Neue Regierung, alte Probleme: Noch am Tag, als die Dreierkoalition ihre Arbeit aufnimmt, schlägt der mediale Diskurs wieder zu.
Wer hat sich durchgesetzt? Niemand.
Wer ist umgefallen? Alle.
Und ist nicht Herbert Kickl garantiert der nächste Wahlsieger? Wie immer.
Dieses Gefühl hatte ich, als ich diverse Medienbeiträge, aber vor allem das Antrittsinterview der drei Parteichefs im ORF gesehen habe. Es gab nur wenige Fragen zur Zukunft des Landes, und die, die es gab, waren pessimistisch. Das mag der Lage geschuldet sein, die wirklich nicht rosig ist. Aber es war auch nicht das Hauptproblem.
Es ist das, was Bundespräsident Van der Bellen eingemahnt hat: Aufeinander zugehen wird in Österreich viel zu oft als Niederlage gesehen. Dabei sind Kompromisse keine Niederlagen, sondern Siege – manchmal sogar richtig gute. Und ich weiß, was gute Kompromisse bedeuten: In Wien zeigen wir NEOS, dass wir auch mit einem historisch mächtigen Partner viel umsetzen können, was wirklich einen Unterschied macht. Vertretern der „reinen Lehre“ wird es immer zu wenig sein, weil Wien immer noch nicht perfekt ist. Ist es nicht. Aber es ist zumindest um einiges besser als 2020.
Das Hauptproblem unseres medialen Diskurses liegt für mich darin, dass er dermaßen konfliktgetrieben ist. Was natürlich zu einem gewissen Grad normal ist: Konflikt = News. Aber je länger ich das Regieren kenne, desto mehr kommt mir vor, dass Österreich kein Erfolg gegönnt ist. Und das macht eine gute Regierung schwieriger, als sie eigentlich sein müsste.
Das zeigt sich auch an den Fragen, die Susanne Schnabl und Armin Wolf gestellt haben. Sind die NEOS glücklich über den Finanzminister? Tut der SPÖ die Aussage eines NEOS-Abgeordneten nicht weh? Die ÖVP hat doch gerade noch Babler beleidigt? Wo ist die Pensionsreform, liebe NEOS, wo ist die Vermögenssteuer, liebe SPÖ? Und wie lange hält die Koalition eigentlich wirklich, glauben Sie daran?
Übersetzt könnte man all diese Fragen in einer zusammenfassen: Ist das nicht alles oasch.
Ich glaube: Wenn wir uns immer nur fragen, wer verliert, und jede dieser angeblichen Niederlagen mit Häme bestrafen, betreiben wir Sabotage an unserem politischen Diskurs. Denn wenn man immer wieder aufpassen muss, dass man sich durchsetzt, geben wir Politikern keinen Anreiz, jemals einen Kompromiss einzugehen.
Wohin eine solche Situation führt, haben wir schon öfter gesehen: Unter der späten Großen Koalition unter Kern-Mitterlehner, aber auch in den letzten Jahren unter Türkis-Grün dominierten der parteipolitische Austausch und die gegenseitige Blockade. Gemeinsam wurde nur das umgesetzt, wo man nicht aus konnte – wichtige Projekte blieben auf der Strecke.
Aber diese Erwartungshaltung, eine Partei habe sich durchzusetzen und betreibe mit jedem Kompromiss einen Betrug an den Wählern, macht man auch Verhandlungen schwer, wie Armin Hübner in einem lesenswerten Text im STANDARD schreibt:
Dieses Dilemma zeigt sich besonders deutlich bei Regierungsverhandlungen. Der Druck wächst, wenn monatelang keine stabile Mehrheit zustande kommt und der Frust der Bevölkerung steigt. Für die Verhandelnden rückt der ursprüngliche Auftrag zur Kooperation oft in den Hintergrund. Jede Verhandlung – sofern sie ernsthaft geführt wird – ist zunächst ein Versuch, Zusammenarbeit zu ermöglichen. Doch wenn jede Kooperation letztlich als Konflikt bewertet wird, wird es attraktiver, Verhandlungen von Anfang an als Machtkämpfe zu inszenieren oder sie gar nicht erst aufzunehmen. Dieses Problem betrifft nicht nur Regierungsverhandlerinnen und -verhandler, sondern auch Koalitionen und die Zusammenarbeit von Regierung und Opposition im Parlament – und damit letztlich alle politischen Akteurinnen und Akteure.
Dazu kommt, dass der österreichische Main Character seit jeher der FPÖ-Chef ist – seit Haider hat sich das nur einmal geändert, und zwar unter Sebastian Kurz. Das heißt, Regierungen sind permanent getrieben: Auf der einen Seite müssen sie sich „durchsetzen“, weil sie sonst „umfallen“, auf der anderen Seite staubt die FPÖ ab, die alles andere als kompromissfähig ist. Ausnahme war da lediglich die Kurz-Strache-Koalition, als ÖVP und FPÖ inhaltlich deckungsgleich aufgestellt waren.
Wir könnten aber eine viel bessere Situation haben – und zwar, wenn wir die Realität zulassen. Die Realität, in der Politiker keine bösen Menschen sind, die 100 % ihrer Ideologie umsetzen müssen oder Versager sind. Armin Hübner weiter im STANDARD:
Wer in der Politik arbeitet, kennt dieses Dilemma nur zu gut. Doch das Bild von Streit und Feindseligkeit, das oft in der Öffentlichkeit entsteht, spiegelt die Realität nicht immer wider. In der Praxis wird in vielen Gesprächen mit Kolleginnen und Kollegen anderer Parteien schnell eine gemeinsame Basis gefunden – oder zumindest ein Verständnis dafür, wo die Grenzen der anderen liegen. Es wird mit Respekt und bisweilen auch mit Humor diskutiert. Persönliche Angriffe sind die Ausnahme, und die langfristige Zusammenarbeit sowie inhaltliche Ergebnisse stehen im Vordergrund. Es bleibt die Hoffnung, dass diese konstruktive Arbeit auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird und das Vertrauen in die Politik stärkt.
Das ist, was wir haben könnten. Und bis zu einem gewissen Teil hält man medial nachgefragten Konflikt auch aus. Im Wien-Wahlkampf weiß ich ganz genau, dass wir NEOS in Wien große Anerkennung für unsere Arbeit im Bildungssystem genießen, genau wie die Grünen beim Thema Umweltschutz oder die SPÖ, wenn es um ihre historische Rolle beim Bau der Infrastruktur in Wien geht. Aber im Wahlkampf werden härtere Bandagen ausgepackt, und das ist auch okay.
Mittlerweile beschleicht mich aber das Gefühl, dass neben Konflikt und „Wer hat verloren“ zu wenig Platz für echte Erfolge ist. Und das, obwohl es sie eigentlich gäbe.
Ich weiß, es klingt nach Mimimi. Mein Ziel ist nicht, Journalisten auszurichten, doch bitte weniger kritische Fragen zu stellen. Wenn Armin Wolf jemanden interviewt, hat er viele Ziele, aber nicht, dass es jemandem gut damit geht. Aber wenn wir uns permanent darauf konzentrieren, wer gewinnt und wer verliert, dann bin ich der Überzeugung: Das bringt uns nicht weiter. Und das sage ich nicht nur, weil ich jetzt zwei Regierungsbeteiligungen zu verteidigen habe. Sondern aus echter Sorge.
Was ich nämlich nicht will: Dass es endlich eine Regierung gibt, die mit Kompromissen gute Dinge umsetzt, und keiner merkt es. Weil die Stimmung im Land so schlecht ist, dass niemand eine Chance hätte. Wenn das Regierungsprogramm umgesetzt wird, wäre in diesem Land vieles besser – vor allem im Bereich Bildung, aber auch in vielen anderen Bereichen.
Wenn dieses Land eine handlungsfähige Regierung haben soll, dann brauchen wir auch einen politischen Diskurs, der Erfolge zulässt. Und da sind nicht nur die Medien, sondern wir alle gefragt. Mein Optimismus ist in den letzten Tagen jedenfalls deutlich gestiegen – aber nur in die Politik, nicht in die medial vermittelte Debatte. Machen wir das Beste draus.
Noch mehr Lesestoff
📃 Habemus Regierungsprogramm. Ja, es ist mega lang – aber allen Polit-Nerds, also auch meiner potenziellen Audience, sei es nahegelegt, mal durchzuscrollen, was in den nächsten Jahren alles möglich sein wird. Ich finde, da sind ein paar gute Kompromisse dabei.
💬 Ein Interview über Arbeitsanreize. Eine der größten Herausforderungen der nächsten Jahre wird sein, dass sich Arbeit im Vergleich zu Nicht-Arbeit auszahlt. Da muss man natürlich vor allem an den Steuern auf Arbeit ansetzen, aber trotzdem sind die Transferleistungen ein wichtiger Punkt. Der Wiener AMS-Chef sagt zur Höhe der Mindestsicherung Folgendes:
Es erschwert das schon, weil die Leute natürlich rechnen können und sagen, ich gehe da jetzt eigentlich umsonst arbeiten, ich bekomme ja gleich viel, ob ich jetzt arbeiten gehe oder nicht. Da geht es ja um Hilfsberufe und nicht um Berufe, in denen man arbeiten geht, weil einem der Job so viel Sinn gibt. Das sind Jobs wie Regale schlichten, Reinigungsarbeiten, Lagerarbeiten. Da kann ich nicht erwarten, dass die Leute von sich aus so intrinsisch motiviert sind. Und wenn es dann keinen wirklichen finanziellen Anreiz gibt, dann wird es schwierig mit der Motivation. Da muss sich ein System schon überlegen, welche Anreize es setzt.
Stuff aus dem Internet
Der gute alte Deep State
Das war übrigens auch die große Hoffnung bei der US-Wahl letztes Jahr: Wenn Joe Biden zu alt ist, dann wird die zweite Reihe das schon regeln. Turns out, die zweite Reihe ist nicht so mächtig wie man denkt.
How we got here
And why we might stay here