Was gegen Neuwahlen spricht
Das Gerücht ist verständlich, aber ich bin skeptisch. Here‘s why.
Zuerst full disclosure: Ich hab mich bei sowas schon geirrt. Als mich vor zwei Jahren jemand gefragt hat, wie wahrscheinlich Neuwahlen sind, war meine Antwort sinngemäß „nie im Leben“. Und dann kam Ibiza - und es ging schnell. Ein Timing, das im Nachhinein hunderte Leben gerettet hat: Wenn Herbert „Ich lasse mich nicht testen“ Kickl und Norbert „Corona ist nicht gefährlich“ Hofer in der Regierung sitzen, während eine Pandemie wütet, hätten wir unzählige vermeidbare Tode zusätzlich zu verzeichnen. Shoutout an Strache, dessen Korruptionsversuche genau zum richtigen Zeitpunkt rauskamen, um das Schlimmste zu verhindern.
Jedenfalls kann sich das alles schnell ändern. Darum sind wir in Österreich auch so daran gewöhnt, dass Neuwahlen eine Möglichkeit sind. Unter Faymann/Spindelegger bzw. später Faymann/Mitterlehner gab es jahrelang ein Neuwahl-Gespenst dank anhaltendem Stillstand - eingelöst wurde das erst in der Konstellation Kern/Kurz. Davor und danach sorgten interne Parteistreitigkeiten, Änderungen in den Umfragewerten, Regierungskrisen und Korruptionsaffären immer wieder für vorgezogene Neuwahlen - seit die Legislaturperiode auf fünf Jahre verlängert wurde, gab es erst eine, die genau so lange gedauert hat (2008-2013).
Von daher ergibt es nur Sinn, dass diese Frage vor dem Jahreswechsel aufpoppt. Trotzdem bin ich wieder skeptisch und würde momentan auch viel Geld dagegen tippen, dass es passiert. Gehen wir aber kurz durch, was dafür sprechen könnte, bevor ich meine Einschätzung gebe.
Sebastian Kurz und die Absolute
Ein Narrativ, das man ganz oft dazu hört, ist, dass Sebastian Kurz jetzt auch noch die Grünen schlucken will. Denn die ÖVP treibt die Grünen vor sich her. Wer hätte sich vor einem Jahr noch gedacht, dass eine grüne Regierungsbeteiligung so aussehen würde, dass man ignoriert, wenn Kinder in griechischen Flüchtlingslagern von Ratten gebissen werden? Gleichzeitig beten Politiker von Regierungsparteien im Parlament und weichen die Trennung von Kirche und Staat auf. Und beim Corona-Krisenmanagement verliert Österreich durch permanente Parteipolitik, die wir aus rot-schwarzen Zeiten kennen.
Der Gedanke wäre also, dass Kurz auf die Absolute schielt. Das war auch schon eine wesentliche Argumentation für die Neuwahl 2019: Die FPÖ war eine von drei sehr starken Parteien nach der Nationalratswahl 2017, und Kurz nahm die Chance wahr, die enttäuschten Wähler abzustauben. Mit Erfolg: Die ÖVP war bei der letzten Wahl stärker als die zweit- und drittstärkste Partei zusammen. Und konnte sich den Juniorpartner eben aussuchen.
Was spricht dagegen? Auch Sebastian Kurz ist nicht unverwundbar. In der Corona-Krise gibt es viele Menschen, die wütend oder frustriert sind. Die einen haben durch Fehler im Pandemie-Management ihre Freunde und Familie an das Virus verloren, die anderen glauben der FPÖ und haben Fakten mittlerweile vollkommen abgeschworen. Die sprechen dann vom „Einsperrkanzler“. Und wieder andere mögen vielleicht Corona nicht leugnen, aber haben berechtigte Kritik an den Lücken in der Umsetzung der Maßnahmen: Wer jetzt zu lange auf die Corona-Hilfen warten muss, könnte seine Existenz verlieren. Ganz ohne Erkrankung.
Insofern ist eine Absolute für Sebastian Kurz momentan nicht wahnsinnig realistisch. Gerade in nächster Zeit, in der Österreich erst mal die Impfungen hinbekommen muss und in der sich erst zeigen wird, wie schnell wir zu einer zumindest gefühlten Normalität zurückkommen werden. Jetzt muss er beweisen, dass das alles richtig war - viele peinliche Fehler wie das Kleinwalsertal oder die Wien-Bashing-Pressekonferenz im Sommer werden dann schnell vergessen sein, wenn wir im Sommer wieder ein normales Land sind. Sebastian Kurz hat Interesse daran, auf Zeit zu spielen. Und in einigen Jahren in gewohnter Manier darauf hinzuweisen, dass wir doch so gut durch die Krise gekommen sind.
Flucht nach vorne für die Grünen?
Ein weiteres Argument ist, dass die Grünen ihre Wähler immer mehr enttäuschen. Das angekündigte 1-2-3-Öffi-Ticket scheitert momentan an der politischen und wirtschaftlichen Realität, obwohl zumindest das „Dreier-Ticket“ - also rund 1.000 € im Jahr für alle Öffis in Österreich - für Ende 2020 versprochen wurde. Und dass die Grünen zuschauen, wie der Ibiza-U-Ausschuss zur Lachnummer gemacht wird und wie Flüchtlingskinder in Moria leiden, ist nichts, was ihre Wähler so schnell vergessen werden. Daher der zuerst logische Gedanke: Flucht nach vorn.
Was spricht dagegen? Ähnlich wie die ÖVP ergibt es auch für die Grünen mehr Sinn, auf Zeit zu spielen. Alle Schwächen, die sie momentan in der Koalition zeigen, können in ein paar Jahren wieder vergessen sein.
Je länger die Legislaturperiode dauert, umso wahrscheinlicher ist die Umsetzung des 1-2-3-Klimatickets. Das wäre eine Veränderung, die für viele Österreicher spürbar wird und sie regelmäßig daran erinnert, was sie von der grünen Regierungsbeteiligung haben. Ähnlich hat das schon in Wien funktioniert. Neuwahlen würden das Projekt de facto auf Eis legen und die Umsetzung generell riskieren. Das spricht für Abwarten.
Dazu kommt wieder das Pandemie-Management. Wenn wir nächstes Jahr zu Weihnachten nicht mehr überlegen müssen, ob wir unsere Familien umarmen dürfen, und wieder ganz normal Punsch trinken können, werden wir die Veränderung merken. Und im Nachhinein wird sich zeigen, wie gut wir durch die Krise gekommen sind. Eine positive Antwort dazu wird auch Anschober nutzen - und damit den Grünen.
Ein weiterer Aspekt ist die Wahl-Arithmetik: Die Grünen werden überdurchschnittlich oft von jungen, urbanen Menschen gewählt, die in den nächsten Jahren relevanter werden. Jeder Jungwähler ist ein potenzieller Grünwähler, während jeder an Altersschwäche gestorbener Senior eher keiner sein wird. Ich glaube nicht, dass diese etwas zynische Betrachtungsweise in die Überlegungen der Grünen mit einfließt - trotzdem sind demographische Trends durchaus entscheidend für Wahlen.
Ähnliche Trends können übrigens auch negativ antizipiert werden: Die FPÖ arbeitet gerade hart daran, dass ihre Wähler den nächsten Wahltag nicht erleben. Jene, die Tests, Impfungen und Maßnahmen ablehnen, werden 2024 eher an Corona gestorben sein als jene, die es sich nicht im von ServusTV moderierten FPÖ-Paralleluniversum gemütlich gemacht haben.
Wähler sind Goldfische
Aber ein wesentliches Argument gegen Neuwahlen liegt in der Natur von Wahlkämpfen: Wähler erinnern sich eben nicht besonders gut an Dinge, die während einer Legislaturperiode passieren. Trump-Berater Roger Stone hat das gut verstanden und zusammengefasst. Er erinnert in seinem Buch „Stones Rules“ daran, dass Politik für die meisten Wähler etwas ist, mit dem man sich kurz vor Wahlen beschäftigt und dann wieder gar nicht.
Darum sind TV-Duelle auch für viele Polit-Nerds so unaushaltbar: Die Kandidaten wiederholen sich 200x, und wer alle 200 Interviews anschaut, wird leicht wahnsinnig. Aber die Kandidaten müssen sich eben wiederholen, weil 5-10 Minuten in eine Wahlentscheidung fließen. Und eben nicht, wie sich die Grünen vor ein paar Jahren bei einem Thema verhalten haben, das man nicht mehr am Schirm hat.
In diesem Sinne ist es im Sinne beider Parteien, so lange wie möglich zu koalieren. Beide wollen auf Siege verweisen, die sie erst einfahren müssen, und die Fehler im Pandemie-Management untergehen lassen. Und darum würde ich auf jeden Fall dagegen wetten, dass es nächstes Jahr Neuwahlen gibt.
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