Twitters und Facebooks Zensur-Dilemma
Wann ist ein Aufruf zur Gewalt "im öffentlichen Interesse?"
Zu den großen Freuden des eigenen Newsletters gehört, dass ich keinen langweiligen Überblicks-Einstieg machen muss, in dem ich erst mal drei Absätze lang erkläre, wer Donald Trump ist, was er so macht und was Social Media damit zu tun hat. Jeder weiß Bescheid: Der Präsident der Vereinigten Staaten teilt regelmäßig Falschinformationen, schürt mit seinen Tweets Konflikt oder droht Gewalt an. Und selbst, wenn man als Trump-Supporter all das leugnet, sieht jeder unwiderlegbar, dass sein Verhalten auf Twitter zumindest die Mobbing- oder Belästigungs-Richtlinien verletzen müsste.
Für Social Media-Konzerne ist das alles extrem problematisch. Auf der einen Seite gibt es berechtigte Forderungen, dass sich auch ein Präsident an die Regeln zu halten habe. Auf der anderen Seite steht die Meinungsfreiheit und die Freiheit, sich politisch zu äußern - auch, wenn man komplett daneben ist. Die Plattformen halten sich dabei meistens an die Devise “lieber zu viel sperren, als zu wenig” - entweder man verbietet Gewaltdarstellungen komplett, oder man muss sich an den Rechtsordnungen von 193 Staaten orientieren. (Oder mehr, aber not gonna go there.)
Also wird auf den gängigen Internet-Plattformen meist “überzensiert” - Werbung für ein Shisha-Lokal ist “Tabak-Werbung”, Werbung für einen Maskenshop ist “aus der Krise Profit schlagen” und im Zweifelsfall wird lieber gelöscht, als dass etwas Problematisches stehen bleibt.
Während Facebook sich mit einem Verweis auf die “Meinungsfreiheit” klar positioniert hat und Trump weiter machen lässt, was er will, geht sein Lieblingskanal Twitter mit ihm auf Konflikt. Und zwar nicht nur, weil Twitter-Chef Jack Dorsey so ein guter Mensch ist - Twitter positioniert sich damit klar gegen Facebook und will die “gute Alternative” zum eindeutigen Platzhirsch am Social Media-Markt sein. Gerade liberale US-Tech-Journalisten haben das Narrativ auch dankbar aufgenommen, obwohl auch Twitter noch viel Aufholbedarf hat. Währenddessen löscht auch Facebook vereinzelt problematische Accounts - aber darüber wird weniger gesprochen.
Ein Tweet von Trump wurde mittlerweile gefact-checkt, unter einem anderen findet sich ein Verweis auf “manipulierte Medien”. Mittlerweile gab es mehrere Anlässe, in denen sich Warnhinweise unter Trumps Tweets fanden, teilweise wurde auch die Reichweite eingeschränkt. Das sieht dann ungefähr so aus:
Wenn du dich für das Thema Content-Moderation interessierst: Radiolab hat eine gute Podcast-Folge dazu gemacht, wie sich die Facebook Community-Richtlinien entwickelt haben, während der Konzern zu groß geworden ist. Aus einem Team von 12 Leuten wurden Sweatshops von Facebooks Content-Moderatoren, die posttraumatische Belastungsstörungen entwickeln - und wenige Sekunden haben für Entscheidungen auf Basis von Regeln, die sich ständig ändern.
Social Media-Firmen hinken der Realität hinterher
Die Intention ist übrigens gut! Twitter sieht, was alle Social Media-Unternehmen sehen - nämlich, dass (meist) rechts-autoritäre Politiker ihre Plattformen nutzen, um nicht nur ihre eigenen Lügen zu verbreiten und das Vertrauen in etablierte Institutionen zu untergraben, sondern auch um aktiv zu Gewalt aufzurufen oder sie gut zu heißen. Klarer Fall von Corporate Social Responsibility, dass darauf eine Reaktion folgen muss.
Trotzdem gibt es einige Probleme damit, wie Social Media-Unternehmen damit umgehen.
Wenn Twitter sich entscheidet, dass Inhalte wie Falschmeldungen oder Aufrufe zur Gewalt auch bei Politikern Konsequenzen haben, müsste es das konsequent bei allen durchziehen. So schädlich Trumps Verhalten für die Weltpolitik und die amerikanische Demokratie ist - warum er einen Warnhinweis bekommt, aber dieser Tweet vom religiösen Oberhaupt des Iran nicht, kann Twitter nicht erklären.
Das heißt: Wenn die Politiker, die gegen die Richtlinien verstoßen, eingeschränkt werden, dann können sie auch die Gegenfrage stellen - Warum wird mein Gegner nicht zensiert? In den USA läuft bei den Republikanern seit Jahren die Debatte, ob Konzerne wie Facebook und Twitter eine liberale Schlagseite haben - und Facebook ist offensiv bemüht, diesen Eindruck zu vermeiden, ist also extra vorsichtig mit Zensur gegen die Republikaner. So kann der Schuss ganz leicht nach hinten losgehen - aus ernsthaftem Bemühen wird vorauseilender Gehorsam gegen einen bösen Verdacht.
Aber auch die Argumentation von Facebook ist hier nicht ganz schlüssig. Sie argumentieren, oft mit dem Verweis auf das first amendment der US-Verfassung (die Meinungsfreiheit), dass es ein “öffentliches Interesse” an den Äußerungen des Präsidenten gebe, und dass man sie deshalb nicht zensieren könne. Das mit dem öffentlichen Interesse passt, aber bitte nicht zu viel Demokratie-Pathos. Donald Trump ist nicht auf soziale Medien angewiesen. Wenn es wirklich um eine demokratiepolitische Funktion gehen würde, müsste jede Äußerung eines “normalen” Bürgers, der nicht ohnehin die Aufmerksamkeit jedes Mediums des Planeten genießt, viel umstrittener sein als die des US-Präsidenten. Freedom of speech, not freedom of reach.
Twitter hat zwar richtig erkannt, dass Charaktere wie Donald Trump die sozialen Medien als Propagandatool nutzen und dabei konsequent die Community-Richtlinien missachten. Der Ansatz “darum machen wir Warnhinweise bei einem Account” wird allerdings nicht reichen. Dieses Learning-by-doing ist gut gemeint, aber auf Dauer braucht es klare Richtlinien, unter welchen Umständen es für welche Regeln Ausnahmen gibt. Alles andere könnte am Ende genau denen in die Hände spielen, die mit Mobbing, Falschinformationen und Gewaltaufrufen Politik machen.
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