Und was, wenn wir Twitter wirklich verlieren?
Ein kurzer Überblick über die Situation im neuen Musk-Spielzeug
Heute geht’s mal wieder um ein Blasenthema: Und zwar um Twitter. Ja, die Plattform, die in Österreich keiner benutzt und von der regelmäßig behauptet wird, sie erreiche niemanden und sei komplett irrelevant.
Das ist einerseits korrekt, weil sich hierzulande hauptsächlich der polit-mediale Komplex dort aufhält. Andererseits kommt dieser Take wenig überraschend hauptsächlich von denen, die auf Twitter schlecht wegkommen: Konservative und Rechte vom Land. Die haben natürlich kein Interesse daran, dass ernst genommen wird, was die Blase der linken und liberalen Stadtmenschen sagt.
Ich würde Twitters Einfluss auf die Medien- und Politikbranche nicht unterschätzen - aber natürlich ist es kein Massenthema. Insofern mag es total nischig sein, wenn ich sage, dass ich ein echtes Problem habe: Ich fürchte nämlich, dass die Plattform ihre beste Zeit hinter sich haben könnte. Den Grund vermutet ihr sicher schon:
Musk hat keine Ahnung, was er mit Twitter will
Das ist ein Problem, das ich bei vielen Tech-Unternehmern sehe (absichtlich nicht gegendert): Von außen sieht es so aus, als wäre so eine Social-Media-Plattform ganz einfach zu führen. Man muss einfach nur Spam verbieten, sagt man als normaler User, dann wird das schon. Und man hat ja selber coole Ideen - was, wenn ich verifiziert wäre, einfach so?
Kurz wurde die Möglichkeit eingeführt, den blauen Haken, der dich verifiziert - also den Eindruck vermittelt, es handle sich um “den offiziellen Account” - für acht US-Dollar im Monat zu kaufen.
08/15-Usern gab das die Möglichkeit, nicht nur besonders auszusehen, sondern auch mehr gesehen zu werden. Viele berichten von mehr Interaktion und Reichweite, seit sie den Haken gekauft haben.
Ein wichtiger, aber auch extrem vorhersehbarer Kollateralschaden: Viele User begannen, den Button zu kaufen, sich umzubenennen und mit einem blauen Haken zu trollen. Das führte in manchen Fällen zu Lachern: Ein Fake der Firma Nintendo postete eine Grafik von Super Mario mit einem Mittelfinger, ein Fake-Donald-Trump gab zu, die Wahl verloren zu haben, George W. Bush gestand 9/11 und die Aktie des Pharma-Unternehmens Eli Lilly stürzte ab, nachdem ein Account mit blauem Haken und Firmennamen versprochen hatte, Insulin ab jetzt gratis herzugeben.
Nach kurzer Zeit wurde das wieder abgestellt - als Elon Musk und Tesla selbst betroffen waren. Und ich glaube, in der Tonalität wird das auch weitergehen: Eine naive, nur kurz bedachte Idee umsetzen lassen, ohne sich genug Zeit zu nehmen und g’scheitere Leute einzubinden. Mit den Konsequenzen leben. Sofort wieder abschaffen. Nächste Idee. Und Musk sieht das anscheinend auch so:
Danach gab es übrigens kurz einen zweiten Haken, der “official” signalisieren sollte. Es konnte sich also jeder einen blauen Haken kaufen - der im Internet bisher immer schon hieß “ich bin der Echte” -, nur um dann erst recht auf einen zweiten angewiesen zu sein, der genau wie der Erste funktionierte. Nur in einer anderen Farbe, anderswo platziert, kostenlos und wieder für wenige. Wie war das nochmal mit der “entitled elite"?
Das wird einen Brain Drain geben.
Musk schadet damit nicht nur seinem Ansehen, sondern auch seiner Firma. Alleine schon seine Übernahme löste aus, dass viele User entweder nach ihrer letzten Sperre wieder auf Twitter einsteigen wollten, oder aber glaubten, sie könnten jetzt alle Regeln missachten und z. B. das N-Wort twittern - immerhin ist Musk als Troll bekannt, der seit Jahren auf der “free speech absolutist”-Welle surft. Leute gehen, das Vertrauen sinkt, die Werbeeinnahmen brechen komplett ein.
Dazu kommt, dass Musk nicht nur jene Leute feuert, die ihn (zurecht) kritisieren, sondern auch Tausende andere Mitarbeiter:innen. Darunter die Menschen, die Twitter jahrelang am Leben erhalten haben - nicht nur Entwickler:innen, sondern auch Leute in den Bereichen Kommunikation, Strategie und Sicherheit. In einem Staat, in dem Twitter gerade aktiv die Regierung verklagt, arbeiten nur noch zwölf Leute, in Brüssel sind es sogar nur noch zwei. Alles in diesem Absatz ist eine Beschreibung dafür, was eine schlechte Führungsposition ausmacht.
An die Verbleibenden schickt er Mails aus, dass man jetzt unter Bedingungen arbeiten muss, die “extremely hardcore” sind - und es scheinen weniger Leute dafür bereit zu sein, als er geglaubt hat. Immerhin hat er auch das Recht auf Home-Office in einer Firma abgeschafft, in der das lange schon zum “new normal” gehörte. Wieder: Alles Dinge, die man über Chefs schreibt, die richtig gute Chefs sind.
Es wäre schade um Twitter.
Alleine schon, weil es die einzige Plattform ist, die noch hauptsächlich auf 1) kurzem 2) Text basiert. Alle, die sagen, dass Video die Zukunft ist, blenden aus, dass nicht überall auf der Welt schnelles, günstiges Internet ohne Datenvolumen verfügbar ist. Ein Tweet lässt sich screenshotten oder kopieren - und ist damit ja immer noch ein großer Teil des Inhalts, der auch auf anderen Plattformen verbreitet wird. Weil er allen zugänglich ist.
Text stinkt zwar im Vergleich zu Video ab, wenn es darum geht, wie schnell man wie viel an Nuance kommunizieren kann. Dafür ist es ein ruhigeres Medium, das eine andere Form der Auseinandersetzung verlangt. Das klingt jetzt generisch - aber wir wissen doch rein instinktiv, dass das Lesen von Texten eine ganz andere Erfahrung ist als Video schauen. Und gerade mit Kommentarfunktion auch aktiver. Oder wie viele von euch antworten auf TikToks mit anderen TikTok-Videos?
Auf Twitter ist mit der Zeit eine Kultur gewachsen, die auch erlaubt, belanglos wirkende Gedanken zu veröffentlichen. Die Hemmschwelle, was ein Tweet ist, ist viel geringer als die dafür, was ein Instagram-Post, ein LinkedIn-Update oder ein TikTok-Video ist. Wenn ich Menschen seit Jahren folge, die auch “kleine Gedanken” twittern, habe ich das Gefühl, sie zu kennen. Und ich habe schon einige Menschen über Twitter kennengelernt.
Twitter hat eine internationale Suche, die quer über Sprachen funktioniert, einigermaßen gute Operatoren hat und nicht von einem Algorithmus verzerrt wird. Wenn ich genau diesen einen Tweet von einem Politiker suche, kann ich ihn relativ schnell finden - es ist nicht nur eine gute Suchmaschine, sondern ein Archiv.
Für Leser:innen und Medien gleichermaßen praktisch: Man braucht keinen Account, um einen Tweet zu lesen. Darum ist es auch so ein praktischer Account für Journalismus - was für Boomer der Telext war, ist für mich schon immer mein Twitter-Feed, in dem ich alles Wichtige sehe. Wenn ich nur eine Stunde weg war, während etwas Großes passiert, mischen sich die Links der Journalist:innen, erste Einordnungen und Memes dazu zu einem Gesamtbild, das ich nirgends sonst kriegen würde.
Die Plattform hat auch den Journalismus an sich verändert. Heute können immerhin nicht nur noch Akademikerkinder über die Connections ihrer Eltern in die Branche kommen, sondern auch normale Kinder, wenn sie auf Twitter mit ihren Texten auffallen. (I would know - mir wurde das mal an meinem ersten Arbeitstag in einer großen Redaktion als Grund für meine Einstellung genannt.)
Dazu verbindet es nicht nur Journalist:innen mit Quellen aus der gesamten Welt. Es war noch nie so einfach, so vielfältige Informationen von so vielen - ja, auch g’scheiten - Menschen zu kriegen. Wenn ich mich während der Corona-Lockdowns hilflos geführt habe, wusste ich, wo ich die aktuellen Einschätzungen von Expert:innen zu Politik oder Gesundheit finde: Auf Twitter. In Österreich und international.
Das ist jetzt mein üblicher technologie-optimistischer Take, ich weiß. Aber den bring ich normalerweise nicht, weil es wirklich um was geht, sondern weil sich doppelt so alte Chefredakteure mit Argumenten aus dem vorletzten Jahrhundert über Social-Media-Plattformen aufregen. Jetzt steht wirklich auf dem Spiel, ob Twitter auf Dauer attraktiv bleibt, finanziell überlebt - oder nicht einfach schon bald technisch nicht mehr laufen wird.
Mein Verdacht ist, dass man diese Erfahrung nicht replizieren kann.
Sagen wir, Twitter ist jetzt von einen Tag auf den anderen weg - wohin gehen wir dann?
Auf Facebook? Nein, das tut sich keiner mehr an. Nicht nur, weil die Plattform aktiv verhindert, dass nicht-beworbene Postings von Menschen gesehen werden, sondern weil sie überrannt ist mit Spam, Betrugsmaschen, Trollen und Hasskommentaren. Instagram ist zu visuell - nicht interessant für viele, die hauptsächlich über Text kommunizieren wollen. Same bei TikTok und Snapchat. Und auf LinkedIn? Da teilen wir zu viel “professionell” Berufliches, also genau das Gegenteil des Twitter-Konzepts, in dem der spontane, banale Gedanke auch mal rausgehen kann.
Und ja, es gibt Mastodon. Aber niemand braucht Mastodon. Kein Mensch versteht diese Sache mit den Nodes oder Servern, es ist wie Twitter mit nicht-intuitiven Zusatzfunktionen, die Bubble dort ist eine ganz andere, und die internen Richtlinien der tausend verschiedenen Communities dort lassen mich auch vermuten, dass es nicht immer so friedlich zugehen wird. Es ist für ein paar Nerds eine Alternative - aber nicht für die Masse.
Wir haben also nur die Chance, auf Twitter zu hoffen.
Und damit darauf, dass Elon Musk das Richtige tut - und früher oder später den Laden abgibt. An Leute, die verstehen, dass man die größten Meinungsmaschinen aller Zeiten nicht mit einfachen Ja/Nein-Entscheidungen im Laufe einer Woche umkrempeln kann. Diese Dinge brauchen Zeit, Expertise und und ein großes, diverses und erfahrenes Team. All das reißt Musk momentan nieder, und es wird immer schwieriger, es wieder aufzubauen.
Noch dazu hat sich Musk den schlechtesten Zeitpunkt ausgesucht, um Twitter so drastisch umzustrukturieren: Denn die Fußball-Weltmeisterschaft, die diesen Sonntag beginnt, ist schon normalerweise das größte Social-Media-Event der Welt. Wenn Millionen von Menschen gleichzeitig diverse Variationen von “Tor”, “Scheiß Schiri” und Memes zum Spiel twittern, geht die Plattform schon in normalen Zeiten an ihre Grenzen.
Ich bin also echt besorgt, was Twitter angeht. Denn auch, wenn die meisten österreichischen User das soziale Medium hauptsächlich schimpfen - eigentlich verbringe ich sehr viel Zeit damit, großteils auch sehr gerne, und lerne privat wie beruflich extrem viel neue Dinge dadurch. Es wäre einfach nur schade darum.
Aber immerhin wir lesen uns weiterhin hier. Wenn du mir dazu was schreiben willst: Antworte auf diese Mail, hinterlasse einen Kommentar oder - falls du in der Substack-App liest - schreibe mir gleich hier im Subscriber-Chat.
Noch mehr Lesestoff
🤷♂️ Heute nur ein Text. Ich komm einfach gerade nicht viel zum Lesen. Aaaanyways trotzdem ein kurzer Hinweis: Für die Materie haben mein Kollege Gregor Plieschnig und ich uns angeschaut, was die Kammern eigentlich mit ihrem Geld aufführen. Spoiler: Guter, transparenter Service wäre so ziemlich das Gegenteil. Hier geht’s zur Materie, die wir übrigens mal wieder ausschließlich mit AI bebildert haben.