Wer cancelt hier wen?
Mit Bedauern teile ich euch mit, dass es in dieser Mail um Elon Musk geht
Eigentlich will ich ja nicht über Nicht-Themen schreiben. Und die sogenannte „Cancel Culture“ ist für mich so ein Nicht-Thema – einfach weil ich glaube, dass man in Österreich im Wesentlichen alles sagen kann, was man will.
Und ja, ich höre die Gegenkommentare jetzt schon. „Ich habe aber mal was gesagt und dann hatte ich Konsequenzen“, hör ich euch tippen. Ich meine auch nicht, dass alles ohne Konsequenzen möglich ist, weil wir in einer polarisierten Zeit leben. Aber anders als bei Erzählungen aus den USA, die man dafür gerne zitiert, wird man in Österreich eher schwer seinen Job verlieren, wenn man die „falsche Meinung“ vertritt. (Es sei denn, man ist in der Politik – und da ist das wohl schon länger so.)
Heute reden wir trotzdem kurz über ein Nicht-Thema.
Und zwar über Elon Musks Auftritt bei „Dealbook“. Ein gar nicht so kurzes Interview, in dem es um mehrere Themen geht, aber eines dominierte danach die Schlagzeilen: Das „Go Fuck Yourself“ des X/Twitter-Chefs zu abtrünnigen Werbekunden.
Auf der einen Seite stellt sich Musk als Held dar. Immerhin habe er mehr für das Klima getan als jeder andere Mensch auf dem Planeten. Ich will seinen Einfluss sicher nicht schmälern – egal was man von ihm hält, Tesla ist eine gute Idee und war eine wichtige Entwicklung für den Start des E-Auto-Marktes. Aber es ist dermaßen unbescheiden vorgetragen, dass es schon peinlich ist.
Auf der anderen Seite musste Musk auch betonen, dass er kein Antisemit sei. Immer super, wenn man das überhaupt klarstellen muss. Aber Musk ist eben ein Troll, und sein eigenes Verhalten auf der Plattform wird nicht nur von Tech-Journalisten und Nerds, sondern von Werbekunden auf der ganzen Welt beobachtet.
Was war passiert? Große Marken wie Apple, Disney und IBM haben angekündigt, in Zukunft nicht mehr auf X/Twitter zu werben. Grund ist auch die Ausrichtung unter Elon Musk. Er twitterte kürzlich „You have said the actual truth“ unter ein Posting, das die Verschwörungstheorie des „Great Replacement“ vertritt.
Wer diese Theorie nicht kennt, no worries. Bei uns nennen es die Identitären „Großer Austausch“, und bei uns richtet sie sich öfter gegen Muslime. Im Ausgangstweet ging es aber um Juden und deren angeblichen Rassismus gegen weiße Menschen. Ziemlich dumm und sicher nichts, was man als zwischendurch reichster Mann der Welt einfach mal mit Zustimmung versehen muss.
Dass große Unternehmen mit diesem Verhalten nicht assoziiert werden wollen, ist verständlich.
Da geht es nicht nur um ein paar Snowflakes, die bei jeder einzelnen Äußerung verlangen, dass die ganze Welt die Kontaktschuld zu Menschen wie Elon Musk beendet – da geht es um die grundsätzliche Ausrichtung des Unternehmens und die Frage, was man mit sehr viel Geld unterstützt und was nicht.
Wenn ich heute die Kommunikation in einem Unternehmen managen würde, hätte ich wahrscheinlich noch keinen X/Twitter-Rückzug angeordnet. Aber wir in Österreich sind da entspannter: Was anderswo zu Rücktritten führt und als Skandal betrachtet wird, ist ein ruhiger Mittwoch mit nur zwei FPÖ-Neonazi-Sagern und drei Korruptionsgeschichten. Die Intensität der Debatte um die sogenannte Cancel Culture wird bei uns deshalb oft belächelt – aber Disney kann und will es sich nicht leisten, für den neuen Familienfilm direkt neben rechtsradikalen Inhalten zu werben.
Und ja, das ist für mich schon auch eine politische Frage. Denn auch, wenn man nicht der Meinung ist, dass alles politisch ist, ändert das nichts an der Tatsache. Das heißt nicht, dass ich dafür bin, der Kontaktschuld nachzugeben und man sofort Werbegelder von X/Twitter abziehen muss. Wem der Kurs eines Unternehmens, das dort wirbt, nicht gefällt, kann ja ebenfalls Konsequenzen daraus ziehen – we vote with our wallet.
Aber Musk dreht den Spieß um.
Denn er ruft zum Boykott an Disney auf, eben weil Disney ihn boykottiere. Wobei Disney immerhin einen Grund für eine Unternehmensentscheidung angibt – während Musk aktiv dazu aufruft, einfach, weil ihm Disney schaden würde. Und seine Fans folgen.
Kurz gesagt: Der reichste Mann der Welt tut so, als wäre er ein Opfer der „Cancel Culture“, weil Unternehmen auf seine Kommentare reagieren – und ruft dann seine eigene Fangemeinde aktiv dazu auf, besagte Unternehmen zu canceln. Und der Mob folgt.
Ich finde, diese Causa zeigt sehr schön den Doppelstandard in der öffentlichen Debatte, wenn es um Kritik geht: Kritik an mir selbst ist grundsätzlich gesteuert, bösartig und sagt einiges über die Gesellschaft aus, während Kritik von mir freie Meinungsäußerung am freien Markt der Ideen ist.
Rückblickend werden wir die Debatten dieser Zeit als extrem merkwürdig beurteilen.
Das denke ich mir generell oft, wenn ich an die Zukunft denke. Ich glaube, vieles von dem, was heute zu polarisiertem Schwarz-Weiß-Streit führt und den „Kulturkampf“ ausmacht, wird in 10-20 Jahren in einen relativ ruhigen, sachlichen Kompromiss übergehen.
„Es gibt so etwas wie biologisches Geschlecht, aber der Staat muss daraus keine großen Konsequenzen ableiten“ wäre so eine Frage. Oder „wir brauchen qualifizierte Zuwanderung, aber auch für Migranten gelten Regeln“. No-Brainer zu Themen, die gerade keinen Common Sense zulassen, weil unsere Hirne in den letzten Jahren einfach geschmolzen sind und wir immer irgendeine Sau brauchen, die wir durchs Dorf jagen.
Und für Cancel Culture bedeutet das eben: Sollen doch alle machen, was sie wollen. Streame Disney+ oder kündige es, wenn dir deine Loyalität zu Elon Musk wichtiger ist. Wirb auf Twitter oder lass es, wenn du den Schaden für deine Reputation zu arg bedroht siehst. Gut werden es sowieso nie alle finden – und ich glaube, gerade für uns Nicht-Internationale-Konzerne / Menschen ist das eine absolut ausreichende Lösung.
Ich stelle jedenfalls interessiert fest, was das Beispiel Musk für mich zeigt: Es gibt einen Schlag von Menschen, die sich unprovoziert durch entbehrliche Aussagen selbst ins Abseits stellen, um danach keinerlei Einsicht zu haben, dass andere dazu auch eine Meinung haben. Die Kritik an der Aussage ist für sie die eigentliche Cancel Culture – und nicht der eigene direkte Boykottaufruf.
Warum mich dieses Beispiel so nervt? Weil wir doch alle jemanden kennen, der das so interpretiert. Die kritikresistenten Deppen, die permanent ihren Scheiß raushauen und dann nicht ansatzweise den Willen haben, andere Meinungen zumindest grundsätzlich zuzulassen, werden nicht nur lauter. Mir kommt vor, sie werden mehr. Und Elon Musk ist in vielen Fällen ihr Säulenheiliger.
Dieser Newsletter dient ja eurer Unterhaltung mindestens genauso wie meiner Psychohygiene. Und ich glaube, es würde nicht nur mir gut tun, das ein oder andere schnelle Twitter-Take stattdessen zu einem längeren, seriöseren Argument auszubauen. Ich hatte heute aber keinen Lust, mit Musk-Anhängern und anderen lauten Kritikunfähigen zu streiten, also hab ich’s hier aufgeschrieben. Vielleicht ist das ja schon ein Anfang.
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🧬 Golden Age of (Bio-)Technology anyone? Ich glaube, wir sind in einem. Immerhin häufen sich die guten Nachrichten deutlich - seit wir die neue Art von Impfstoff entwickelt haben, schaut es so aus, als würden wir bald schon einige Arten von Krebs besiegt haben. Und auch im ECONOMIST hat mich in letzter Zeit eine gute Headline mit einem genauso guten Artikel gepackt: Living to 120 is becoming an imaginable prospect
👋 Ich hab hier noch was zu Reformen. Weil ja nächstes Jahr zwei U-Ausschüsse anstehen, dachte ich, es wäre eine gute Zeit darauf hinzuweisen, was man alles noch mit dieser Zeit machen könnte. Denn egal, was die wirklich bringen werden – wir wissen längst alles, was wir wissen müssen, um Korruption zu verhindern. Komischerweise wird es nicht umgesetzt. Lest hier fünf Vorschläge.
🎙️ Und noch ein neuer Podcast. Mein Kollege Fari Ramic war bereits in drei U-Ausschüssen und wird auch in den nächsten beiden sitzen. Er ist also ein guter Gesprächspartner für Polit-Gossip. Unsere Art von Humor ist vielleicht ein bisschen hart durchgekommen in der Folge, aber ich glaube und hoffe, sie ist interessant. Hier geht’s zum Podcast.