Manchmal verstehe ich nicht, was in Österreich ein Skandal ist und was nicht.
Ich meine, ich verstehe es als jemand, der Politik und Medien beobachtet. Es gibt Momente, in denen Ungerechtigkeiten, die teilweise jahre- oder sogar jahrzehntelang bekannt sind, zum wiederholten Mal in der Öffentlichkeit aufpoppen und auf einmal werden sie zu viel. Und manchmal hört man neues Konkretes zu allgemein bekannten Problemen - und ignoriert sie, weil man noch nicht ganz genug davon hatte.
Aber als Staatsbürger verstehe ich nicht, warum die “nassen Fetzen” nicht viel öfter zum Einsatz kommen.
Falls nicht klar ist, worum es mir geht:
Ein Teil der Corona-Hilfen, von denen Unternehmer:innen in der Pandemie immer wieder beklagten, dass sie nicht oder zu spät ankämen, ging also einfach an ÖVP-Vorfeldorganisationen. Weil der Seniorenbund - die Parteiorganisation - ist etwas anderes als der Seniorenbund - der Verein. Und weil man in Österreich alles zum Verein machen kann, geht es anscheinend auch, dass die Regierung Wirtschaftshilfen beschließt, die sie ihren eigenen Freunden austeilt. Angeblich wurden davon “Gehälter bezahlt”. Was trotzdem nicht erlaubt wäre.
Für mich ist völlig unverständlich, warum das nicht gerade angemessen als Skandal thematisiert wird, dass sich eine Regierung ganz offensichtlich illegal mit Steuergeld bereichert hat. Gerade die Regierungspartei, die besonders hart daran arbeitet, zum Synonym für “Freunderlwirtschaft” zu werden. Und dass es erst parlamentarische Anfragen gebraucht hat, um überhaupt rauszufinden, was mit dem Geld passiert, ist eigentlich schon eine Frechheit an sich.
Schmid AG fertig, Casinos-Affäre, Beinschab-Österreich-Tool, freundliche Informationen vor Hausdurchsuchungen, und dann das. Ich verstehe - es ist schwer, den Überblick zu behalten. Was die ÖVP auch g’scheit ausnützt: Sie arbeitet hart daran, dass am Ende nur noch übrig bleibt, dass “alle korrupt” sind. Obwohl es in allen aktuellen Ermittlungen im Wesentlichen um zwei geht. (Der beliebte Konter hierauf wäre “Aber die SPÖ”, als ob das irgendetwas ändern würde, dass eine andere Partei auch völlig unwählbar ist.)
Aber wieso ist das alles kein Mega-Skandal, der zu politischen Konsequenzen führt? Wie kann das so ein Nebenthema sein, dass sich die Seniorenbund-Chefin Ingrid Korosec allen Ernstes überhaupt noch traut, öffentlich auszusprechen, dass man sicher nichts zurückzahlen werde? Als ob es eine Frechheit wäre, dass Steuergeld, das nicht an Parteien fließen darf, doch bitte von der Partei zurückbezahlt werden solle.
In dieser Causa wünschte ich mir, es wäre wie bei der Wirtschaftsbund-Affäre. Was man so liest, wusste im Ländle jeder Bescheid, dass der Wirtschaftsbund Vorarlberg Inseratenkorruption betreibt und mit einem eigenen Magazin eine Art “Schutzgeldsystem” eingeführt hat. Auch die Rolle von Landeshauptmann Wallner (Unschuldsvermutung, bla bla) scheint vielen länger bewusst gewesen zu sein. Aber als es Ö1 einmal zu oft ausgesprochen hat, wurde die Geschichte plötzlich groß - und auf einmal diskutiert man darüber, ob der angebliche Saubermann Wallner sich noch lange als Landeshauptmann halten kann. Warum ist es nicht genauso bei den hier Verantwortlichen?
Immer, wenn ich mich dabei erwische, dass solche Themen nur beiläufig thematisiert werden, denke ich zurück an den Tag, an dem das Ibiza-Video veröffentlicht wurde. Ein befreundeter Journalist schrieb damals in den Gruppenchat, es würde sich nichts ändern. Aber das war der riesige Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Und es war fast schon befreiend, endlich zu sehen, wie korrupte Versprechen zu Konsequenzen führten.
Dass wir in Österreich Korruption so dermaßen erlernt haben, ist ernüchternd. Und ich wünschte mir, dass wir uns mit all diesen Skandalen ernsthaft als solche beschäftigen würden. Denn nur das führt dazu, dass wir nach 35 Jahren endlich einmal die große Stärke der Demokratie ausspielen: Die Korrupten für ihr Verhalten zur Rechenschaft zu ziehen und abzuwählen.
Noch mehr Lesestoff
☀️ Hat hier jemand Kipppunkte gesagt? Das Weltklima könnte schon bald soweit sein, dass es kein Zurück mehr gibt. ORF.at schreibt:
Hochwasser im vergangenen Sommer, ausbleibende Niederschläge und damit zahlreiche Waldbrände – das kippende Klimasystem hinterlässt auch in Österreich merkbare Spuren. Doch das könnte nur die Spitze des Eisberges sein. Wird nicht sofort gehandelt, kippt das Klima immer weiter. Satellitendaten aus dem Amazonas-Regenwald und der Antarktis zeigen, dass der Teufelskreis bereits begonnen haben könnte.
🚩 Zum linken Populismus. Robert Treichler schreibt im PROFIL über Jean-Luc Melenchon, den Kandidaten der Linken in Frankreich. Mehrere linke Parteien haben sich zusammengeschlossen, um bei den Parlamentswahlen zu gewinnen - und Präsident Macron zu zwingen, einen von ihnen zum Premierminister zu machen. Was er so denkt und warum nicht nur die Rechten gefährlich sein können, zeigt dieser Artikel.