Habt ihr euch schon von der Bundespräsidentschaftsstichwahlwiederholung 2016 erholt? Ich auch nicht. Die politische Lage ist seitdem kaum ruhiger geworden, es gab in der Zeit drei Regierungen (statt wie geplant einer), und durch Ibiza und Sebastian Kurz ist die österreichische Politik um einiges schmutziger geworden. Ich erinnere mich also mit einem Schmunzeln daran zurück, als wir 2016 diskutiert haben, ob es den Bundespräsidenten überhaupt braucht.
Stand Dezember 2021 gab es 125 Angelobungen unter Bundespräsident Alexander Van der Bellen. Er hat nicht nur die traditionellen Neujahrsansprachen gehalten, sondern dem Land auch nach dem Ibiza-Skandal und nach den Chat-Protokollen einen Kurs gegeben. Stichwort „So sind wir nicht“, aber auch Stichwort „Jetzt ist schon wieder was passiert.“
Jetzt wird viel darüber geredet, ob er es nochmal macht. Aber ich glaube, er hat gar keine andere Wahl.
Denn als Bundespräsident hast du eine gewisse Verantwortung.
Van der Bellen weiß nach den vergangenen Jahren genau, was das heißt. Und ich glaube auch wirklich, dass seine erste Priorität ist, dass Österreich in guten Händen ist. Sein Privatleben und wie er den Rest seiner Jahre plant, ist zweitrangig - wichtig ist, dass das Land funktioniert.
Das stellt Van der Bellen vor ein Dilemma. Denn selbst wenn wir annehmen, dass er nicht mehr antreten will - nach den letzten Jahren könnte man ihm eine Pause auch wirklich nicht absprechen -, muss er immer auch bedenken, wer nach ihm kommen könnte. Und momentan glaube ich nicht, dass ihm diese Aussicht gefällt.
Szenario 1: Van der Bellen tritt wieder an.
In diesem Szenario ist allen ziemlich klar, dass er auch wieder gewinnt. Österreich hat noch nie einen amtierenden Bundespräsidenten abgewählt - warum sollte es gerade jetzt anders sein, nachdem uns dieser durch Korruptionsskandale und die Corona-Pandemie begleitet hat? An der Amtsführung von Van der Bellen mag der ein oder andere etwas auszusetzen haben, ich zum Beispiel hätte mir deutlichere Worte zu den Chat-Protokollen von Sebastian Kurz gewünscht. Aber im Großen und Ganzen war er solide.
Mittlerweile haben auch einige angekündigt, erstmal abzuwarten, was Van der Bellen macht. Denn sowohl in der SPÖ als auch in der ÖVP sind die Bedenken groß: Wen will man denn schon schicken, der eine ernsthafte Chance gegen den amtierenden Präsidenten hätte? Mit welchem Argument schickt man diese Person ins Rennen, und wer gibt sich dafür überhaupt her? Eine Unterstützung für eine Wiederwahl ist nicht unwahrscheinlich.
Die NEOS könnten sich das vermutlich auch vorstellen, die Grünen wollen ihren Ex-Parteichef ohnehin wieder unterstützen. Bleibt die FPÖ. Die könnte Herbert Kickl himself schicken, wenn sie darauf spekuliert, dass die Regierung dieses Jahr hält: Man müsste Kickl monatelang ein Mikrofon geben und dieser könnte von der „Einheitspartei“ schwafeln, um Impfgegner:innen abzuholen. (Aber auch andere, die mit dem politischen System schon lange nichts mehr anfangen können.)
Und dann gibt es noch Marco Pogo, den seriösen Satirekandidaten, und den gescheiterten Ex-Politiker Gerald Grosz, der sein Geld sonst mit intellektuell anregenden Tätigkeit als Rechtsaußen-Parodie auf OE24 verdient. Auf diese Kandidatur freue ich mich besonders: Erstens nimmt sie der FPÖ ein paar Stimmen weg, zweitens finde ich ihn einfach ganz ehrlich lustig.
Szenario 2: Van der Bellen tritt nicht an
Was ändert sich aber, wenn Van der Bellen nicht mehr will? Dann müssen SPÖ und ÖVP nicht lange überlegen - bis 2016 haben schließlich immer sie den Bundespräsidenten gestellt, und es ist unwahrscheinlich, dass sich der Erfolg eines Kandidaten ohne Großpartei im Hintergrund so leicht wiederholen lässt.
Die SPÖ würde höchstwahrscheinlich auf Doris Bures setzen. Sie galt schon nach der letzten Wahl als logische Kandidatin, ist in der Partei gut vernetzt und seit Faymann-Tagen mächtig. Die Frage ist, ob das letzte Mitglied der Liesinger Partie wirklich österreichweit überzeugen kann - ich würde nicht darauf wetten.
Die ÖVP hat noch keinen Kandidaten positioniert, würde aber wohl jemanden finden. Lustig wäre natürlich, wenn sie wirklich den Tiroler Landeshauptmann Günther Platter schickt, wie kurz aus seinem Bundesland angedeutet wurde, aber sowohl eine Kandidatur als auch eine Mehrheit für ihn wären eher unwahrscheinlich. Spannend wäre Brigitte Bierlein: Sie bringt nicht nur ein unparteiisches Image und Bekanntheit mit, sondern auch das beste Argument gegen die SPÖ: Immerhin haben Rendi-Wagner und die SPÖ ihre Amtsführung zwischen Kurz I und Kurz II besonders gelobt.
Die FPÖ könnte doch noch einmal Norbert Hofer probieren, sofern die Beziehung zwischen Herbert Kickl und ihm noch einigermaßen intakt ist. Davon gehen aber nicht mehr zu viele aus, und Hofer hat einiges an Strahlkraft verloren. Es könnte also auch hier auf Kickl hinauslaufen. (Oder aber wir erleben das gleiche wie 2016: Ein Kandidat, dem zunächst keine Chance gegeben wird, schafft es plötzlich auf Anhieb in die Stichwahl.)
So oder so lautet für Van der Bellen die Überlegung: Wer gewinnt die Wahl, wenn ich nicht mehr antrete?
Die letzten Jahre haben gezeigt, dass die FPÖ und die ÖVP sich durch (mutmaßliche, Unschuldsvermutung, eh) Korruption selbst stark beschädigt haben. Darunter leiden nicht nur die Umfragewerte dieser Parteien im Vergleich zu 2017, sondern auch das Vertrauen der Bevölkerung in die Politik an sich. Dass Sebastian Kurz statt der üblichen „Ja und?“-Strategie eine Kampagne gegen die unabhängige Justiz angefangen hat, dürfte Van der Bellen nicht gefallen haben. Daher muss er sehr vorsichtig sein, wer nach ihm in die Hofburg einzieht, um auf diese Vorgänge ein Auge zu behalten.
Denn weder Ibiza noch die Chat-Affäre sind abgeschlossen. Ein neuer U-Ausschuss, der sich mit den Korruptionsvorwürfen gegen die ÖVP beschäftigt, soll noch im Frühling starten, und es ist nicht davon auszugehen, dass die Volkspartei wieder schwarz und brav ist, ohne da ihre eigenen Leute retten zu wollen. Weder die Angriffe auf die Justiz, noch das als Staatsbürger traurig anzusehende Schauspiel der Politik werden auf absehbare Zeit aufhören. Will man da wirklich jemanden mit ÖVP-Hintergrund in der Hofburg?
Meine Wette ist, dass Van der Bellen es nochmal macht.
Es steht einfach zu viel auf dem Spiel. Die SPÖ scheint momentan nicht in der Lage sein, Wahlen zu gewinnen. Die ÖVP ist auf absehbare Zeit noch beschädigt, ihre Affären der letzten Jahre sind noch nicht aufgearbeitet. Und ein FPÖ-Bundespräsident wäre zwar unwahrscheinlich, aber aus ganz anderen Gründen eine Katastrophe, gerade für den früheren Parteichef der Grünen. Wie soll sich Van der Bellen also in seine Pension verabschieden, wenn nicht klar ist, wer in Zukunft auf Österreich aufpassen soll?
Mal abgesehen davon, dass sich die Parteien erst darauf einigen müssen, ob und wenn ja, wen sie ins Rennen schicken: Mir fiele keine offensichtliche Wahl ein, die das Amt besser ausführen würde als Van der Bellen. Wenn also kein Wunderwuzzi mehr überrascht, ist für mich eh schon klar, wie es ausgehen wird. Und ich glaube, VdB weiß das auch.
Insofern: Mehr denn je.
Noch mehr Lesestoff
📱 Angeblich sehen Kinder in Schweden TikToks über einen Krieg, der nicht stattfindet. Die Frage ist jetzt: Ist das russische Desinformation auf TikTok? Oder ist die Behauptung, es wäre russische Desinformation, die echte Desinformation? Ryan Broderick, einer meiner Lieblings-Internetmenschen, hat dazu wie immer eine sehr gute Einordnung. (Garbage Day)
And considering there are reports this morning that the Biden administration is considering deploying troops to Ukraine, I think it is probably worth questioning any and all narratives surrounding Russian internet campaigns. The international online attention economy is a war zone and there is a lot of money being spent right now to not just win it, but define the very nature of it. This is especially true for TikTok, a platform we are still trying to understand. And, in this case, it seems like Swedish teenagers are being PsyOp’d by, well, their own media and each other.
🤐 Nur noch elf Prozent verbinden die ÖVP mit Anstand. Neue Daten zeigen, wie sehr das Image der Volkspartei durch Kurz und Schmid gelitten hat. 69 Prozent sagen, dass ÖVP-Politiker:innen in Skandale verwickelt waren, und nur 15 Prozent würden behaupten, die Partei stehe für eine gerechte Gesellschaft. (Der Standard)
Ich habe Fragen:
Wenn nur 11 % sagen, die ÖVP stehe für Anstand, aber sie in Sonntagsfragen im Mitte-20-Prozent-Bereich steht - glaubt die Differenz, dass alle keinen Anstand haben, aber die Volkspartei am ehesten?
Und wenn ja, warum?
Wie groß ist die “Firewall” derer, die immer ÖVP wählen werden, no matter what? (Wenn ich raten müsste: 18 %.)