In den letzten Tagen, Wochen, eigentlich Monaten poppt immer wieder auf, dass wir bald™ über die Impfpflicht reden müssen. Aber wann ist eigentlich der perfekte Zeitpunkt, um sie politisch wirklich in Erwägung zu ziehen?
Zuerst ein Disclaimer: Ich tu mir damit wirklich schwer. Als tendenziell liberaler Mensch will ich eigentlich niemandem vorschreiben, was man mit seinem Körper zu tun hat. Andererseits sehe ich absolut nicht ein, dass im Herbst und Winter wieder Lockdowns oder andere Einschränkungen drohen, weil andere Menschen zu deppert sind, eine richtige Entscheidung zu treffen. Und das geht weit über Bequemlichkeit hinaus - wenn sich zu wenige Menschen impfen lassen, ist das nicht nur unangenehm für wohlsituierte Consultants, sondern bedeutet auch, dass die Nachtgastronomie sofort wieder zusperrt und der Tourismus leidet. So thanks, Spinner-Fraktion.
Was für und gegen eine Impfpflicht spricht
Die Vorteile einer Impfpflicht liegen auf der Hand: Mehr Menschen sind gegen eine potenziell tödliche Krankheit geschützt und damit auch keine Gefahr mehr für andere. “Weniger Tote” ist ein sehr gutes Argument für ungefähr jede politische Maßnahme, daher tut man sich auch schwer damit, dem zu widersprechen. Die Frage ist aber, wie viel eine Impfpflicht wirklich bringen würde und welche Probleme wir übersehen, wenn wir das so einfach diskutieren.
Denn es gibt Beispiele dazu, dass eine Impfpflicht nicht viel bringen könnte. Das zeigt auch Italien, wo es schon 2017 eine Art dieser Pflicht gab, die für zwölf Krankheiten gelten sollte.
Die Schar Impfgegner, die jüngst in Rom und anderen Städten gegen die Einführung der Kinderimpfpflicht demonstrierte, war überschaubar. Dabei enthält die Verordnung der Regierung einige „Kampfansagen“ an dieses Klientel: Ohne Impfung kein Platz in der Kinderkrippe oder im Kindergarten, dazu Bußgelder bis 7.500 Euro und sogar bis zum Verlust der Fürsorgepflicht. All das gilt seit dem 8. Juni in Italien. Die Impfpflicht wurde für insgesamt zwölf Krankheiten eingeführt, unter anderem für Masern, Hirnhautentzündung und Tetanus, sowie Kinderlähmung, Mumps, Keuchhusten und Windpocken. Hintergrund ist eine Masernepidemie in Italien. Nach 860 Fällen im vergangenen Jahr wurden heuer bereits 2.395 Fälle registriert, fast 90 Prozent der Kinder waren nicht geimpft.
Wohl keine medizinische Innovation hat mehr Leben gerettet als Impfungen – und doch überlegen einige Eltern in Südtirol ernsthaft, nach Nordtirol auszuwandern, um ihre Kinder nicht impfen lassen zu müssen.
Eine Gefahr, die auch einige Expert:innen sehen, ist, dass Impfgegner:innen sich und ihre Kinder weiterhin nicht impfen lassen - und die Konsequenzen ertragen. Das mag zwar eine schöne Einnahmequelle für den Staat sein, bringt aber im Endeffekt nichts für das Ziel der Herdenimmunität und kann dazu führen, dass sich diese Leute - darunter nicht nur, aber sicher auch Verschwörungstheoretiker:innen und Radikale - komplett radikalisieren. Nach dem Motto: “Wenn der Staat etwas Richtiges vorschreiben muss, kann es nicht richtig sein - und die Gesundheit meiner Kinder riskiere ich nicht!”
Dass gerade die “Argumente” gegen die COVID-Impfungen erfundener Schwachsinn sind, zählt dabei nicht. Es ist völlig egal, dass sowohl die Dokumente der europäischen Arzneimittel-Agentur und der als auch zahlreiche Studien zu den Impfstoffen öffentlich und transparent sind - das liest keiner, das versteht keiner. Wir müssen einsehen, dass ein großer Teil der Bevölkerung anfällig für Falschinformationen ist und einige in einer echten Parallelwelt leben - und eine Pflicht wird sie stören, aber eher nicht umstimmen.
Die Impfpflicht muss Ultima Ratio bleiben
Insgesamt bin ich der Meinung, dass die Impfpflicht eine ultima ratio bleiben muss. Sie wäre nur dann gerechtfertigt, wenn wir im Winter wirklich nur so ein Massensterben verhindern könnten. Und angesichts dessen, dass aktuell schon 58 % der Österreicher:innen einen vollständigen Impfschutz haben und Maßnahmen wie Tests oder Masken nicht aus der Welt sein werden, gehe ich nicht davon aus, dass ein solches Worst-Case-Szenario eintreten wird.
Eine Impfpflicht ist ein starker Eingriff in die Freiheit der Menschen - auch, wenn dieser Eingriff gerechtfertigt und sinnvoll wäre. Letztendlich sollte es auch erlaubt sein, dumme Entscheidungen zu treffen, solange die Rahmenbedingungen das irgendwie zulassen. Darum finde ich, dass es noch einige Eskalationsschritte geben muss, bevor wir eine Impfpflicht einführen:
Mehr kreative Lösungen, um mehr Leute zur Impfung zu bewegen. Das heißt, dass man nicht nur niederschwellige Impfangebote machen muss - in Oberösterreich kann man sich im IKEA impfen lassen, in Wien fährt das Impfboot an der Alten Donau -, sondern dass man auch aktive Aufklärungsarbeit leisten muss, um die zu erreichen, die keine Verschwörungstheoretiker:innen sind, sondern einfach nur skeptisch.
Das Testangebot muss winterfest gemacht werden - PCR-Tests sollen einfach verfügbar sein und Sicherheit geben, dass man auch ungeimpft keine Gefahr für andere ist. Wien macht das mit “Alles gurgelt” schon lange vor, und auch in anderen Bundesländern geht es langsam los. (Wie lange diese Tests noch vom Staat bezahlt werden und wie lange Verantwortungsvolle noch Impfgegner:innen durchfinanzieren sollen, ist eine andere Frage.)
Wenn die Fälle steigen - und dank Delta-Variante und niedrigen Temperaturen (und damit einhergehenden Indoor-Treffen) werden sie wieder steigen - muss es auch möglich sein, Geimpfte zu bevorzugen. Ja, du musst dich nicht impfen lassen. Aber es gibt auch kein Recht darauf, andere anstecken und auf Impfung, Tests und Masken zu verzichten. Hier geht die Gesundheit der Mitmenschen vor. Auch das sollte Anreiz genug sein, sich endlich impfen zu lassen.
Auf diese Art hoffe ich, dass wir durch die Pandemie kommen, ohne dass sich die Lage auf den Intensivstationen den Daten von März und April annähert. Aber wenn alles nichts hilft, können wir hin und her diskutieren, was wir wollen - dann wird eine Pflicht kommen müssen, ob sie etwas bringt oder nicht. Wenn die Fälle entsprechend steigen und die Intensivstationen wieder ans Limit kommen sollten, steht das über dem Recht darauf, unbedingt falsch liegen zu dürfen - das ist keine schöne moralische Abwägung, aber eine, die die Politik treffen muss.
Man soll aber nicht sagen, dass wir es nicht anders versucht hätten.