Wir können nur noch Culture War
Warum wir nicht aufhören können, immer das Schlechte im anderen zu sehen
Wenn du auf diesen Newsletter geklickt hast, weißt du sicher schon, was der Culture War ist. Und trotzdem tun wir uns wahrscheinlich beide schwer, diesen Catch-All-Begriff zu definieren.
Mit Culture War meine ich so gut wie alles, was momentan an polarisierten Debatten auf der Welt passiert. Klima und Corona sind die beiden Beispiele, die mich in fast jede Newsletter beschäftigen. Aber es geht um noch mehr: Der Culture War befasst sich mit ungefähr allem.
Er umfasst die politische Debatte in den USA zwischen radikalisierten Republikaner und langsam nach links rückenden Demokraten. Er umfasst Flüchtlingsdiskussionen, deine Meinungen zu Vermögens- und Erbschaftssteuern und die Frage, was soziale Medien zensieren sollen und was nicht. Und so gut wie alle Probleme, die wir uns noch ernsthaft zu diskutieren trauen, spielen irgendwo eine Rolle.
Bei aller Komplexität der Probleme gibt es zwei einfach definierte Camps, und sie überschneiden sich meist quer über alle Themen:
die 💞 weltoffenen Progressiven 💞 bzw. 😡 linksgrünversifften Alarmisten 😡
die 😎 christlichsozialen Patrioten 😎 bzw. 🤪 verrückte radikalisierte Konsis 🤪
Welchen dieser beiden Namen du eher zur Beschreibung verwendest, zeigt auch gut, auf welcher Seite du selbst stehst.
Context Collapse als Ursache für Polarisierung
Du ahnst vielleicht schon, dass dieser riesige Begriff auch irgendwas mit Social Media zu tun hat. Das würde ich sehr gern selbst erklären - aber das kann nun mal niemand besser als Casey Newton, dessen Substack-Newsletter Platformer meine erste Anlaufstelle für alles rund um Technologie-Themen ist. In seinem letzten Artikel ist über die neuesten Twitter-Änderungen schreibt er:
One of the most useful concepts for understanding why social networks so often drive us to despair is context collapse: taking multiple audiences with different norms, standards, and levels of knowledge, and herding them all into a single digital space to coexist. Predictably, this regularly leads to conflict — and, at the scale of an entire country, may even make us more polarized.
Nowhere has this all been more true than on Twitter, Earth’s public chat room. Bringing together hundreds of millions of people into a text-based daily competition for attention has resulted in that familiar litany of problematic content: misinformation, influence operations, scams, harassment and abuse. Like its peers, Twitter removes a lot of that stuff. But what remains can be just as annoying or hurtful: the Reply Guy, the sea lion, and maybe worst of all, the quote-tweet dunker, who shows up in your timeline just to clown on you because your 280-character post failed to account for all forms of lived human experience.
The result is too often a social network that, to a user with even a moderately large following, feels booby-trapped. Whether you say the right thing or the wrong thing, it will inevitably get misconstrued by someone, and suddenly you’ve wasted an afternoon explaining yourself to people seemingly determined to misunderstand you.
Darum werden die Konflikte unserer Zeit deutlicher sichtbar als früher, und ihre Überschneidungen werden deutlicher. Dass ich beobachte, wie sich die meiner Ansicht nach völlig wahnsinnigen Republikaner mit den für mich maximal moderat-linken Demokraten fetzen, ändert auch meine Sicht auf die Dinge in Österreich: Hier wie dort gibt es Impfgegner:innen. Wenn Corona-Leugner:innen in den USA Pferde-Entwurmungsmittel nehmen, kann ich davon ausgehen, dass sich die Konfliktlinie “Impfung oder Ivermectin” früher oder später auch bei uns entwickelt. Trends springen von den USA nach Europa über, oder auch umgekehrt. Und so ist es gefühlt bei jedem Thema.
Wieso heute alles polarisiert ist
Warum fällt es mir also so schwer, den Begriff des Culture War auf gewisse Themen zu beschränken? Weil er mittlerweile eben genau durch diese Social-Media-Logik alles umfasst. Wir sind schon so getrimmt darauf, uns in zwei Lager zu spalten und überzeugt zu sein, dass unseres recht hat und im anderen nur Spinner:innen sitzen, dass wir diese Logik gerne auf jedes neue Thema ausweiten, das uns vor die Füße geworfen wird.
Gleichzeitig begünstigen Social-Media-Logiken auch, dass wir diesen Trend noch fördern: Eine Studie in Science Advances zeigt, dass die meisten Twitter-User:innen polarisierenden Content nur posten, weil sie gelernt haben, dafür Bestätigung zu bekommen. Wenn alle nur noch aufgeregt sind, sich ideologisch einordnen und Leuten auf der anderen Seite mit ironischen Quote Tweets eine auflegen - und ich nehme mich da nicht aus -, warum sollte man als Individuum ausscheren und das anders machen?
Oft orientieren wir uns dabei anhand von Parteilinien. Wenn sich ein neues tagespolitisches Thema entwickelt, können wir schnell beobachten, wie sich unsere Politik dazu äußert, und das gibt uns eine Orientierungshilfe, welche Meinung jetzt die “richtige” ist. Das gilt wiederum auch für mich: Wenn ein neues Thema entsteht und auf der einen Seite ÖVP und FPÖ, auf der anderen Seite Rot, Grün und Pink stehen, weiß ich wahrscheinlich schon, wo ich mich einordnen kann. Das mag sehr naiv klingen, ist aber nur ein Erfahrungswert: Ich habe der FPÖ noch nie recht gegeben, warum sollte sie jetzt plötzlich meine Interessen vertreten?
Das macht mich auch pessimistisch, was das Klima angeht. Dass die ÖVP und die FPÖ bei dem Thema auf der Bremse stehen - wenn auch aus unterschiedlichen Gründen -, sorgt wahrscheinlich on the long run dafür, dass ihre Wähler:innen den Klimaschutz auch nicht ernst nehmen werden. Das ist menschlich verständlich: Wenn mein Kanzler, den ich gewählt habe mir sagt, dass wir die Krise nur durch technologische Innovation meistern können … warum würde ich dagegen sein? Ich will, dass er recht hat!
Ich hätte jetzt gerne einen smarten Vorschlag, wie wir damit umgehen können. Aber ich hab keinen. Ich merke nur, dass auch ich hyper-polarisiert bin und nur noch das andere Lager sehe - die Impfgegner:innen, die Klimawandel-Leugner:innen, die Neonazis. Das Venn-Diagramm dieser Gruppen ist in meinem Kopf mehr und mehr ein Kreis: Da drüben stehen die Trottel, und hier stehen meine Freunde und ich. Dass die Realität komplizierter ist, weiß ich nur noch rational. Gefühlt ist der Culture War längst meine echte Welt.
Vielleicht ist der erste Schritt zur Besserung einfach, sich diesem Problem bewusst zu sein und die Polarisierung wahrzunehmen. Corona-Leugner:innen sorgen für Maßnahmen, die mein Leben einschränken, und Klimawandel-Leugner:innen sorgen dafür, dass der Planet unwiderbringlich stirbt. Ich schaffe es nicht mehr, nicht polarisiert zu sein und jedem auf der anderen Seite mit intellektueller Neugier zu begegnen. Aber vielleicht hast du ja eine Idee für einen gesunden Umgang damit, der darüber hinausgeht, die andere Seite zu belächeln oder zu verachten.
In Hoffnung auf konstruktive Vorschläge, dein polarisierter