Wir können uns digitale Inkompetenz nicht mehr erlauben
Und wie Regulierung zu Missbrauch führen könnte
Heute wieder ein kurzer Reminder zu einem Thema, das gefühlt ein Dauerbrennerthema in diesem Newsletter ist und das mich so lange nicht kalt lassen wird, bis der letzte Boomer aufgibt: Social Media und klassische Medienunternehmen sind nicht das gleiche.
In sozialen Medien - besonders oft auf Twitter - lese ich immer wieder vermeintliche “Lösungen” für alle Probleme, die wir angeblich durch das Internet haben.
In vielen Fällen ist dabei die Prämisse schon falsch. Ich glaube z. B. nicht, dass das Internet am Verfall der Demokratie Schuld ist, sondern vielmehr die Tatsache, dass Rechte einfach viel schneller damit umgehen konnten als Linke. Das zeigt sich heute noch in der Tatsache, dass die FPÖ viele erfolgreiche Online-Medien betreibt, die täglich Desinformation zu Migration und Corona verbreiten. Ist das nun die Schuld des Internets an sich oder die Schuld der Betreiber? Oder nicht auch ein bisschen die derer, die jahrelang geschlafen haben?
Ähnlich ist es mit sozialen Medien. Wenn ich ein Spinner wäre und auf Facebook posten würde, dass Pferde-Entwurmungsmittel gegen Corona helfen - was der Parteichef der drittstärksten Partei in Umfragen unironisch behauptet -, wer wäre Schuld? Facebook, das mir die Plattform zur Verfügung stellt? Oder ich, der diese Inhalte ausgedacht und gepostet hat? Am ehesten ich, wobei es wurscht wäre, weil organische Reichweite auf Facebook so gut wie tot ist.
Der Unterschied zwischen klassischen und sozialen Medien
Weil ich diese Diskussion immer wieder führe, dachte ich, es wäre sinnvoll, das einfach mal in der seichtesten Form auszuformulieren, damit ich im Bedarfsfall darauf verlinken kann.
Es ist nicht einmal die gleiche Branche. Und ja, beide verdienen Geld durch Werbung - aber mit einem anderen Produkt, auf dem geworben wird. Journalistische Medien haben begehrten Werbeplatz dadurch, dass ihre Produkte interessant sind und für Information oder Unterhaltung konsumiert werden. Soziale Medien aber sind nicht nur dazu da, um passiv konsumiert zu werden - sie geben eben auch eine Plattform, um mitzureden, zu kommentieren usw. Vereinfacht gesagt sind die Angebote der beiden Branchen auf der einen Seite “Lesen” und auf der anderen Seite “mit Menschen kommunizieren”.
Journalismus kennt Standards, Content nicht. Alles, was in der PRESSE erscheint, sollte Journalismus sein und damit gewisse Gütekriterien erfüllen. Viel davon basiert auf Selbstregulierung und den Erwartungen daran, was “Journalismus” sein kann. Der offensichtlichste Standard wäre, dass es stimmen sollte.
Das trifft auf Social-Media-Plattformen nicht zu. Guter Content muss gar nichts. Er muss nicht einmal stimmen. Das heißt nicht, dass ich finde, dass Desinformation guter Content ist - aber es gibt diese Regeln einfach nicht. Und wie schon klargestellt, zahlt man Plattformen ohnehin nicht für den Konsum dieser Inhalte. Da ist es durchaus okay, wenn allgemein gehaltene Community-Richtlinien und das nationalstaatliche Recht ausreichen.Medien sind gemeinschaftliche Produkte. Der offensichtlichste Unterschied dazu: Sie zahlen die Leute, die ihren Content erstellen, soziale Medien wiederum nicht (oder nur selten). Wenn ich auf Twitter eine Meinung äußere, ist das keine Meinung für Twitter. Ich spreche nicht für Twitter. Twitter ist nicht mein Arbeitgeber. Alleine, dass ich diesen Unterschied so lange ausformulieren muss, macht mir gerade deutlich, wie offensichtlich wahnsinnig die Vorstellung ist, etwas anderes zu glauben.
Wer Social Media als klassische Medien sehen will, kann das durch absichtliches Missverstehen sehr leicht argumentieren: Beides sind Inhalte und für beide wird geworben, und es heißt sogar “Medium”.
Aber die grundlegenden Funktionen sind anders. Die Medienlogik ist eine ganz andere. Es ist ein wirtschaftlicher, inhaltlicher, handwerklicher und ein technischer Unterschied. Das alles ist Menschen, die damit aufgewachsen sind, ganz intuitiv klar - aber den älteren muss man scheinbar erklären, dass Facebook keine “digitale Zeitung” ist, nur weil man dort einen Link zu einer Zeitung posten kann.
Wieso es wichtig ist, dass wir soziale Medien verstehen
Warum ist mir der Unterschied so wichtig? Es gibt zwei Gründe. Einer ist wahrscheinlich sehr individuell und eine reine Ego-Geschichte, der andere ist durchaus so wichtig, dass ich argumentieren würde, dass das niemandem egal sein sollte.
Der egoistische Grund ist, dass mich der Digital Divide fertig macht. Millennials konnten sich jahrzehntelang anhören, dass Gaming Zeitverschwendung ist, dass man nicht so viel vor dem Computer sitzen soll und dass das alles keine Zukunft hat. Heute sitzen sie in Büros der digitalen Welt und müssen Kolleg:innen, die das 5- bis 20-fache verdienen, erklären, wie man eine PDF-Datei öffnet.
Aber die Welt hat sich bereits geändert, und digitale Inkompetenz ist keine süße Eigenschaft, über die man hinwegsehen kann, sondern ein Problem. Wer die moderne Technologie, auf der unser Zusammenleben schon zu großen Teilen basiert, nicht bedienen kann, ist nicht “im Recht” und hat halt nur ein kleines Thema nicht mitgemacht, sondern bleibt zurück. Und ich will nicht einfach wegnicken, wenn jemand etwas Populäres, aber fundamental Falsches über das Internet sagt.
Aber das ist zugegebenermaßen eine Ego-Geschichte. Der viel wichtigere Grund ist, dass dieses falsche Verständnis in falsche Politik umgemünzt werden kann. Denn wer Facebook als journalistisches Medium sieht, reguliert es vermutlich auch wie eines. Das ist nicht nur absurd, weil es eben etwas anderes ist - das alleine wäre die Aufregung nicht wert. Es kann auch brutale Konsequenzen haben, wie v. a. Menschen in Diktaturen wahrscheinlich bestätigen können. REST OF THE WORLD schreibt dazu:
Most laws enacted by governments on the continent that ostensibly seek to regulate harms, like disinformation and online violence, end up targeting legitimate online speech instead.
Various sections of Nigeria’s Cybercrimes (Prohibition, Prevention Etc) Act, Uganda’s Computer Misuse Act, the Kenyan Computer and Cybercrimes Act, and the Malawian Electronic Transactions and Cybersecurity Act are so vaguely worded that they can be weaponized to stifle dissent.
In some instances, African governments have also used these harms as a pretext to shut down internet access. In other words, real online harms are not only not being adequately addressed by governments but the regulatory responses to these problems are harming freedom of expression.
Genau das ist die Angst, die ich habe. Wer heute so tut, als wären soziale Medien genau das gleiche wie journalistische Medien, öffnet Tür und Tor für Missbrauch durch autoritäre Regime. Die Pressefreiheit wird auch in Demokratien regelmäßig angegriffen - und ist das erste, was abgeschafft wird, wenn es wirklich in Richtung einer Diktatur geht.
Soziale Medien sind da anders. Diese werden in Diktaturen, die keine entsprechende Regulierung haben, oft direkt abgeschalten - oft verbunden mit einem allgemeinen Internet-Shutdown. Aber die wenigsten Regierungen schalten gerne das Internet ab. Es ist auch für sie ein zu wichtiges Propaganda-Tool, wie man an aktuellen Beispielen in der ganzen Welt sehen kann.
Wer diese Angst jetzt übertrieben findet, muss nicht mal unbedingt ins Ausland schauen. Der Vergleich mit den afrikanischen Staaten aus dem zitierten Artikel mag befremdlich wirken - aber eine Partei, die ein nachweisliches Korruptions- und Nazi-Problem hat, belegt aktuell in Wahlumfragen den dritten Platz und kratzt erneut an der 20-Prozent-Marke. Ich wäre vorsichtig, welche Tools ich einer FPÖ in die Hand gebe.
Für mehr Digitalkompetenz
Mein Eindruck ist, dass es eine Generation gibt, die nicht mit dem Internet aufgewachsen ist und die analoge Lösungen 1-zu-1 auf digitale Probleme ummünzt. Aber wir können nicht so tun, als wäre alles, was seit 2000 in der Welt passiert ist, einfach “das gleiche wie vorher, nur online”.
Das lineare Fernsehen kommt nicht mehr zurück, und wer die Konsument:innen verurteilt, weil sie “plötzlich” alles on demand wollen, wird untergehen. Man kann sich heute nicht mehr leisten, einfach nur noch ein Print-Produkt ohne jede Online-Strategie zu produzieren, weil der Markt dafür zu klein ist. Und man sollte nicht so tun, als wäre das alles die Schuld der bösen “Silicon-Valley-Giganten”, nur weil man die eigenen Hausübungen nicht machen will.
Wir brauchen echte Digitalkompetenz in der Regierung und ja, auch in den Medien, um soziale Medien nicht komplett zu ruinieren. Ich weiß, dass sich das einige Medienleute wünschen würden, weil sie Facebook als Konkurrent um “Inserate” sehen - aber diese alte Welt kommt nicht mehr wieder. Und ich werde weiterhin dagegenreden, wenn jemand die neue so krass missversteht.
Bis zum nächsten Millennial-Rant