Wie man Debatten schaut
Als 30-jähriger bin ich noch nicht in dem Alter, in dem ich mich oft auf meine hohe Lebenserfahrung berufen kann. Politik verfolge ich in etwa mein halbes Leben, aber das sind eben „nur“ 15 Jahre – nichts, womit man vor Leuten angibt, die seit 45 Jahren „was mit Politik“ machen und eine direkte Linie von Kreisky zu Babler imaginieren können. In einem aber glaube ich, dass ich ganz gut bin.
Ich bin richtig gut im Debatten schauen.
Ob es darum geht, Strategien herauszulesen oder darum, Talking Points vorherzusagen: Ich glaube, ich verstehe diese Nische ganz gut. Ich bin zwar nur 30, aber gefühlt zehn dieser Jahre habe ich damit verbracht, mich mit Politsprech zu beschäftigen, mit Reden, Campaign Ads und sonstigem Wahlkampfzeug, von der Kennedy-Nixon-Debate bis zu meiner Masterarbeit über den Einfluss von Memes in der politischen Kommunikation.
In diesem EU-Wahlkampf ist mir schon öfter passiert, dass ich direkt vor einer Antwort (meist einem unnötigen Wordrap mit Wartezeit davor) vorhergesagt habe, was jetzt kommt und warum. Und da mich ein paar politische, aber nicht ganz so polit-nerdige Freunde gefragt haben, worauf ich da schaue – und jetzt hoffentlich auch die weiteren Debatten schauen! –, dachte ich, ich beantworte eine Frage öffentlich. Nämlich die, worauf ich bei einer TV-Debatte schaue.
10 Dinge, auf die ich schaue
Welche Zielgruppen werden angesprochen? Mit der Erwähnung von Stakeholder-Gruppen geben Parteien oft auch Einblicke darin, wen sie ansprechen wollen. Damit sieht man auch die ein oder andere Änderung der Parteitaktik. Die FPÖ spricht im EU-Wahlkampf etwa auffällig oft von Bauern. Schielt da jemand in Richtung der deutschen Bauernproteste? Wenn man darauf achtet, wer erwähnt wird, wird vieles offensichtlich.
Wer greift wen an? Strategischer Konflikt ist wahrscheinlich eines der wichtigsten strategischen Ziele in einer TV-Debatte. Ein Angriff lohnt sich 1) zur Abgrenzung oder 2) zum Wählerfang. Wenn Reinhold Lopatka die FPÖ attackiert, will er ihre Wähler nehmen, darum argumentiert er mit der „verlorenen Stimme“. Wenn Helmut Brandstätter es tut, zeigt das eher ein Standing: „Wir sind der stärkste Gegner der FPÖ.“
Wann wird nicht angegriffen? Das umgekehrte Extrem ist nämlich auch interessant: Welcher Angriff nicht genutzt wird. Wenn etwa Harald Vilimsky sich schützend vor Lena Schilling stellt, passiert das eher nicht, um grün-blaue Swing Voter anzuziehen, sondern eher, weil es zum Narrativ „alle gegen FPÖ“ passt. Vilimsky attackiert nicht, er wird attackiert, und zwar von allen – diesen Spin will die FPÖ in den Debatten verkaufen. (Bislang eher erfolglos.)
Womit wird attackiert? Je sachlicher der Vorwurf, desto weniger wird er durchschnittlich interessierte Menschen wohl interessieren, denn Sachpolitik hat in Österreich keine Tradition. Bezeichnend finde ich zum Beispiel, dass es kaum eine Debatte darüber gibt, dass Harald Vilimsky nachweislich Pro-Putin-Politik macht, wie eine Analyse seines Abstimmungsverhaltens zeigt. Viel besser, weil emotionaler und leichter verständlich, ist da das Selfie in Moskau.
Welche Themen werden mitgebracht? Politiker geben nicht nur Antworten auf die Fragen, die gestellt werden, sondern auch auf die, die nicht gestellt werden. Obwohl noch niemand danach gefragt hat, spricht Andreas Schieder etwa immer wieder von unbezahlten Praktika und europäischen Mindestlöhnen. Für ihn ist es nur mehr Aufwand, zu dieser Antwort zu kommen – er muss sie sich selbst auflegen. Das verrät einiges darüber, was eine Partei nicht nur für wichtig, sondern vor allem für eine „winning issue“ hält.
Welche Themen werden ausgespart? Nicht jeder muss zu allem eine Meinung haben – ab und zu ist es zwischen zwei Extremen gemütlich, und eine zu genaue Positionierung würde schaden. Wenn es um den Kulturkampf ums Auto geht, kann es der SPÖ zum Beispiel nur recht sein, in der Mitte zu landen: Sie will sowohl das Pro-Klimaschutz-Image aufbauen (das ich für relativ unglaubwürdig halte), als auch die Generation „Auto ist Aufstieg“ bei der Stange halten. Sie wird bei dem Thema also eher nicht um das Wort ringen.
Wann wird unterbrochen? Unterbrechungen sind nicht nur ein Zeichen schlechter Manieren, sondern auch ein strategisches Element. Man redet vor allem dann drüber, wenn einem etwas nicht passt. So ist es nicht überraschend, dass Harald Vilimsky in dieser gesamten Wahlsaison noch kein einziges Mal ruhig bleiben konnte, als der Freundschaftsvertrag der FPÖ mit Putin zur Sprache kam.
Wie ändert sich die Antwort durch Spontanität? Vieles ist vorbereitet – aber nicht alles. Wenn Kandidaten für das Fernsehen Pitches, Fragen an andere Kandidaten oder Wordraps vorbereiten, können sie das immer noch antizipieren. Aber in der Reaktion auf Live-Formate wird es wirklich spannend: Sitzt die einstudierte Strategie? Oder strauchelt man und weicht vom Thema ab, über das man eigentlich reden will?
Welches Image wird aufgebaut? Wahlkampagnen haben – wenn sie gut sind – ein Gefühl im Hintergrund, das wir haben sollen. Nur wenn wir das haben, gehen wir auch wirklich verlässlich zur Wahl: Inhalte trumpfen leider nicht. Darum finde ich spannend, wie die Debatten eher dazu beitragen, ein persönliches Standing zu etablieren. Reinhold Lopatka geht dieses Mal etwa stark in die Richtung, „ein Normaler“ zu sein: Er redet über Autos, über die Kirche, über das Leben am Land. Ich lese aus diesem Wahlkampf einen Rückzug auf die ÖVP-Kernklientel heraus – auch, weil ich glaube, dass es die Schadensreduzierung für die Nationalratswahl werden wird.
Wie wird die Debatte für weitere Kommunikation genutzt? Und damit ist nicht nur das Social-Media-Video danach gemeint. Ein Beispiel: Bei der Puls24-Elefantenrunde gab Lena Schilling dem ÖVP-Spitzenkandidaten einen Matchbox-SUV. Aber … warum eigentlich? Inhaltlich, um ihn mit dem Thema zu konfrontieren, aber handwerklich, um danach damit in Medien vorzukommen. Da niemand auf den Prank eingegangen ist, ging das eher unter und fällt unter die Kategorie cringe. Aber das ist das Risiko von Medienstunts. Die Alternative ist, weniger vorzukommen.
Ich glaube, wenn man diese Fragen im Hinterkopf behält, werden Debatten nicht nur spannender, sondern auch aussagekräftiger. Denn die Inhalte ändern sich selten, die kann man in der Regel erahnen. Und wegen ihnen wählen leider viel zu wenige. Wer aber weiß, auf wen eine Partei eigentlich schielt, weiß vielleicht am Ende auch etwas mehr als vorher – und zwar, woran man wirklich ist.
Warum ich auf diesen Text gekommen bin? Weil am Sonntag die Elefantenrunde auf Puls24 war, und ich einfach dachte, in der letzten Woche vor der Wahl ist es wahrscheinlich noch nicht zu spät, noch auf das ein oder andere Detail im Fernsehen zu achten – wer aber lieber on demand schaut, wird auf puls24.at fündig.
Schöne Wahlwoche | Stärken, was uns stark macht | NEOS wählen
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🇺🇳 Falls ihr mal über die Sustainable Development Goals oder die Agenda 2030 stolpert: Es gibt unzählige Verschwörungstheorien dazu, die natürlich alle Müll sind. Ich finde es immer süß, wenn so getan wird, als könnten sich alle Regierungen der Welt mit all ihren Rivalitäten und wechselnden Mehrheiten auf einen bösen, geheimen Plan verständigen – schon die guten, transparenten sind schwer genug. Über die Agenda 2030 und was wirklich dahinter steckt, habe ich in der MATERIE geschrieben.
Stuff aus dem Internet
Wem die Bierpartei wirklich schadet
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