Gestern habe ich versucht, einen kleinen Einblick in “WarTok” zu geben, oder darin, wie sich der Ukraine-Krieg auf TikTok abspielt.
Jetzt werdet ihr euch vielleicht fragen: Warum zeigt uns der Schett TikToks? Erstens, weil jeder auf TikTok sein sollte, der auf Social Media noch Spaß haben will. Aber ich will auch auf etwas damit hinaus, weil ich sehr interessant finde, wie sich der sogenannte “Information War” geändert hat.
Russland galt lange Zeit als eine Art Supermacht, was digitale Kriegsführung, Desinformation und Propaganda betraf. In diesem Krieg wurde aber schnell klar, dass es eine geeinte Front gegen Putin gab, die Rechtfertigungsversuche der russischen Regierung dringen kaum durch. Ich glaube, dass das u. a. daran liegt, dass die Ukraine, aber auch der gesamte Westen in dieser Sache transparent sind, während Putin das abgelaufene Playbook verwendet, einfach immer das Gegenteil zu behaupten.
Gehen wir also kurz durch, wie Russland und der Westen in diesem Krieg kommunizieren, was das über den Krieg generell aussagt und das TikToks damit zu tun haben.
Putins Playbook
Einen Einblick dazu bietet Peter Pomerantsev in seinen Büchern Nothing Is True and Everything Is Possible und This is NOT Propaganda. Er ist Experte für Desinformationskampagnen und v. a. das russische Modell dazu, und seine Bücher zählen zu den besten, die ich je gelesen habe. Ein Auszug aus dem ersten Buch, der gerade auf Twitter kursiert, zeigt gut die aktuelle Situation in Russland:
Die Macht des russischen Regimes basiert darauf, dass es einfach unglaublich mühsam geworden ist, zu widersprechen. Wenn alle rund um dich die gleichen (gesteuerten) Medien konsumieren und sogar die Alternativen sich nur in Nuancen vom Regierungskurs unterscheiden - wie die russischen Oppositionsparteien, von denen einige nicht wirklich gegen Putin antreten - … hat es dann überhaupt einen Sinn, dagegen zu sein? Oder ist es nicht viel leichter, einfach mit einzustimmen in den Konsens, den alle teilen?
Putin ist ein Ex-KGB-Agent, der Jahre und Jahrzehnte daran gearbeitet hat, mit seinen staatlichen Medien, digitalen Desinformations-Kampagnen, Einschüchterungen und politischen Ermordungen jede kritische Stimme zu unterdrücken. Und wenn dieses geschlossene System mit Fakten von außen konfrontiert wird - mit ausländischen Medien, mit anderen Staaten -, dann wird einfach gelogen, weil die eigenen Leute es ohnehin mittragen. Dazu ein aktuelles Beispiel in der Ukraine aus der Associated Press:
Russia is also using disinformation to confound and demoralize its opponents. For instance, the Kremlin said it resumed fighting Saturday after pausing for possible talks with Ukraine. But AP journalists in various areas of Ukraine witnessed that the Russian offensive never stopped.
Darum ist es umso erstaunlicher, dass in vielen russischen Städten gegen den Ukraine-Krieg demonstriert wird - diese Menschen wissen, dass sie verhaftet werden und dass ihr Protest wahrscheinlich nichts ändern wird. Die russische Regierung wird weiter behaupten, es handle sich um eine “militärische Spezialoperation”, um die Ukraine zu “entnazifizieren” - und wer etwas anderes sagt, wird bestraft.
Das dürfte übrigens auch der Grund sein, warum die sagenumwobenen russischen Trolle gerade relativ ruhig sind. Das sagt Ryan Broderick von GARBAGE DAY, meinem absoluten Lieblings-Newsletter zu allen nischigen Internet-Themen:
For the first week of Russia’s invasion of Ukraine, there has been some general head-scratching from the international community, wondering where Russia’s ferocious info war machine was. The US and the UK have, at this point, an almost mythical view of Russia’s infamous troll army. So the assumption among many was that the Russian disinfo kaleidoscope would be in full effect as the country’s army began shelling Ukraine. Except it’s been the Ukrainian people and their fully-online response that has dominated the early days of the invasion, with their powerful mix of viral videos, inspirational memes, and Zelensky’s incredible use of social media to deliver emotional speeches via roving cell phone video press conferences, all while dodging Kremlin-backed assassins.
So where’s the Russian disinfo? Well, according to Emerson T. Brooking, a senior fellow at the The Atlantic Council’s DFR Lab, it’s been largely focused on Russians themselves. “The Russian propaganda focuses almost entirely on obfuscating Russian activities to the Russian public,” he told me last week. “They are hardly engaging in the sorts of deception that we've grown accustomed to from, say, the 2014 invasion.”
Putins Propagandamaschine ist also im Wesentlichen damit beschäftigt, die eigene Bevölkerung ruhig zu halten. Für mich ist logisch, dass Putin auf diese Strategie setzt, weil sie altbewährt ist und er sich vor einem Uprising fürchtet, wie Ivan Krastev im Gespräch mit dem PROFIL beschreibt:
Putin selbst hat keinen Nachfolger in Stellung gebracht, weil er sich damit zu einer lahmen Ente machen würde. Er hat nicht vor, in Pension zu gehen. Es wird nie ein normales Leben für ihn geben. Sein Palast am Schwarzen Meer, den seine Freunde für ihn gebaut haben, hat alles, was er braucht.
Einen Nachtclub zum Beispiel - er kann ja nie in einen echten Nachtclub gehen. Ich habe von mehreren Seiten gehört, dass sich Putin, als Gaddafi in Libyen getötet wurde, stundenlang die Aufnahmen angesehen hat, wie der tote Diktator durch die Stadt geschleift wurde. Daran muss ich jetzt immer denken. Putin steht mit dem Rücken an der Wand.
Und auf der anderen Seite stehen die TikToks aus dem gestrigen Newsletter.
Das Playbook des Westens
Der Westen reagiert auf das ewig gleiche Playbook der russischen Desinformation mit Transparenz. Was in Europa eher wenig diskutiert wird, aber in den USA als strategischer Sieg gilt: US-Geheimdienste haben lange vor Invasionsbeginn gewarnt, dass Putin genau das planen würde.
Indem die Kriegsvorbereitungen transparent gemacht wurden, wurde das russische Narrativ der “Selbstverteidigung” oder der “Befreiung” aus den Medien gedrängt: Wir wussten von Anfang an, dass es um einen Angriffskrieg geht. Das mag logisch klingen, ist angesichts vieler russland-treuer Politiker:innen in Europa nicht selbstverständlich.
Es mag unlogisch klingen und konterkarieren, wie Krieg bisher abgelaufen ist - heimlich, im Verborgenen -, aber der Westen reagiert auf Vladimir Putins “Informationskrieg” alter Schule im Wesentlichen mit Transparenz.
Selenskiys Videos in Kiew, die zeigen, wo er gerade ist, demonstrieren authentisch, dass der Präsident sein Land nicht in Stich lässt und dass er kämpfen will. Was Vladimir Putin genau macht oder gar wie es ihm geht, darüber kann man nur spekulieren. (Wobei man aufpassen muss, in welche Richtung man spekuliert.)
Insofern sind auch die TikToks aus der Ukraine so interessant. Wir haben es mit einer Generation an Kämpfer:innen zu tun, die erst seit 2014 ausgebildet wurde und die zu großem Teil online-affin sind. Die Armee und die Zivilbevölkerung können live auf allen Plattformen teilen, wie sie diesen Krieg wahrnehmen, welchen Schaden Putin anrichtet, was das aus ihrem echten Leben gemacht hat und wie real das Leid der Ukrainer:innen ist. Auf der anderen Seite gibt es nur die russische Einheitsmeinung - der Rest wird wegzensiert.
Selenskiy dagegen muss keine Angst davor haben, in der Ukraine unter die eigenen Leute zu gehen. Weil die Ukraine von ihm nicht unterdrückt wird. Weil er transparent ist und nichts zu verstecken hat. Die Gefahr eines Uprisings auf eigenem Boden ist nur für eine Seite in diesem Konflikt relevant. Deswegen glaube ich auch, dass der Wirtschaftskrieg, den der Westen gegen Russland führt, die richtige Option ist. Die Unzufriedenheit des russischen Volkes ist das, was Putin am meisten fürchten muss.
Eine neue Ära der Kriegskommunikation
Ich habe es an anderer Stelle schon mal geschrieben: Die Strategie, einfach immer das Gegenteil von dem zu behaupten, was wahr ist, ist nicht mehr zeitgemäß. Die Zukunft der Kommunikation liegt in der Authentizität. Das sich das nur zwei Monate nach dieser Feststellung als Erkenntnis über die Kriegskommunikation übertragen ließe, hätte ich nicht gedacht - aber wie Vladimir Putin reagiert, bestärkt mich darin, dass er mehr zu fürchten hat als die offenen Kommunikator:innen des Westens. Er weiß, dass keine Lüge ewig aufrecht erhalten werden kann.
Wahrscheinlich wird man im Nachhinein erst feststellen, wie faul, wie löchrig dieses System der allumfassenden russischen Propaganda war - oder wie genial, vielschichtig und schnell die westliche. Charlie Warzel schreibt dazu in seinem Newsletter GALAXY BRAIN:
That’s the second surprise: Russia’s online propaganda and influence apparatus is not nearly as sophisticated or effective with non-Russian audiences as many thought (at least to this point). Russia’s early attempts to falsely portray Ukraine as a nation of neo-Nazis have been lazy, recycling old material, Higgins told me.
“There’s been so much talk of how amazing Russia is at disinformation. But we see it’s not that they were good, but that the rest of us weren’t prepared for it. We weren’t good at verifying or debunking, and we confused our own incompetence for Russian genius.”
Genau das glaube ich auch. Ich habe das Gefühl, das russische System bröckelt ordentlich, während das westliche - militärisch verteidigt in der Ukraine, kommunikativ ausgefochten mit jedem TikTok - siegen wird. Wer nichts zu verstecken hat, sondern der Welt mit offener Kommunikation zeigt, wie die Lage im Krieg aussieht, wird den Informationskrieg gewinnen. Und auch, wenn es rein militärisch nicht so aussieht, als könnte die Ukraine Russland besiegen, ist das zumindest ein kleiner Sieg.
Es ist natürlich zu früh, um irgendetwas als “beendet” anzusehen. Und das mag natürlich wieder Zweck-Optimismus sein. Aber ich glaube, zumindest einen kommunikativen Sieg darf man da durchaus feststellen.
Noch mehr Lesestoff
📰 Ein Land verblasst. Die ZEIT hat einen guten Überblick darüber, wie die russische Zensur in Kriegszeiten aussieht. So gut wie alle ausländischen und heimischen unabhängigen Journalist:innen haben das Land verlassen - es wird düster. (ZEIT ONLINE)
🎙 Facebooks neue Waffe gegen Desinformation? Admins von Facebook-Gruppen können Inhalte automatisch blockieren, wenn sie von Fact-Checker:innen als falsch gekennzeichnet wurden. Das Schlüsselwort hier ist “können” - ich denke, das wird keine einzige Gruppe betreffen, in der es um Desinformation geht. Das ist, wie immer mit Meta, zu wenig und zu spät. (PROTOCOL)