Wer seit 2018 in einem Koma gelegen ist und heute aufwacht, hat im Wesentlichen zwei Dinge verpasst: Eine Pandemie, die die gesamte Welt verändert, und Tik Tok.
Was genau ist Tik Tok?
Nur für den Fall, dass das wirklich ein Komapatient liest: Tik Tok ist eine App, mit der man Videos im Hochformat einfach erstellen und teilen kann. Anders als auf anderen sozialen Netzwerken wie Facebook oder Instagram gibt es keine Startseite, bei der auch andere Steuerungselemente vorhanden sind, sondern die App startet direkt mit Videos, die den ganzen Handy-Bildschirm auffüllen. Von dort aus kann man weiter navigieren zu den Seiten der Video-Hersteller, zum eigenen Profil, usw. Klingt simpel - und erobert die gerade die Welt.
Über zwei Milliarden mal wurde die App bereits heruntergeladen, 800 Millionen User gelten als “aktiv”. Während der ersten Corona-Monate stieg die Anzahl der App-Downloads nochmal rapide an. Nicht nur für Schauspieler und Musiker wird die App interessant, sondern auch für wirtschaftliche und politische Akteure: Netflix hat längst einen Tik Tok-Account, in Österreichs Politik wird die App von den NEOS und Norbert Hofer benutzt.
Der Aufstieg Tik Toks ist mittlerweile eine Tatsache, die auch die etablierten (US-)Social Media-Konzerne nicht kalt lässt. Aber dann kam Donald Trump: Dieser hat andere Prioritäten als eine Pandemie, sondern will lieber eine App für lustige Videos verbieten. 45 Tage gab er Tik Tok, um sich entweder von einem US-Unternehmen kaufen zu lassen oder verboten zu werden. (Wie dieses Verbot aussehen wird, weiß man noch nicht - muss Apple dann die App aus dem App Store nehmen? Und wie sieht das dann in Europa aus?
Problem #1: Facebook
Wenn man nicht YouTube als Gegenargument bringt, ist Facebook der weitgehend unangefochtene Platzhirsch, wenn es um soziale Medien im Westen geht. Klar, wir sagen immer noch Facebook “und Twitter”, weil wir das im Arabischen Frühling so gelernt haben, aber Twitter liegt weit hinter der Marktdurchdringung von der Zuckerberg-Konzern mit Facebook Blue (der blauen App, die wir als Facebook kennen), Instagram und WhatsApp. Über zwei Milliarden User nutzen die Apps von Facebook - da war Wettbewerb bis jetzt naturgemäß schwer.
Für Facebook ist der phänomenale Aufstieg von Tik Tok also ein Problem. Und wie löst man Probleme bei Facebook? Ganz genau:
Seit Kurzem gibt es also Instagram Reels, den Tik Tok-Klon aus dem Hause Facebook. Ähnlich hat Instagram auch auf Snapchat reagiert und das damals innovative Format der Story einfach übernommen. Seitdem reden wir im Wesentlichen von Insta Stories, wenn wir vom kurzweiligen Hochformat reden.
Noch steht aber nicht fest, ob Reels ein Erfolg wird. Denn auf jeden Erfolg von Facebook folgen auch Niederlagen. Remember Lasso? Nein? Der letzte Tik Tok-Klon von Facebook, der so fundamental gescheitert ist, dass sich niemand überhaupt daran erinnern kann, dass er überhaupt existiert hat.
Irgendwie auch logisch. Wenn ich auf Tik Tok Videos von Österreichern sehe - egal, ob ich sie kenne oder nicht - ist das meistens nicht der Grund, warum ich auf Tik Tok bin. Sondern eher ein Unfall. Haben wir wirklich Lust, unseren Freunden und Verwandten bei Memes und Tik Tok-Tänzen zuzuschauen? Oder ist nicht genau der internationale Charakter des Mediums, bei dem man Fremde auf der ganzen Welt beim Rumblödeln beobachten kann, der Reiz des Mediums?
Für das Klarnamen-Medium Instagram, das quasi synonym für Selbstinszenierung steht, ist das Format vielleicht einfach nicht gemacht. Dazu kommt, dass Instagram durch das ständige Kopieren anderer erfolgreicher Formate mittlerweile mehr und mehr überladen und kompliziert wird - aber das ist eine Geschichte, die hat Sarah Frier von Bloomberg schon perfekt auf den Punkt gebracht hat.
Das bedeutet Hoffnung für Tik Tok - aber es gibt noch andere Probleme.
Problem #2: Microsoft
Durch das angekündigte Verbot von Tik Tok in den USA wird nun diskutiert, ob die App außerhalb von China nicht einfach von einem US-Unternehmen gekauft werden soll. Und in der Pole Position dafür steht … Microsoft
Richtig: Die Firma, die uns Banger wie LinkedIn und Microsoft Excel gebracht hat, könnte bald die App besitzen, für die sich Twenty-somethings teilweise schon zu alt fühlen. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber “MS Tik Tok” gibt sogar mir das Bedürfnis, doch lieber auf Instagram Reels umzusteigen.
Für Tik Tok ist das deswegen problematisch, weil Microsoft nicht nur den Appeal beim weitgehend sehr jungen Publikum killen könnte, sondern natürlich auch wirtschaftlich. Die Herstellerfirma Bytedance ist chinesisch und spielt damit automatisch eine Rolle in der chinesischen Außenpolitik - eben so, wie Facebook und Google auch für die USA wichtig sind. Eine Veräußerung der Geschäfte außerhalb der USA könnte nicht nur dem eigenen Image schaden, sondern auch zu riesigen Umstrukturierungen führen. Und letztendlich könnte das nicht nur für Tik Tok, sondern auch für Microsoft ein Milliardengrab werden.
Problem #3: Triller
Und dann gibt es da noch Triller - die aktuell wohl erfolgreichste App.
Als sich das Polit-Drama rund um Tik Tok angebahnt hat, wechselten viele Influencer zur US-Firma Triller, um auch weiterhin sicher ihren Content produzieren zu können. Ursprünglich war die App dazu gedacht, neuen Musikern eine Plattform zu geben und “den nächsten Justin Bieber zu finden” - aber die Meme-Accounts und Tänzer nimmt Triller natürlich mit Handkuss. Die App unterscheidet sich von Tik Tok nur minimal, zum Beispiel durch die Aufteilung des Feeds in “Music” und “Social”, aber im Wesentlichen ist es das gleiche Konzept.
Im Kontext der aktuellen Debatte positioniert sich Triller als die erwachsene Version von Tik Tok. Da die App nicht aus China kommt, gibt es keine vergleichbaren Probleme, und einige Celebrities wie Mike Tyson sind bereits auf der App zu finden. Künstler wie Marshmello, Snoop Dogg oder Kendrick Lamar unterstützen Triller als “strategische Partner”.
Und wie geht’s jetzt weiter?
Angesichts all dieser Probleme spricht gerade viel für die These, dass Tik Tok seinen Zenit bald überschritten hat. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das so stimmt. Klar, mit mehr Wettbewerb wird es schwerer, alle User zu halten, aber gleichzeitig ist Tik Toks Wachstum ungebrochen. Die App wächst und wächst und ist gerade ein Synonym für “junge Menschen auf Social Media”. Einen ähnlichen Hype konnten wir am Anfang bei Snapchat beobachten - und auch Snapchat ist noch da. (Auch, wenn es Snaps Wachstum durch die Einführung der Instagram Stories reduziert wurde.)
Die wesentliche Frage ist die, wie es bei Tik Tok strukturell weitergeht. Sollte wirklich Microsoft alle Nicht-US-Anteile des Unternehmens kaufen, müssen enorme Umstrukturierungen folgen, um Tik Tok aus dem System China endgültig herauszugliedern. Gleichzeitig müsste Microsoft eine Content-Moderation organisieren, um rund eine Milliarde User zu überprüfen. Eine Herausforderung, an der man sehr leicht scheitern kann.
Aber generell glaube ich: Tik Tok is here to stay. Es kann sein, dass es eine Nische wird und dass sich User entscheiden müssen, ob sie lieber mit ihren Freunden oder mit Fremden kommunizieren. (Es wird auch genug geben, die ihren Content auf beiden Plattformen veröffentlichen.) Aber der Hype ist schon da - und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er in nächster Zeit abklingen wird. Ich halte euch auf dem Laufenden.
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