So gerne ich die Regierung in diesem Newsletter kritisiere, eines muss man Sebastian Kurz lassen. Er hat den Trend der politischen Quereinsteiger:innen entdeckt. Einen Trend, den ich befürworte, und ich würde sogar sagen, dass es viel mehr davon braucht.
Denn wenn man sich das Politiker-Material ansieht, mit dem wir arbeiten, ist es leicht, das Interesse oder die Hoffnung zu verlieren, je nachdem wie gut man im Verdrängen ist. Da wäre zum Beispiel der unwürdige Streit rund um das sogenannte 1-2-3-Ticket. Mit diesem sollten ja bekanntlich alle öffentlichen Verkehrsmittel zu einem attraktiven Preis zusammengefasst werden - 1 € pro Tag für ein Bundesland, 2 € am Tag für zwei Bundesländer und 3 € am Tag für ganz Österreich.
Stattdessen wurde gestern ein 1-2-3-Ticket verkündet, das diesen Namen nicht ansatzweise verdient. Warum? Die Bundesländer Wien, Niederösterreich und Burgenland, zusammengefasst im “Verkehrsbund Ost” (VOR) sind nicht dabei. Falls das jetzt halb so wild klingt: In diesem Raum findet 53 % der öffentlichen Verkehrsleistung statt, und gerade der Pendler-Verkehr in und um Wien ist einer der wesentlichen Faktoren für die hohen CO2-Ausstöße durch (Verbrenner-)Autos.
Und egal wo man hinschaut - man findet irgendwie nirgends politische Akteure, die sich einigermaßen würdig verhalten.
Umweltministerin Gewessler - die ich in diesem Newsletter schon mehrmals gelobt habe und die ich als einziges verbleibendes Asset der grünen Regierungsbeteiligung sehe, weil sie das mit Abstand wichtigste Ressort führt -, tut in ihrer Kommunikation so, als bliebe es beim angekündigten Ticket für alle öffentlichen Verkehrsmittel und blufft damit. Dabei hat das nicht nur Konsequenzen für Wiener, die mit dem Wiener-Linien-Jahresticket sehr verwöhnt sind - der Verkehr auf der Weststrecke (und damit auch weiter in und durch Wien) ist ein wesentlicher Teil dessen, was man mit dem 1-2-3-Ticket eben so machen würde. Sich über ein Ost-Ticket zu freuen, das viel weniger interessant ist und das für über drei Millionen Menschen momentan nicht nützlich ist? Das ist ein durchschaubar aufgesetztes Lächeln.
Besonders leise sind ÖVP und FPÖ. Die Volkspartei, die vor Kurzem noch mit ihrer peinlichen Anti-Parkpickerl-Kampagne aufgefallen ist, kann zwar schlecht gegen die eigene Regierung reden - aber normalerweise lässt niemand in der türkisen Reichshälfte eine Chance aus, Gewessler eine reinzuhauen. Und die Freiheitlichen, die sinngemäß mit der Linie fahren, dass Österreichs Emissionen egal sind und man deswegen ruhig CO2 ausstoßen darf, äußern sich auch nicht dazu - aber das nur als Side Note.
Erstaunlich ist nämlich vor allem das Verhalten der SPÖ, spezifisch der SPÖ Wien. Diese müsste sich dazu gar nicht äußern - es verhandeln ja auch die Wiener Linien und der VOR das 1-2-3-Ticket, insofern muss niemand in der Sozialdemokratie jetzt aufzeigen, dass er der Grund ist, warum es nicht klappt. Aber die Wiener Landespartei, die sonst gerne als die einzig kampagnenfähige SPÖ bezeichnet wird (und ich gebe da normalerweise auch recht), twittert gestern auf Kickl-Niveau.
Eine Diskussion, die niemand aufmachen muss. Wenn sich die SPÖ einfach nicht zu Wort meldet, sind die bösen Wiener Linien oder der böse VOR Schuld. Aber die Bürgermeisterpartei, die gerne für umstrittene Infrastruktur- oder besser gesagt Autofahrerprojekte wie den Lobautunnel oder die Stadtstraße lobbyiert, schreit für alle gut hörbar: “Wir sind dagegen! Wegen uns gibt es das 1-2-3-Ticket noch nicht! Irgendwas mit Kurz!”
Planlos, auch wenn’s wichtig wär
Aber das ist nicht das einzige Beispiel. Mir wird auch komisch, wenn ich nach Deutschland schaue. Als Österreicher ist man von der heimischen Innenpolitik nicht gerade verwöhnt, wenn man intellektuelle Debatte mag - aber der Bundestagswahlkampf im Nachbarland ist wirklich erstaunlich schlecht. Armin Laschet (CDU, deutsche ÖVP ohne Rebranding) wirkt nicht nur nach der Hochwasserkatastrophe überfordert, und Olaf Scholz (SPD, deutsche SPÖ) - der Kandidat, der die besten Persönlichkeitswerte für eine hypothetische Direktwahl des Kanzlers aufweist - produziert solche Schlagzeilen.
Und ja, I know, die Energiewende ist nicht so einfach und wenn man zu früh alles vom Netz nimmt hat man Blackouts. (Und ja, man hätte die Atomkraftwerke nicht vom Netz nehmen müssen.) Aber muss man immer noch offensichtlich pro Kohle sein? Oder pro Verbrennungsmotor, wie Christian Lindner von der FDP? (Deutsche NEOS, aber so wie man sie sich als Klischee vorstellt.) Im Jahr 2021 - in einem Jahr, in dem der wissenschaftliche Konsens, dass wir auf ein Riesenproblem zusteuern, nie größer war und in dem wir auch in Mitteleuropa nicht nur Hitzewellen, sondern auch Naturkatastrophen erleben?
Das ist nicht nur das Übliche (alte Menschen, die uns die Zukunft versauen). Das ist auch einfach schlampig. Ich bin nicht nur als politischer Beobachter wütend, sondern auch als PR-Berater. Wenn man schon keine ambitionierten Klimaschutz-Maßnahmen will, kann man nicht wenigstens so tun, als hätte man eine andere Lösung, weil das Problem irgendwie wichtig ist? Sebastian Kurz hat wenigstens eine falsche Antwort, wie er sich die Klima-Zukunft vorstellt. (Armin Laschet versucht, sie zu kopieren: Sie lautet Wasserstoff.) Aber gar keine?
Das laute Schweigen zu schwierigen Themen
Und dann wäre da noch Afghanistan. Das Thema, das und zwar argumentierbar sehr viel egaler sein kann als das Klima, aber durch die aktuellen Bilder niemanden kalt lässt. Auch hier schwimmen die Politiker:innen beim Versuch, die einfache Antwort zu schwierigen Fragen zu finden.
Auffällig laut war das Schweigen der üblichen Verdächtigen, die bei jeder Gelegenheit Abschiebungen als Thema platzieren, um von anderen unbequemen Geschichten abzulenken - und selbst, als wirklich der letzte Depp wusste, dass man niemanden über Kriegsgebieten abwirft, wurde noch insistiert, dass man weiter abschieben müsse. Unter diesen Abschiebungen sind aber auch jene wie dieser Fall eines Afghanen, der als Schichtleiter bei Burger King gearbeitet hatte. Niemand muss gut integrierte Menschen in Kriegsgebiete abschieben. Und dazu dürfte es sogar im oft fremdenfeindlichen Österreich einen Konsens geben.
Denn hier hat sich wieder gezeigt, wie schnell sich der Wind drehen kann: An 360 Tagen im Jahr ist man in Österreich gegen alle Muslim:innen, Vorgeschichte egal. Aber wenn man die Fernsehbilder sieht und merkt, dass die Menschen, die man am Keplerplatz sonst mit Verbrechern assoziiert, selbst um ihr Leben rennen und Angst vor den gleichen Islamisten haben, vor denen wir Angst haben - in diesem Moment geht dürfte auch denen ein Herz aufgehen, die schon mal ein Kreuz bei der FPÖ gemacht haben. (Und nein, ich gendere Islamisten fix nicht, aus offensichtlichen Gründen.)
Nur weil die Mehrheit dafür ist, straffällig gewordene Asylwerber:innen abzuschieben - was völkerrechtlich oft nicht möglich, aber als Forderung absolut verständlich ist - heißt das nicht, dass Abschieben immer die richtige Antwort ist. Aber seit Jörg Haider bewegt sich das österreichische Spektrum der Möglichkeiten nur zwischen “Ausländer Ja oder Nein”. Niemand bietet uns seriöse Antworten und echte Konzepte. Keiner hat den Mut, auszusprechen, dass Afghan:innen jetzt definitiv einen Fluchtgrund haben, und keiner hat einen Plan, wie wir Humanität mit dem Bedürfnis der Bevölkerung verbinden, einfach nicht “zu viele Fremde” im Land zu haben. Auch hier ist die Stille beeindruckend laut.
Wir müssen erwachsen werden
Nein, dieser Newsletter hat keinen schönen Ausblick. Denn wohin man auch schaut, findet man Halbwahrheiten und Spins, schön aufgesetztes Lächeln für die Kamera und Versuche, die Umfragewerte nur noch ein paar Monate weiter bis ins nächste Thema zu retten. Vielleicht reden wir im November wieder über etwas anderes. Vielleicht haben wir dann eine Antwort. Vielleicht können wir dann Politik machen, ohne dass es unseren Jobaussichten schadet.
So ist Politik. Ein Geschäft, bei dem man immer abwägen muss, dass man die Macht auch wieder verlieren kann - und dann geht gar nichts mehr. Das ständige Argument der Grünen, nicht die FPÖ zu sein, hat zwar während der Pandemie viele Leben gerettet, aber reicht es als reine Existenzberechtigung? Momentan ist Gewessler - eine Quereinsteigerin, die auch schon vorher im Bereich Klimaschutz gearbeitet hat - fast die einzige, die mit ihrem Ressort positiv auffällt. (Ich persönlich würde Zadić noch nennen, aber die Justiz ist gerade zumindest umstritten.)
Wenn es keine Erwachsenen im Raum gibt, gibt es nur eine Lösung - man muss selbst erwachsen sein. Bei allen Vorteilen der Demokratie ist das Bittere nur, dass man oft warten muss, bis man handeln kann. Weil ein betroffener Tweet eine zu kleine politische Handlung ist, müssen wir uns trotz all der ermüdenden Umstände mit Politik beschäftigen und uns merken, wer uns intellektuell am wenigsten enttäuscht hat, um dann am Wahltag ein Zeichen zu setzen. Denn ob Klima, Asyl oder sonstige Themen - viele Menschen sind weiter als die Politik und hätten durchaus Vorstellungen, wie man die Welt besser machen könnte. Wir müssen uns nur merken, wen wir abstrafen wollen und wofür.
Die nächste Wien-Wahl ist im Jahr 2025 geplant, die nächste Nationalratswahl 2024. Bis dahin müssen wir uns noch viel mit einer Politik beschäftigen, die ein paar Quereinsteiger:innen durchaus vertragen könnte.