Eigentlich gäbe es ja genug Gründe für Rücktritte in Österreich. Auch in der aktuellen Bundesregierung. Aber dass gerade Rudolf Anschober den Hut zieht, hat mich dann doch gewundert. Als ich noch am Wochenende mit Freunden darüber gesprochen habe, ob die Gerüchte stimmen könnten, war ich doch sehr entschlossen dagegen. (Am gleichen Wochenende habe ich übrigens gewettet, dass dieses Jahr keine Neuwahlen ausgerufen werden. 🤞)
Darf man einen Gesundheitsminister loben, während die Intensivstationen voll sind? Eher schwierig. Trotzdem hatte der gestrige Rücktritt von Rudolf Anschober etwas. Es fällt einfach schwer, ihn nicht zu mögen.
Nein, wir haben die Krise nicht so gemeistert, wie wir sie meistern hätten sollen. Aber trotzdem war Anschober jemand, den man eigentlich gerne in der Politik hatte. Ein unaufgeregter Sachpolitiker, der sich auch nie aus der Ruhe bringen lies. Auch gestern erwähnte er bei seiner Rücktrittsrede kein einziges Mal den Namen Sebastian Kurz. Aber man kann ja zwischen den Zeilen lesen.
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Von Politics gelangweilt
Die Politikwissenschaft differenziert zwischen Polity, Politics und Policy. Polity betrifft Dinge wie Verfassungen, Regierungsformen, Normen, aber auch gesellschaftliche Grundeinstellungen, Policy meint die Ergebnisse von Gesetzgebung in verschiedene Politikfeldern. Dazwischen liegt Politics - das, was man als “Politiker sein” versteht. Das Wechselspiel von Interessen, das Abwägen von Veränderung und Machterhalt, das Netzwerken und ja, auch das Intrigieren. Und in dieser Kategorie hat mich Anschober in seiner Zeit als Minister kein einziges Mal enttäuscht.
Oft genug gab es Spins aus der Parteizentrale des Koalitionspartners, die Anschober angegriffen haben. Als der Gesundheitsminister in den Umfragewerten sogar Sebastian Kurz nahekam - zu einer Zeit, als noch keiner von der #OEVPkrise geschrieben hat -, zeigte die ÖVP ihren gewohnheitsmäßigen Beißreflex, der immer dann eintritt, wenn jemand anderes gewinnt. Gleichzeitig hat die FPÖ mit “Angstschober” einen Lieblingsgegner aufgebaut, den sie als Pseudo-Diktator aufgebaut hat.
All das hat Rudi Anschober über sich ergehen lassen. Kein einziger Konter, keine einzige gehässige Presseaussendung, keine Kritik an politischen Gegnern über die Medien. Als man ihn darauf angesprochen hat - und Innenpolitik-Journalismus in Österreich besteht seit Jahren und Jahrzehnten vor allem darin, Aussagen über die Koalitionspartner zu entlocken -, gab es meistens Antworten, die sachlich und versöhnlich waren. Und im schlimmsten Fall wurden Dinge eben gar nicht kommentiert. Ich hatte den Eindruck, dass es Rudi Anschober immer um die Sache ging. Und dass ihn das politische Spiel mit der ÖVP, für die Politik nur aus Politics besteht, ein Stück weit frustriert hat.
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Das heißt aber nicht, dass das ein reiner “Frust mit der ÖVP”-Rücktritt war. Er hat mich weniger an Reinhold Mitterlehner erinnert als an Matthias Strolz.
Rudi Anschober war zu 100 % transparent und hat den verständlichsten Grund für einen Rücktritt überhaupt genannt: Ich kann den Job gerade nicht so machen, wie ich ihn machen müsste. Das ist nicht nur erstaunlich reflektiert, sondern zeigt auch die Standards, an denen sich ein Politiker messen kann. Ich brauche eine Pause, aber wir haben keine Zeit für Pausen - also kann ich es nicht. Sogar Anschober-Kritiker werden daran tüfteln müssen, wie sie ihm das vorwerfen können.
Was will man ihm denn vorwerfen? “Einen Schönwetter-Minister brauchen wir nicht?” Richtig, darum gut, dass er zurücktritt. “Er war schlecht in seinem Job?” Auch ein gutes Argument dafür, es genau so zu machen. Das Beeindruckende ist, dass Anschober mit seinem Rücktritt den eigenen Kritikern recht gibt und zugibt, dass er der Aufgabe aktuell nicht gewachsen ist. Ob man das nun auf ihn oder die Aufgabe zurückführt - eine Corona-Pandemie im Föderalismus mit dieser Bundesregierung zu managen ist sicher eine Herausforderung -, ist im Endeffekt nicht wichtig. So oder so kann man sagen: Fair enough.
“Ich will mich nicht kaputt machen”
Mit diesem Ende zeigt Rudi Anschober, wie Politik funktionieren kann: Man darf Schwächen zugeben. Man darf zeigen, dass man ein Mensch ist und dass das politische Geschäft einem nahegeht. Man darf zugeben, dass man nicht alles richtig gemacht hat. Und wenn man sich nicht im ewig gleichen parteipolitischen Hickhack verliert, kann man am Ende sogar seine Würde behalten, obwohl man Fehler gemacht hat.
Gestern haben wir nicht gesehen, dass jemand einfach zu lang angestoßen ist und sich frustriert zurückzieht. Sondern einen ausgeglichenen Menschen, der sich selbst eingesteht, dass er der Aufgabe gerade nicht gewachsen ist - und dass es auch okay ist, das zuzugeben. Matthias Strolz sagte “Ich bin Pilot meines Lebens”, Rudolf Anschober sagte dazu “Ich will mich nicht kaputt machen.” Davon können noch einige Politiker etwas lernen.
Und wenn gerade keine Pandemie wäre, in der wir uns keine Fehler erlauben können, hätte ich gerne mehr davon gesehen.