Hier wären wir also: In einer normalen politischen Landschaft.
In den kurzen Monaten, die das Jahr 2023 bereits hatte – ja, Silvester ist schon fast fünf Monate her – hatten wir drei Landtagswahlen, mit der ÖH-Wahl steht in zwei Wochen die letzte des Jahres an. Jetzt beginnt, was Lukas Sustala vom NEOS Lab rund um den Jahreswechsel ein Window Of Opportunity genannt hat. Heißt: Wir könnten uns echt auf Politik konzentrieren.
Ich bin skeptisch, ob das passiert, aber überzeugt, dass es jetzt noch ein halbes Jahr Inhalt bräuchte. Gehen wir kurz durch, warum das so ist, was dafür spräche und was realistisch dagegen spricht. Und wir wagen den ersten Blick nach vorne ins „Super-Wahljahr“ 2024.
Weil eigentlich haben wir uns ja damit abgefunden, dass in Wahlkämpfen nichts gemacht wird.
Was ja auch traurig genug ist, aber immer wieder durch die Wirklichkeit bestätigt wird - auch, wenn es niemand so aussprechen will.
Dass die niederösterreichische Landesregierung neben dem Strompreisdeckel aus dem Bund einen eigenen Strompreisrabatt einführte hatte zur Folge, dass mit der Summe aus Bund und Land ein Preis von -1 Cent pro Kilowattstunde rauskommt. Wunderschöne Wahlkampfhilfe für die ÖVP, die auf beiden Ebenen dafür verantwortlich ist.
FPÖ und ÖVP einigten sich dort auf ein „Arbeitsübereinkommen“, das man durch den Proporz ja nicht Koalition nennen soll. Diese Mischung aus Anbiederung an das Lager der Corona-Leugner, rechtswidrigen Vorstellungen und politischem Minimalkompromiss wurde auch so weit vertagt, dass es die Kärnten-Wahl nicht störte.
Auch die starke Verzögerung im „Showdown“ um die SPÖ-Parteispitze erklärt sich durch Landtagswahlen. Eigentlich hätte man schon vor der Niederösterreich-Wahl im Jänner darüber reden müssen, wie die Partei wieder auf die Beine kommt, aber zumindest bis Kärnten – wo es ein starkes Ergebnis zu verteidigen gab –, wurde allgemeine Funkstille verordnet.
Ganz vermeiden konnte man die politische Debatte aber auch in Wahlkampfzeiten nicht.
Immerhin gab es einige Themen, die bundespolitisch so dringend waren, dass man sie nicht einfach vier Monate lang aussetzen kann. Eine Mischung aus Arbeitskräftemangel, hoher Inflation, steigenden Preisen und generell unsicherer Situation setzt gerade allen Seiten der Wirtschaft zu. Da kann man fast nicht anders, als Lösungen zumindest zu diskutieren.
Aber auch das wurde für den Wahlkampf verwendet. Aus einer Debatte über Wohnpolitik, die absolut angebracht war, wurde eine Schlammschlacht darüber, wer sich jetzt wirklich weigert, die Preise zu senken. Zumindest klang das in der SPÖ-Kommunikation so – die tut ja gerne so, als könnte der Staat die Preise machen.
Statt einer Mietpreisbremse, die noch nie funktioniert hat, immer abgeschafft wurde und danach für wesentlich höhere Preise gesorgt hat, kam ein neuer Wohnkostenzuschuss. Dieser soll bei den Ländern liegen und diesmal treffsicher sein. Mal schauen, wie das läuft. Eine der wenigen inhaltlichen Episoden, wenn man von der ORF-Reform und dem Ende der „Wiener Zeitung“ absieht.
Aber sonst war wenig los vor dem Window of Opportunity.
Und genau das könnte, sollte, ja müsste sich jetzt ändern. Eigentlich gäbe es nämlich genug zu tun, und völlig egal, was man von der schwarz-grünen Regierung hält: Sie ist nun mal in charge.
Den Ausbau der erneuerbaren Energie fördern. Der NEOS-Vorschlag, eine Notverordnung zu nutzen um den Bundesländern eine Frist zu setzen, in der sie Flächen für den Ausbau zur Verfügung stellen, liegt nach wie vor in der Schublade – aber die Zeit tickt, weil der nächste teure Winter sich nicht vermeiden lassen wird. Übrigens: Hat jemand etwas vom Klimaschutzgesetz gehört?
Basics in der Transparenz durchsetzen. Damit meine ich das Informationsfreiheitsgesetz, auf das sich alle einigen, das in jedem Wahlkampf versprochen und gut gefunden wird und das eigentlich keine echten Gegner hat. Außer eben die, die etwas verstecken wollen, sich aber gleichzeitig nicht dazu bekennen können. Die Geschichte hinter diesem Gesetz in der ewigen Warteschlange hab ich hier für MATERIE aufgeschrieben.
Entbürokratisierung wagen. Ja, ich muss auch lachen, weil WKO und ÖVP natürlich kommunizierende Gefäße sind. Aber sogar dazu stünde im Regierungsprogramm der ein oder andere sinnvolle Vorschlag – z.B. eine neue Unternehmensform, die wesentlich unbürokratischer ist. Dass die Gewerbeordnung noch länger nicht aufgehoben und neu geschrieben wird, ist klar. Aber sowohl Grüne als auch die Volkspartei sagen doch immer, dass sie eine Wirtschaftspartei sind. Das müsste also eigentlich drin sein.
Und das sind nur die Basics, die noch im Bereich des Denkbaren sind. Ich könnte natürlich auch die Bildungspolitik oder, wenn ich wirklich delusional sein will, die Außenpolitik ansprechen. Aber ich bin realistisch genug, dass beide Regierungsparteien nicht den Anspruch haben, hier etwas zu verändern.
Egal wie viel Ambition sie vor der nächsten Nationalratswahl noch werden – dass die Vertretung nach außen hauptsächlich über den Kanzler passiert, der sich mit Ansagen wie „vielleicht liegt die Zukunft doch im Verbrenner“ blamiert, wird sich wohl nicht mehr ändern.
2023 könnte die letzte Chance für diesen politischen Wunschzettel sein.
Not to be too pessimistic, aber es sieht momentan nicht so aus, als würde nächstes Jahr etwas Besseres nachkommen. Ich bin nach wie vor stark für die Ampel und dann im Notfall für jede Koalition, die eine FPÖ-Regierungsbeteiligung verhindert (auch, wenn mir jede ÖVP-Regierungsbeteiligung weh tut). Aber einiges spricht dafür, dass wir mit einem Worst-Case-Szenario rechnen müssten:
Es sieht nicht so aus, als wäre die SPÖ stark genug, um eine Ampelkoalition möglich zu machen. Sogar, wenn die Grünen trotz Regierungsbeteiligung wenig verlieren und NEOS ein neues Rekordergebnis einfährt, bräuchte die SPÖ mindestens 25 %, eher Richtung 30. Umfragen zeigen, dass das mit Doskozil möglich wäre – aber nach der Schlammschlacht, die sich die Kandidaten gerade liefern, bin ich unsicher, ob dieses Momentum dann auch nächstes Jahr ankommt.
Die zwei Wild Cards für den nächsten Wahlkampf sind die KPÖ und die Bierpartei. Beide könnten antreten, und beide würden wohl mehr Stimmen von anderen Parteien fischen als von der FPÖ. Ich glaube übrigens bei beiden nicht, dass sie es reinschaffen würden, ihre besten Umfrageergebnisse kommen aus dem Momentum der Bundespräsidentschafts- und Salzburg-Wahl. Aber sie würden die Wahlarithmetik doch noch um einiges komplizierter machen.
Nach wie vor sieht es so aus, als könnte fast niemand den Freiheitlichen etwas entgegensetzen. Die ÖVP scheint sich damit abgefunden haben, jetzt einen Wahlzyklus lang auf ihre Basis gesundgeschrumpft zu werden und dann so zu tun, als wäre das nur eine irrationale Reaktion auf die Krise. Ich glaube, sie geht sofort mit der FPÖ eine Koalition ein. Nur dass die mittlerweile vermutlich gelernt hat, auch inhaltlich stärkere Ansagen zu machen – vor allem, wenn sie wirklich Erster wird.
All diese strategischen Debatten werden sicher noch ausführlich in aller Öffentlichkeit geführt, schließlich interessieren sich viele Medien (um nicht „die Medien“ zu sagen und Ausnahmen zuzulassen) mehr für „Politik-Politik“ als für Inhalte. Darum sollten wir uns jetzt umso mehr auf Reformen konzentrieren – denn jetzt, mit gut einem Jahr Abstand zur nächsten Wahl, wäre die perfekte Zeit dafür.
Das ist die Ruhe vor dem Dauerwahlkampf.
Nächstes Jahr findet die EU- und die Nationalratswahl statt. Zwei bundesweite Themen und die zwei Wahlen, die mit Abstand den größten Einfluss auf unser Leben haben.
Rund um den Jahreswechsel fangen Medien und Parteien mit Debatten über die Positionierung an. Wie geht Partei XY in das Super-Wahljahr? Da wird nochmal abgecheckt, ob die Spitzenkandidaten auch wirklich die richtigen sind, damit sich die ein oder andere Führungsdebatte noch ausgehen könnte. Spannend könnte das eigentlich nur bei den Grünen werden.
Spätestens im Jänner gehen dann die Vorwahlen los. Wer kandidiert, muss sich positionieren, networken, wird auf Events gesehen und gibt zu allem seine Meinung ab. Je nach Partei gibt es einen offenen Vorwahlprozess (that’s us!), es wird durch die Bünde und Länder bestimmt (ÖVP, weniger föderalistisch auch bei der SPÖ), es wird basisdemokratisch gewählt (Grüne) oder … ich hab ehrlich gesagt keine Ahnung, wie die FPÖ das macht, aber ich nehme an es ist sehr autoritär.
Ab Feber/März ist EU-Wahlkampf. Dann reden wir wieder über bundespolitische Themen, die nichts mit dem EU-Parlament zu tun haben, und die FPÖ packt wieder die Gurkenkrümmung aus.
Fun Fact dazu als Vorbereitung: Die Verordnung, wie Gurken gekrümmt sein sollen …kommt aus Österreich
wurde vor dem EU-Beitritt eingeführt
dann auf EU-Ebene übernommen
schon lange wieder abgeschafft, weil „Deregulierung“
und wird trotzdem vom Handel beibehalten
weil es einfach saupraktisch für den Transport ist, zu wissen, wie eine depperte Gurke gekrümmt ist
Dann gibt es eine kurze Durchschnauf-Phase, in der Medien das EU-Wahl-Ergebnis analysieren und als Momentum für die Nationalratswahl werten. Was für viele Parteien fair ist – sind ja beides bundesweite Wahlen mit ähnlichen Themen. Aber ob man eine etwaige Karas-ÖVP auf EU-Ebene mit einer Nehammer-ÖVP auf Bundesebene vergleichen kann, würde ich doch hinterfragen.
Und dann geht das alles von vorne los. Positionierung, Vorwahl-Prozess, Wahlkampf, Wahlergebnis. Und dann ist November 2024. Und wir haben wieder ein ganzes Jahr keine Politik gemacht – abgesehen von Wahlzuckerln, auf die sich Schwarz-Grün eventuell einigen kann.
Neuwahlen fallen aus. Beide Regierungsparteien wissen, dass sie verlieren und keine gemeinsame Mehrheit haben werden. Die Grünen wissen noch dazu, dass die ÖVP die erstbeste Ausfahrt nehmen würde, um mit der FPÖ zusammen wieder rechte Politik zu machen und in das Ressourcen-Match mit ihr zu gehen – wohl wissend, dass die Freiheitlichen bisher immer an sich selbst gescheitert sind. Insofern wären beide Parteien schlecht beraten, neu wählen zu lassen. Lieber jetzt noch den ein oder anderen Kompromiss durchsetzen. (Liebe Grüne.)
Es mag also deprimierend sein, aber diese Regierung ist alles, was wir haben.
Darum ist alles, was wir momentan tun können – wer schon länger mitliest, kennt den Diskurshoheit-Take bereits –, den Druck aufrecht zu erhalten.
Dieser Mann wurde Bundeskanzler, um dann Auto-Unternehmen zu besuchen und ihnen zu erzählen, dass E-Fuels die Zukunft sind, während der BMW-Werksleiter neben ihm steht und widerspricht. Das ist „strategisch notwendiger Unsinn“, wie es Gerald Fleischmann nennt, aber nicht die Art von Politik, die wir in diesem Window of Opportunity brauchen.
Ich will keine depperten Schlagzeilen lesen, dass Nehammer sich jetzt als Staatsmann oder großartiger Visionär inszeniert. Ich will lesen, dass Reformen passieren oder zumindest in einer Art vorbereitet werden, dass sie vor der nächsten Wahl garantiert durchgehen. Und solange das nicht passiert, will ich ein und dieselbe Frage in immer anderer Form, an immer anderen Beispielen laut gestellt wissen: Was macht diese Regierung eigentlich beruflich?
Noch mehr Lesestoff
☀️ Falls noch jemand ein Argument braucht, warum wir uns jetzt um Klimaschutz kümmern sollten: Die Temperaturen in Europa steigen doppelt so schnell wie im globalen Durchschnitt. Wenn ihr also bei 40 Grad im Sommer denkt, dass das schon ziemlich scheiße ist, genießt den kühlsten Sommer für den Rest eures Lebens und verbreitet die Botschaft. Auch das wäre mit einer FPÖ-ÖVP-Koalition nämlich für die nächsten Jahre abgesagt.
😱 Ist das nicht … Cancel Culture?! Republikaner hassen Cancel Culture, aber lieben es, andere zu canceln. Jetzt gibt es sogar einen SMS-Service, der die angebliche Partei der Freiheit benachrichtigt, welche Firmen „woke“ sind und deswegen nicht mehr in Frage kommen dürfen. Das ist einerseits die nischigste Geschichte überhaupt, andererseits halt der dominante politische Diskurs in den USA. You know, normal stuff.
🤐 Übrigens, wenn ihr euch fragt, was Cancel Culture ist: Gratuliere, ihr habt alles im Leben richtig gemacht, bitte macht weiter so. Das ist kurz gesagt der Trend, dass man Menschen, Marken und alles mögliche boykottiert, wenn sie politisch nicht die „richtige“ Meinung vertreten. Das kann heißen, nicht Aktien von Unternehmen zu kaufen, die schlecht fürs Klima sind (I do that!) oder eben, dass man Hogwarts Legacy nicht spielen darf, weil J.K. Rowling etwas Blödes getwittert hat. (I don’t do that – aber ich hab einen Artikel darüber geschrieben.)
Stuff aus dem Internet
„Stuff von Twitter“ ist tot, weil Substack die Twitter-Vorschau gekillt hat. Der Grund dafür dürfte sein, dass Elon Musk Substack als Konkurrenz sieht und Beef mit allem hat, was ihm nicht gefällt. Anyways, hier eine neue Rubrik für lustige Sachen, die ich aus dem Internet (immer noch Twitter, aber auch ein bisschen Reddit) gefunden hab: