Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir kommt vor, Skandale sind das neue Normal in Österreich. Und das nicht erst seit einigen Wochen – sondern seit Jahren.
Gefühlt habe ich diesen Eindruck schon lange, aber erst jetzt habe ich ihn bewusst genug, um ihn in Worte zu fassen. Ich habe ihn eigentlich, seit ich im Mai 2019 in einer Gruppe mit befreundeten Journalisten den Link zum Ibiza-Video gefunden habe.
Mein Eindruck war: Das war’s. Aber ein Kollege von einem doch recht angesehenen Qualitätsmedium meinte: Auch das werden sie wieder aussetzen. Und ich wusste, dass er unrecht hat.
Wenig später war schon das berühmte Venga-Boys-Konzert am Ballhausplatz, die Kurz-Rede mit „Genug ist genug“ und der Wahlkampfsommer, in dem die ÖVP beinahe von der Absoluten träumen durfte. Die Grünen waren wieder da, die FPÖ in Umfragen komplett zerstört, der rechte Alptraum war vorbei. Und das, obwohl es vor Kurzem noch richtig still in Österreich geworden war: Eine Mischung aus Korruption und „Message Control“ hatte das Land fest im Griff.
Heute ist die Situation anders.
Gerald Fleischmann ist immer noch PR-Mensch in der Volkspartei, aber die Maschinerie ist so tot, wie sie nur sein kann. Das ganze letzte Jahr über konnten wir beobachten, wie Karl Nehammer und seine Truppe verzweifelt versuchten, irgendein Narrativ, ja auch nur ein Thema zu finden, das einigermaßen Relevanz aufbaut. Autoland, Bargeld, Normalität – alles vergeblich.
Jetzt wird es eben das „Er gegen Ich“ Narrativ: Karl Nehammer, der etablierte Staatsmann in schwierigen Zeiten, gegen Herbert Kickl, das rechtsextreme Sicherheitsrisiko. Es ist solide, nach 37 Jahren verspielter Glaubwürdigkeit würde mir wahrscheinlich auch nichts Besseres einfallen, außer Einstampfen und Neugründen. Aber zumindest von einer Welt, in der die ÖVP handwerklich geschickt den Diskurs des Landes dominiert, sind wir Galaxien entfernt.
Das liegt auch daran, dass Andreas Babler ebenfalls kein Medienprofi ist, eher das exakte Gegenteil davon. Während sich das ganze Land im Wahlkampf befindet und sich mit Fragen über mögliche Koalitionen, überschneidende Interessen und wichtige Zukunftsthemen befindet, ist er eine Art Nebenhandlung. Der nette Bua aus der Semperit-Fabrik, der Vermögenssteuern und die 32-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich fordert. Wurscht, ob das möglich ist, wurscht, ob niemand sonst das will, alles wurscht. Babler nimmt sich auf eine Weise aus dem Spiel, die eigentlich der FPÖ vorbehalten ist – nur eben vollkommen vermeidbar.
Trotzdem kommt mir vor, dass sich ein Teil unseres Diskurses in die negative Richtung entwickelt hat. Denn auch, wenn die Regierung keine Teflon-Schicht mehr über sich hat und auch die FPÖ wahrscheinlich nicht mehr diese Power entwickelt: Mir kommt vor, dass die Nachricht meines Journalisten-Freundes heute genauso realistisch kommen könnte. Und das ganz ohne PR-Maschinerie.
Denn es gibt nicht nur eine Möglichkeit, sicherzustellen, dass Kritik nicht funktioniert: Es gibt zwei. Und auch, wenn wir die Sebastian-Kurz-Variante überlebt haben, bin ich mir nicht sicher, ob wir für die Herbert-Kickl-Variante vorbereitet sind.
1. Stelle sicher, dass alle Medien nur nach deinem Narrativ berichten.
Eigentlich müssen wir Strache ja danken, so ein Dampfplauderer zu sein. Ohne das Ibiza-Video hätten wir vermutlich immer noch die türkis-blaue Message Control und eine Medienlandschaft, die kritische Berichterstattung komplett eingestellt hätte. Zwischen 2017 und 2019 wurde durch eine Mischung aus gefälschten Umfragen, Inseratenkorruption, Verhaberung und geschickte Postenbesetzungen ein Klima geschaffen, in dem es fast unmöglich war, korrupten Politikern wirklich habhaft zu werden.
Noch dazu gab es nicht wirklich einen Grund, darüber zu berichten. Denn wie wir mittlerweile auch wissen, belohnte die Regierung Medien dafür, sich brav an den Plan zu halten. Permanent wurden neue „Siegerthemen“ für ÖVP und FPÖ platziert, in einer Form, in der Journalisten quasi nur noch abschreiben müssen – noch nie war es so einfach, koordinierte und verständliche Infos zu Themen zu bekommen, die offensichtlich einen großen Teil Österreichs interessieren. Mutmaßliche Korruption oder brutale Aussagen der Regierungsparteien zu recherchieren, das war im Vergleich schwer.
Und wurde bestraft: Immerhin gab es Inserate, die inoffizielle Presseförderung, nur für genehme Berichterstattung. Auch zu Hintergrundgesprächen wurden Journalisten nicht mehr eingeladen, wenn sie zu kritisch waren. Es gab zwar die üblichen Verdächtigen, die heute die überschaubare Investigativ-Szene Österreichs bilden, die sich davon nicht unterkriegen ließen. Aber man stelle sich vor, Türkis-Blau hätte überlebt – wie viele dieser Medien würde es heute noch geben? Wie viele dieser Journalisten hätten noch ihren Job?
So waren wir in der Situation, dass es zwar immer noch viele Skandale gab – man erinnere sich nur an die Nazi-Liederbücher von Udo Landbauer oder das „Rattengedicht“ der FPÖ. Aber trotzdem umgab die Regierung eine Art Teflonschicht, an der jede Kritik abprallte. Man wusste zwar immer noch, dass Dinge falsch waren. Aber man wusste auch, dass es morgen wieder ein neues Thema geben würde, geschickt platziert von der vermutlich besten PR-Maschinerie der zweiten Republik.
2. Sorge dafür, dass es so viele Skandale gibt, dass Skandale das neue Normal werden
Und in diesem Szenario sind wir jetzt gerade. Nach dem Ibiza-Video kam die Spesenaffäre, nach der Spesenaffäre kam Corona. Mit Corona kamen falsche Ansagen darüber, wann die Pandemie „vorbei sei“, aber auch die intransparente Cofag und die Hygiene Austria. Es kamen Lockdowns, die keine mehr sein mussten, es kam eine Impfpflicht, die wahrscheinlich einer der größten Fehler der Zweiten Republik war (und nein, ich nehme mich nicht aus).
Gleichzeitig – als wäre eine Pandemie nicht genug – kamen die Chats von Thomas Schmid. Und damit war die Büchse der Pandora geöffnet. Wir wissen jetzt:
… dass sich Sebastian Kurz über Thomas Schmid Umfragen fälschen ließ, die in „Österreich“ platziert wurden, um Stimmung für ihn zu machen.
… dass politische Interventionen in Medien nicht nur zugelassen, sondern teilweise von Chefredakteuren umgesetzt wurden.
… dass die Inhalte in vielen Medien direkt von ÖVP und FPÖ bestimmt wurden, auch im freundschaftlichen Ton.
… dass diese Beziehung auch umgekehrt genutzt wurde: Berichterstattung wurde als Hebel für Gesetze genutzt. („Wir können auch anders“)
… dass Politiker vor Hausdurchsuchungen durch ihre guten Kontakte gewarnt wurden, um noch Beweise vernichten zu können.
… dass reiche Spender und Netzwerker sich durch ihre Connections einen besseren Umgang durch die Verwaltung erkaufen konnten.
… dass Inserate aus Ministerien in Parteimedien geschalten wurden - so fließt Steuergeld direkt an die Parteien.
… dass ÖVP und FPÖ den ORF unter Kontrolle bringen wollten: Nicht nur, aber auch durch Postenbesetzungen und Interventionen.
… dass ein Bundeskanzler vor dem U-Ausschuss unter Wahrheitspflicht ohne Not gelogen hat, um sein Image zu retten.
… dass über parteinahe Vereine diverse Loopholes genutzt werden, um Steuergeld zu kassieren – was immer noch möglich wäre.
All das hat das Vertrauen in das politische System erschüttert. Und dafür gesorgt, dass gerade die FPÖ – der Ausgangspunkt für diese ganze Entwicklung –, nur wenige Jahre später wieder ganz oben in den Umfragen steht. Sie könnte nicht nur die EU-Wahl gewinnen, obwohl sie mit der Europäischen Union nichts am Hut hat. Sie könnte auch die Nationalratswahl gewinnen und den Kanzler stellen: Und dann ist von Orbánisierung bis Öxit alles möglich. Das hat für mich vor allem einen Grund.
Wir haben das Gefühl dafür verloren, was wirklich gefährlich ist.
Wenn man permanent den Eindruck hat, dass alles oasch ist, dann wird man sich auch dementsprechend verhalten. Dann glaubt man nicht nur, dass alle Politiker gleich sind – was nicht der Fall ist –, sondern auch, dass es nicht wichtig ist, zur Wahl zu gehen.
Das klingt alles furchtbar kulturpessimistisch, ich weiß. Aber nur, wenn man in der Bubble ist. Denn von außerhalb ist dieser Eindruck absolut logisch. Was hat denn ein durchschnittlicher Bürger in den letzten Jahren von der Politik mitbekommen? Dass man in Wien im Sommer im Freien Masken tragen musste, im Kroatien-Urlaub aber nicht. Dass die ÖVP behauptet, alle wollen sie anpatzen und dass die Justiz korrupt ist. Dass im U-Ausschuss dagegen behauptet wird, die ÖVP sei korrupt. Und dass die Regierung so oft durchwechselt, dass man längst den Überblick verloren hat.
In so einer Themenlage ist es nicht schwer, sich nicht mehr für Politik zu interessieren. Und wenn alles permanent schlimm ist, dann ist es auch wieder naheliegender, sich für die Partei zu entscheiden, die das System komplett anzünden will – die FPÖ.
Dabei ist die FPÖ eigentlich der Kern des Problems. Sie ist nicht nur eine korrupte, sondern auch eine rechtsextreme Partei, ihre Nazi-Sager in diesem Jahrhundert lassen sich nicht mal auf 20 Händen abzählen. Sie will die Demokratie aushöhlen, die Polizei und Justiz unter Kontrolle bringen, die Medien auf Linie bringen und aus der EU austreten. Für ein kleines Land wie Österreich bedeutet das Massenverarmung. Und das ist noch ein sehr, sehr höfliches Wort dafür.
Aber all das fällt nicht mehr auf. Einfach, weil Herbert Kickls rhetorische Eskapaden kein Aufreger mehr sind. Weil es keine Aufreger mehr gibt. Wir haben uns zu Tode aufgeregt. Und jetzt wählen wir einfach das Brutalste, damit wieder Ruhe ist.
Bis es wieder wirklich ruhig wird in Österreich. Und wirklich gefährlich.
Arbeiten wir daran, dass das nicht passiert.
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🔍 Eindrücke aus dem U-Ausschuss. Ich darf ja in dieser „Saison“ – sagt man Saison dazu? – im U-Ausschuss dabei sein. Dabei ist mir unter anderem aufgefallen, dass es zwei Arten von Kontrolle gibt: Die echte Aufklärung und „Scheinaufklärung“, mit der man so tut, als wäre man an seriöser Arbeit interessiert. Ein Beispiel dazu hab ich in der MATERIE aufgeschrieben.
🇵🇱 Was alles möglich ist, wenn die Rechten abgewählt sind: Polen überrascht durch deutliche Klimaziele. Und I know, Ziele sind das eine, die Umsetzung das andere. Aber es ist schon ein Grund zur Hoffnung, dass Stillstand im Klimaschutz nicht die Regel ist, sondern die Ausnahme. Zumindest in EU-Europa. Mehr bei POLITICO.
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