Zeit, das Atomkraft-Tabu zu brechen
Wenn Gas und Atomkraft grün werden sollen, ist nicht die Atomkraft das Problem
Lasst uns heute über ein Thema reden, das in Österreich eher wenig diskutiert wird: Die Vorzüge der Atomkraft.
Ich weiß, ich weiß. Heilige Kuh. Wenn ich Menschen im Ausland dieses Land erklären müsste, würde ich die Geschichte erzählen, dass wir ein Atomkraftwerk gebaut haben und erst dann gefragt haben, ob wir es anschalten wollen. Obwohl 49,5 % für “Ja” gestimmt haben, ist die Ablehnung der Atomkraft heute fester Bestandteil der österreichischen DNA - wenn wir einmal etwas beschließen, dann bleiben wir dabei.
Mir geht es in diesem Newsletter aber nicht darum, dass Österreich umdenken und Zwentendorf doch noch einschalten sollte. Sondern um ein europapolitisches Thema.
Wir sollten anderen Staaten nicht dreinreden, wenn sie auf Atomkraft setzen wollen.
Der aktuelle Anlass für diese Diskussion ist eine Debatte um die “EU-Taxonomie” - ja, catchy wie immer -, laut der Atomkraft und Gas als “grüne Energien” gesehen und entsprechend gefördert werden sollen. Auch ich finde, dass das ein Skandal ist. Und zwar wegen Gas. Fossile Brennstoffe töten den Planeten, das ist hinreichend bewiesen. Aber aus irgendeinem Grund plant Österreichs Klimaschutzministerium eine Klage … wegen Atomkraft?
Wenn man sich die Fakten ansieht, ist aber eindeutig, dass Atomenergie weniger CO2 ausstößt als die meisten effizienten Energiegewinnungsformen, auf die wir heutzutage setzen. Wer die größte Krise unserer Zeit, die Klimakrise, angehen will, muss jetzt daran arbeiten, so schnell wie möglich kein CO2 auszustoßen. Warum sollten wir also Atomkraft verbieten, bevor wir das gleiche mit Öl und Kohle machen?
Der Grund dafür mag die wahrgenommene Sicherheit sein. Gefühlt jeder fährt mit Benzin durch die Straßen, das ist gelerntes Verhalten seit Generationen. Aber die Katastrophen von Tschernobyl und Fukushima bleiben im Gedächtnis und werden mit Tod und Verderben assoziiert.
Sieht man sich die Daten an, zeigt sich aber, dass durch die Verwendung fossiler Brennstoffe viel mehr Menschen sterben als durch Atomkraft.
Teilweise mit den gleichen Zahlen haben auch meine früheren Kolleg:innen von Addendum gearbeitet. Sie haben sich dem Thema auch angenommen und recherchiert, wie viele Tote es pro 1000 Terrawattstunden in absoluten Zahlen gibt:
Atomkraft: 70
Windkraft: 150
Solarkraft: 440
Wasserkraft: 1.400
Gas: 2.820
Biomasse: 4.630
Öl: 18.430
Steinkohle: 24.260
Braunkohle: 32.720
Im gleichen Artikel wird die Frage behandelt, wie viele Menschen durch Tschernobyl wirklich ums Leben gekommen sind. Die Schätzungen und Berechnungsweisen schwanken hier - aber sogar der höchste Wert von 60.000 Todesopfern wäre durch 2000 Terrawattstunden aus Braunkohle erreicht. Soviel zur Gefährlichkeit der Atomkraft.
Wir sollten aufhören, Europas NIMBYs zu sein.
Das heißt wie gesagt nicht, dass wir jetzt auf die Atomkraft umsteigen sollten. Österreich scheitert nicht am Willen oder Können der Wirtschaft, sondern am langsamen Netzausbau und langen Wartezeiten für die Bewilligung neuer Projekte. Das betrifft übrigens auch grüne Projekte: Jeder mag Windkraft, aber für jedes, das man neu aufstellen will, findet sich eine Bürgerinitiative, die das verhindern will. Das Motto ist NIMBY: “Not in my backyard!”
Trotzdem sind wir insgesamt in der Luxus-Situation, dass wir vermutlich wirklich in der Lage sein werden, unseren Energiebedarf durch Solar-, Wind- und Wasserkraft zu decken.
Das Problem ist, dass viele Staaten der Europäischen Union nicht in dieser Situation sind. Frankreich setzt traditionell auf Atomkraft, Polen mehr auf Kohle. Wenn Polen jetzt als Übergang zu dem, was wir unter grüner Energie verstehen, auf Atomkraft setzen will, sollte sich Österreich nicht dagegen wehren: Atomkraft ist nun mal objektiv besser als fossile Brennstoffe, die wir uns nur noch wenige Jahre erlauben können. Nicht umsonst kehren auch die Niederlande zur Kernenergie zurück.
Viele Länder haben nicht die Situation, die Österreich hat, und versuchen ernsthaft, ihre Energiepolitik auf wenig bis gar keine Emissionen umzustellen. Mit der eigenen Verweigerungshaltung steht Österreich der Energiewende im Weg. Gerade für Ministerin Gewessler, die ich in der Frage für gewöhnlich für sehr ambitioniert halte, sollte hier bald umdenken und sich eher dafür interessieren, dass dem viel klimaschädlicheren Gas das “Grün”-Etikett angeboten wird.
Es mag ein unrealistischer Wunsch sein - aber diese intellektuelle Redlichkeit würde ich mir wünschen.
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