Die "Legislaturperiode Kurz"
Wieso alle Brücken verbrannt sind und was die Gründe für den Abschied sind
Irgendwann im Laufe meines Studiums der Politikwissenschaften habe ich einmal etwas über die These gelernt, die Zeit zwischen 1914 und 1945 könne man als einen großen Krieg mit Intermezzo sehen.
Das klingt jetzt diffus - vor allem, weil ich mir die Urheberschaft dieser These natürlich nicht aufgeschrieben habe, weil Ideen immer interessanter als Menschen sind -, aber think about it. Der Erste Weltkrieg schafft die Bedingungen für den Zweiten - ohne Teil 1 kein Teil 2. Die Zwischenkriegszeit ist laut dieser These nur eine Neuformierung der ehemaligen imperialen Weltmächte, die sich in Spielarten der Demokratie und des Autoritarismus aufteilen, um nach einer “Pause” wieder aufeinander zu schießen.
Gestern musste ich daran wieder denken, weil ich Sebastian Kurz immer ähnlich gesehen habe. Ob als Außenminister unter Kern oder als Kanzler neben Strache oder Kogler - im Endeffekt war die Zeit von 2016-2021 eine Art “Legislaturperiode Kurz”, eine gemeinsame Zeit mit gemeinsamen Merkmalen. Und man könnte sich historisch viel ersparen, wenn man diese Zeit unter einen Banner zusammenlegen würde - statt zwei Kriegen ein großer Krieg, statt drei Legislaturperioden einen zentralen Akteur.
Alle Brücken sind verbrannt.
Sebastian Kurz’ Zeit in der Regierung war von vielem geprägt. Zum Beispiel dem permanenten Versuch der ÖVP, die Freiheitlichen rechts zu überholen. Aber vor allem von Intrigen, sei es gegen den Koalitionspartner oder gegen den eigenen Parteiobmann.
Ich glaube, dass Kurz vor allem geht, weil er keinen Partner mehr hat. Die Spatzen pfeifen von den Dächern, dass nächstes Jahr gewählt wird - aber mit wem will ein Sebastian Kurz nach den letzten Jahren noch Politik machen?
SPÖ: Scheidet aus, weil sich die ehemaligen Großparteien hassen. Das war schon immer so, aber wurde in der letzten gemeinsamen Regierung immer offensichtlicher. Ich erinnere mich da vor allem an das TV-Duell Rudolf Hundstorfer vs. Andreas Kohl bei der Bundespräsidentschaftswahl 2016, als die beiden Koalitionspartner das mit Abstand unhöflichste und beleidigenste Duell des gesamten Wahlkampfes hatten. Wenige Wochen später war Werner Faymann weg.
Die SPÖ sieht sich historisch immer als Counterpart gegen die Schwarzen, aber dürfte auch noch offene Wunden von der Wahl 2017 haben. Während sie sich selbst nicht zwischen den Faymännern und den Kern-Leuten entscheiden kann, heißt der gemeinsame Schuldige Sebastian Kurz - dieser hatte ja, wie Chatprotokolle zu Genüge belegen, kein großes Interesse am Erfolg der eigenen Regierung. Mit so einem Charakter erneut zusammenzuarbeiten? Da müsste der Wille der Macht schon enorm und das eigene Rückgrat nicht vorhanden sein.FPÖ: Die Freiheitlichen fühlen sich “gefrotzelt”. Als Heinz-Christian Strache über das Ibiza-Video stolperte, rief Sebastian Kurz Neuwahlen aus, weil er Herbert Kickl als Innenminister für untragbar hielt. Diesen framte er quasi als “Chefermittler” gegen seinen Parteifreund. (Ein Framing, das ich für grundfalsch halte - dass Nehammer im Innenministerium sitzt, scheint Sebastian Kurz nicht geholfen zu haben, weil nicht jeder in der Justiz automatisch eine Parteifarbe wechselt.)
Mittlerweile ist Sebastian Kurz selbst wegen Vorwürfen in den Medien, die durchaus mit Ibiza vergleichbar sind. Und dass seine eigene Partei den Innenminister stellt, ist der ÖVP keine Erwähnung wert. Damit ist offiziell, dass der Grund vorgeschoben war, weil Kurz einen Ausbau seines Vorsprungs witterte - was ihm auch gelang. Politisch mögen die beiden Parteien (bis auf Corona) mittlerweile gut zusammenpassen - aber eine Kickl-FPÖ und Sebastian Kurz, das wird nie mehr funktionieren.GRÜNE: Jedes Szenario, in dem die Legislaturperiode nicht fünf Jahre dauert, ist ein Szenario, das gegen die Fortführung der Koalition spricht. Kurz ist nicht mehr Kanzler, weil die Grünen ihm nicht mehr die Mauer gemacht haben. Und sie konnten nicht mehr anders - was die ÖVP im Bereich Migration mit Abschiebungen gut integrierter Kinder aufführt, lässt sich mit grünen Werten nicht vereinbaren. Genauso wenig nützt es einer Saubermann-Partei, wenn der Koalitionspartner immer wieder mit Korruptionsvorwürfen in den Medien aufschlägt.
Es sprach aber auch schon davor viel für die Grünen. Wer fossile Brennstoffe am Leben erhalten will, ist in Österreich bei der ÖVP richtig. Auch, wenn Leonore Gewessler arbeitet, wird dieser Widerstand spürbar gewesen sein. Die Grünen scheinen die Koalition jedenfalls nicht zu genießen.NEOS: Eine schwarz-pinke Koaltion geht sich zuerst mal nicht aus. Zur Beginn der Corona-Pandemie, als die Beliebtheitswerte von Kurz (angeblich) über 40 % lagen, hätte man eventuell darüber diskutieren können. Dazu kommt aber noch - und ja, ich bin biased - dass die NEOS Schneid haben und nicht mit einem wie Sebastian Kurz koalieren können.
Die NEOS existieren aus dem Drang Liberaler (die früher auch oft in der ÖVP zuhause waren), strukturelle Korruption zu bekämpfen und mit dem alten System aufzuräumen. Wenn die erste Regierungsbeteiligung darin bestünde, Sebastian Kurz in seiner aktuellen Situation die Mauer zu machen, wäre die Optik von Anfang an schief - mal abgesehen davon, dass man kaum die großen Reformen umsetzen könnte, die sich die NEOS vorstellen.
Bleibt die eigene Partei.
Wie sich Sebastian Kurz gegenüber anderen Politiker:innen verhielt, konnte ihm egal sein, solange er die Hausmacht hatte. Und die hat er sich bekanntlich schriftlich zusichern lassen. Wer der ÖVP den Kanzler stellt und in Umfragen über 30 % liegt, der kann auf Rückhalt zählen - eine wesentliche Stärke von Konservativen, die progressive Parteien meist nicht teilen. (Looking at you, SPÖ.)
Aber die Chats waren dann wohl doch zu viel des Guten. Im Herbst feierten die Landeshauptleute ihr großes Comeback. Wir lernen daraus: Auch das beste Schriftl aus dem Jahr 2017 ist völlig egal - wenn die Sechs nach Wien fahren, wird wieder angeschafft.
Das halte ich aber nicht einmal für schlecht. Ich bin zwar weder Fan von Schwarz noch von Türkis, aber ich bevorzuge die schwarze ÖVP doch stark gegenüber der Showpolitik von Sebastian Kurz. Mit anständigen Konservativen, die intelligente Wirtschaftspolitik betreiben wollen und auf Interessensausgleich bedacht sind, kann man zumindest theoretisch etwas anfangen - auch, wenn die Realität in Österreich praktisch oft anders aussieht. Von daher respektiere ich eine Johanna Mikl-Leitner oder einen Wilfried Haslauer mehr als türkise Parteisoldat:innen, die vertreten, was auch immer von ihnen verlangt wird.
Welche Farbe bleibt?
Ich bin kein Insider, was Alexander Schallenberg oder Karl Nehammer betrifft. Aber ich habe von beiden den Eindruck, dass etwas Besseres Sebastian Kurz ersetzt. Empfehlenswert dazu ist z. B. die Geschichte von Florian Klenk darüber, wieso Nehammer bei einem privaten Spaziergang die Polizei ruft. Und auch, wenn ihm viel vorgeworfen wird, finde ich es gut, einen Innenminister zu haben, der nicht lacht, wenn abgeschoben wird. (Auch, wenn das kein hoher Maßstab ist.)
Wichtig wäre, dass sich in der ÖVP wieder Kräfte durchsetzen, denen es ein Anliegen ist, das Leben der Menschen besser zu machen. In der letzten Zeit hatte man nämlich den Eindruck, alles, was zählt, sind die eigenen Leute und “Ich, Ich, Ich”. Von daher kann es fast nur besser werden - aber es ist gut, dass die Legislaturperiode Kurz nun endgültig vorbei ist.
coole Analyse. Den Zusammenhang zwischen dem grauslichen Duell Hundstorfer-Kohl und dem Ausscheiden von Faymann kann ich nicht ganz erkennen. Faymann hat die aktive Basis verärgert und wurde an jenem berühmten 1. Mai aus seinem Amt gepfiffen