens, dass der Klimawandel existiert und dass etwas dagegen getan werden muss. Das ist eine Meinung, die nicht nur unkonkret, sondern auch mehrheitsfähig und in der Mitte angesiedelt ist.
Rund um diese Mitte bilden sich vereinzelte Standpunkte und Richtungen heraus. Zeichnen wir sie einfach mal rund um die Mitte in das Overton Window ein:
Wie viele Maßnahmen wir also als kleiner Staat umsetzen sollten und welche das sind – alle Meinungen dazu bilden das Overton Window. Aber jetzt haben wir noch nicht die Ränder eingezeichnet. Es gibt immerhin auch Links- und Rechtsextreme, die zwar nicht mehrheitsfähig sind, aber trotzdem auch eine Meinung haben und mit dieser auf ihr Umfeld einwirken. Das könnte dann ungefähr so aussehen:
Die Summe aller Meinungen – von der Radikalsten über die Moderateste bis zur Konservativsten – bildet das Overton Window von Österreich. Die Summe des Sagbaren ist eben auch alles, was wirklich gesagt, vielleicht sogar nur gedacht wird.
Und was hat das mit Andi Babler zu tun?
Nun, die These, die ich auf Twitter aufgeschnappt habe, ist eben Folgende: Andi Babler „verschiebt“ dieses Overton Window. In der Theorie ist es so, dass sich prominente linke Kandidaten darauf auswirken, wie salonfähig linke Standpunkte werden. Was intuitiv zwar richtig ist, aber warte mal … war nicht schon vorher alles in diesem Fenster vorhanden?
Ja, und darum finde ich das „verschieben“ nicht ganz richtig formuliert. Was sich viele Linke von Babler erhoffen, ist, dass jetzt endlich wieder wirklich linke Ideen diskutiert werden. Wenn sich nur jemand findet, der sie formuliert, wird die Gesellschaft sicher mitdiskutieren und eventuell auch nach links rücken.
Das ist eine sehr konstruktivistische Position, die ich aber gut nachvollziehen kann. Es ist der richtige Hintergedanke aller nervigen Konstruktivisten, die frisch von der Uni kommen und zu allem einen „Diskurs“ fordern – also mir! Ich glaube auch, dass der erste Schritt, irgendwas in diesem verkrusteten Land zu ändern, eine g’scheite Debatte ist. Darum blogge ich regelmäßig, darum nerve ich meine Social-Media-Follower mit Politik, darum bin ich bei NEOS, darum mach ich ein Parteimedium. Wenn wir nur endlich die richtigen Themen diskutieren, wenn wir nur endlich die korrekten Lösungen durchsetzen würden, wenn das einmal jeder gehört hätte. Imagine the Potential!
Und gleichzeitig ist das eben auch ein extrem unkonstruktiver Standpunkt. (Nicht zu verwechseln mit unkonstruktivistisch.) Weil um in der Politik etwas umzusetzen, muss man Wahlen gewinnen. Und die, die darauf setzen, einen Diskurs zu starten, Tabus anzusprechen, auf die Lust nach Inhalt zu hoffen und ihre Redlichkeit bewahren wollen – die reißen politisch halt nichts. Weil Herbert Kickl da nicht mitspielt, sondern mit einer Mischung aus Rechtsextremismus, Klischee, Stammtisch-Witz und Kinderbuchreim einfacher zu verdauen ist.
Ich glaube also an die These der Diskursverschiebung, die ur wichtig für unser Land wäre, verstehe aber gleichzeitig voll, dass das quasi das Gegenteil einer „winning strategy“ ist.
Denn wer eine Wahl gewinnen will, muss zuspitzen. Und auch aktiv an einer Illusion arbeiten. Versteht mich nicht falsch, aus persönlicher Büronachbarschaft kann ich belegen, dass Beate Meinl-Reisinger in echt genau gleich ist wie im Fernsehen – aber bei einer Wahl geht es auch darum, einen gewissen Mythos um eine Person zu schaffen.
Strache war der „Vertreter des kleinen Mannes“, Sebastian Kurz ein Symbol für den Aufbruch in eine neue Zeit, Christian Kern hat den Stil eines Managers mit den Inhalten einer an sich verstaubten Sozialdemokratie verbunden. Und wer NEOS wählt, will – nicht nur, aber auch – eine ehrliche, anständige Alternative, die „angmessn angfressn“ auf das System ist. Aber wenn wir ins Detail gehen wollen und zwar auf der einen Seite loben wollen, was richtig gemacht wird, aber gleichzeitig Kritik äußern wollen, weil unsere inhaltlichen Vorschläge noch besser wären und auf der Hand liegen, kommen wir nicht immer durch.
Das ist Politik: Der Diskurs allein regelt eben nicht alles. Und das macht das Overton Window für Liberale auch so schwierig, denn wie heißt es so schön:
Der legitime Platz des Liberalen ist zwischen allen Stühlen.
Liberale bevorzugen Lösungen, die funktionieren. Sie können zwischen Linken und Rechten verbinden, indem sie korrekt ausmachen, was gehen könnte und was nicht. Das ist intellektuell redlich und sorgt auch für gute Ergebnisse – aber es ist einfach verdammt schwer zu kommunizieren.
Die FPÖ tut sich da z.B. leichter. Sie ist gegen alles, was die Regierung tut, und hält sich thematisch mit einem Monopol auf Arschloch-Meinungen über Wasser. NEOS dagegen kritisiert zwar auf der einen Seite die Regierung für die „Gießkanne“, also Geldgeschenke für alle – aber bevor wir die SPÖ bei ihrer Forderung nach einer Mietpreisbremse unterstützen, finden wir treffsichere Hilfen doch besser. Das ist intellektuell redlich. Aber es dauert ungefähr 10x so lange, das zu kommunizieren.
Eben auch, weil der Platz des Liberalen auch im Overton Window „zwischen allen Stühlen“ ist. Linksradikale sind am einen Ende, Rechtsradikale am anderen. Und dort, wo die meisten gerade abhängen, ist die ÖVP auf der Suche nach besseren Umfragewerten nie weit. Aber wir sind mal dort, mal dort. Ein guter Vorschlag, der als „links“ gilt, könnte bei NEOS trotz diesem Label angenommen werden, genauso wie positive Anliegen von rechts.
Auch wir haben unsere Erfolge im Diskurs.
Das Overton Window ist ja nur eine Theorie, die ein paar Leute am NIG und auf Twitter interessiert. Und welche Skala man dafür verwendet, ist eigentlich auch willkürlich. Aber faktisch ist viel wichtiger, was sich im echten Leben verändert.
Als Liberaler muss man eben auch dafür kämpfen, dass die Basics sich durchsetzen. Oder besser gesagt: Wieder durchsetzen. Menschenrechte, Grundfreiheiten, liberale Demokratie und Marktwirtschaft – unser ganzer Wohlstand, unser Leben baut darauf auf, und ist trotzdem in Gefahr, sobald sich die Grenzen des Sagbaren zu sehr in Richtung eines Extrems bewegen. Wir mögen zwar in einer Mitte des Overton Windows abhängen, die schwer einzuzeichnen ist. Aber trotzdem müssen wir für genau diese Summe an „ungefähr mittigen Standpunkten“ werben. Wie das Modell uns einzeichnet, interessiert eh keinen normalen Menschen.
Und wenn man sich das aus einer pragmatischen Sicht anschaut, kriegen wir das eigentlich ganz gut hin. Die Kinderbetreuung etwa wird ein neuer Wahlkampf-Klassiker, weil die Forderung nach einem Rechtsanspruch darauf mittlerweile populär und wenig umstritten ist. Auch, wenn die ÖVP de facto bremst: Sogar sie merkt mittlerweile, dass es ein populäres Anliegen ist, und kann sich nicht mehr überall dagegen wehren. Klassisches NEOS-Thema, mittlerweile absoluter Konsens.
Das ist nicht das einzige Anliegen, mit dem NEOS den politischen Diskurs gelenkt hat. Dass es bald eine neue Sicherheitsstrategie gibt, war unser Anliegen, wir waren sogar die Einzigen, die das gefordert haben. Dass die ÖVP sich ab 2014 – dem Jahr nach dem Einzug von NEOS in den Nationalrat – mehr und mehr das Image der wirtschaftsliberalen Deregulierer, der modernen Start-up-Partei geben wollte, macht sich mittlerweile etwas weniger bemerkbar. Aber dass der Wirtschaftsbund den ÖAAB dominierte, war wohl auch der Existenz einer liberalen Partei geschuldet. Und auch unser Modell der CO2-Steuer (das immer noch besser ist als das der Bundesregierung) hat sicher einen Teil zur Debatte beigetragen.
Auch, wenn die inhaltliche Verortung oft kompliziert ist: Auch Liberale können den Diskurs verschieben. Mal abgesehen davon, dass sie auch in Regierungsverantwortung coole Dinge umsetzen. Did I mention Kinderbetreuung?
Das führt mich übrigens auch zum letzten Punkt und einem leichten Abschweifer. Völlig egal, was man von theoretischen Debatten und Einzeichnungen in Polit-Modellen hält: Am 23. April haben einige von euch das Recht, mitzuentscheiden, in welche Richtung es geht. Wenn ihr bei der Salzburg-Wahl unentschlossen seid, schreibt mir gerne einfach. Jede Stimme für eine liberale Partei ist zwar am Overton Window irgendwo anders – aber sie lohnt sich.
Noch mehr Lesestoff
🕵️ Neues aus der Welt der Korruption. Wer es noch nicht mitbekommen hat: Gegen alle drei Chefitäten der größten Boulevard-Zeitungen des Landes wird ermittelt. Und wie audacity, mit der Eva Dichand, die Chefin von HEUTE, mit Gernot Blümel kommuniziert hat, wie offensiv sie Inserate „verlangt“ hat – das macht schon besonders wütend beim Lesen. (Something something Unschuldsvermutung.)
😒 Neues aus der Welt des Grausigen. In Oberösterreich wird eine gut integrierte Familie, die Deutsch spricht und in Mangelberufen arbeitet, abgeschoben. Ich weiß, wir haben eine rechte Mehrheit im Land, und ich weiß auch, dass Abschiebungen genau so wie alles andere gegen „de Auslända“ populär sind. Aber das versteht wirklich niemand. Wer hier lebt, integriert ist und auch noch in den Berufen arbeitet, für die wir eh niemanden finden, wird allgemein akzeptiert. Unser System ist manchmal einfach nur dumm.
🎙️ Neues aus dem Materie-Podcast. In der neuen Ausgabe rede ich mit dem Völkerrechts-Erklärbär der Nation und meinem früheren Addendum-Kollegen Ralph Janik. Es geht um die Idee des Straftatbestandes „Ökozid“, um den Trend zu Klima-Klagen und was wir eigentlich davon halten, dass das Recht immer öfter die Politik ersetzt. Oder ersetzen will. Oder zu ersetzen droht? Hört einfach mal rein und bewertet uns auf Spotify, Apple Podcasts oder wo immer ihr Podcasts hört.