Österreich rast auf die vierte Welle zu. Mehr Infizierte, mehr Menschen in den Krankenhäusern, mehr Vermeidbare auf der Intensivstation. Jetzt wäre es dringend Zeit, politische Antworten auf die Impfmüdigkeit zu finden und dafür zu sorgen, dass sich genügend Leute impfen lassen. Immerhin baut sich die Herbst-Welle heuer schon früher auf als letztes Jahr - und das, obwohl sich mehr als die Hälfte der Gesellschaft geschützt hat.
Ein Vorschlag dazu kommt von SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Sie fordert einen Impf-Hunderter, also 100 € für jeden, der sich jetzt noch impfen lässt.
Ich verstehe den Gedanken dahinter. Jetzt, wo wir so kurz vor der Freiwilligenwelle stehen, geht es darum, jeden Einzelnen zu überzeugen. Da ist kein Platz für Rachegelüste oder sonstige Emotionen - erwachsen ist es, einfach zu tun, was getan werden muss, um Menschen zur Impfung zu bewegen. Aber dieser Vorschlag ist aus mehreren Gründen nicht der richtige, um die Impfskepsis zu besiegen.
Falsche Anreize
Generell verstehe ich den Ansatz, dass man Menschen mit Belohnung dazu motivieren kann, das Richtige zu tun. Das Problem am konkreten Vorschlag ist nur: Wenn wir einen Impfhunderter einführen, belohnen wir damit jene, die gewartet haben.
Wer seit Februar, seit April oder seit Juli geimpft ist - je nachdem, in welcher Altersgruppe man ist, war es ja unterschiedlich, wann man endlich dran war -, hat sich aus einer Public-Health-Sicht heraus richtig verhalten. Verantwortung für die Allgemeinheit übernimmt, wer sich dagegen absichert, eines der voraussichtlich knappen Intensivbetten zu brauchen. Wer damit wartet, riskiert nicht nur die eigene Gesundheit - sondern nimmt auch in Kauf, Menschen zu schaden, die nichts falsch gemacht haben. So wie die zahlreichen Patient:innen, deren Operationen verschoben wurden.
Insofern müsste ein Impfhunderter rückwirkend gelten. Warum sollte ich keine Belohnung für richtiges Verhalten bekommen? Wieso Leute bevorzugen, die erst sehr spät draufkommen? Das kostet Geld - ein Hunderter für jeden Geimpften, das würde mit 6. September über 520 Millionen Euro kosten. Und das, wenn man nur die vollständig immunisierten bezahlt.
Es geht aber um noch etwas viel Grundlegenderes: Wollen wir in einem Staat leben, in dem positives Verhalten gefördert und negatives bestraft wird? Ich bekomme immerhin auch keine Belohnung dafür, Sport zu machen und damit wahrscheinlich keine Belastung für das Gesundheitssystem zu sein. Es gibt keine Prämie dafür, bei Rot nicht über die Ampel zu gehen. Keiner bezahlt mich dafür, dass ich mich an die Gesetze halte. Und das ist auch gut so.
Wer "Impf-Hunderter" sagt, ist nur zu feige für die Impfpflicht
Bestraft soll werden, wer die Gesetze nicht einhält. Gesellschaftlich erwünschtes Verhalten zu fördern und unerwünschtes zu sanktionieren, das bedeutet einen starken Eingriff in die private Lebensführung. Ideen wie diese sind zwar für sich allein harmlos, aber können weitergedacht in die Richtung des chinesischen “Social Credit Score” gehen - dort entscheidet das Verhalten der Bürger unter anderem darüber, wie kreditwürdig sie sind und ob sie noch fliegen dürfen.
Dazu kommt: Vorschläge wie der Impf-Hunderter sind ein sinnloses Rumlavieren, um die bittere Tatsache zu umschiffen, dass es einfach zu viele Menschen in Österreich gibt, die schlicht und einfach zu deppert sind. Wer soll es ihnen denn sagen?
Und ja, das ist natürlich undifferenziert. Aber let's face it: Zieht man alle "Ich hab mal gehört, dass ..."-Menschen ab, alle "Ich hoffe, dass die anderen es machen"-Freerider und alle, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen können, gibt es immer noch einen harten Kern von 20 %, die sich nie und nimmer impfen lassen werden, weil sie zu dumm sind. Weil sie lieber an die Bill-Gates-Verschwörung glauben, als sich einzugestehen, dass es Expert:innen nun mal besser wissen, und weil sie sich dafür besonders cool fühlen. (Darüber, warum es so schwer ist, viele dieser Leute umzustimmen, habe ich letzte Woche geschrieben.)
Diesen Menschen können wir nur viel Glück für den Winter wünschen und weiter versuchen, Maßnahmen zu erlassen, um damit umzugehen. Aber kein Hunderter und kein Tausender wird sie dazu bringen, sich impfen zu lassen.
Man kann argumentieren, dass die Impfung im allgemeinen Interesse ist und sich daher jeder impfen lassen soll. Aber wenn es drängt, sollte die Lösung nicht darin liegen, Geimpfte mit Geschenken zu lockern, bis genug Menschen durch Steuergeld endlich ihre Meinung geändert haben. Dafür fehlt uns längst die Zeit - und es wäre schlichtweg eine Verarsche für alle, die bisher alles gegeben haben, damit diese Pandemie endlich aufhört.
Ein "Impf-Hunderter", wie Rendi-Wagner ihn fordert, würde also nur jene belohnen, die bis jetzt keine Verantwortung übernommen haben, und damit falsche Anreize setzen. 100 € mögen noch ein-zwei Leute dazu bringen, die eh darüber nachgedacht haben - aber sie ändern nichts am strukturellen Problem, dass ein großer Teil der Gesellschaft sich von der Realität verabschiedet hat. Die Ultima Ratio heißt immer noch Impfpflicht - es traut sich nur noch niemand, das laut auszusprechen.
Euer immer mehr an die Impfpflicht glaubender