Ist mir doch egal, welche Meinung „normal“ ist
Warum die Normalitäts-Debatte ein peinliches Ablenkungsmanöver ist
Ihr habt es sicher schon mitbekommen: Als hätten wir keine anderen Probleme, reden wir jetzt ernsthaft darüber, was alles „normal“ ist und was nicht.
Manchmal tu ich mir auch aus strategischer Sicht schwer damit. Ist es überhaupt konstruktiv, auf so ein lächerliches Ablenkungsmanöver einzusteigen? Oder wäre es nicht viel besser, „on the message“ zu bleiben und zu betonen, dass wir während multiplen Krisen einen Reformstau finanzieren?
Aber das ist das Gute daran, einen privaten Newsletter zu haben für alles, was mich persönlich so im Leben aufregt. Und Nehammers neuer Spin regt mich auf. Also gehen wir kurz durch, warum dieses Gerede von der „Normalität“ deppert ist.
Es gibt eigentlich zwei Gründe, warum Karl Nehammers „Normal-Video“ deppert ist.
Seine Einteilung, was „normal“ ist und was nicht, ist willkürlich und – aus meiner Sicht – falsch.
Individuelle politische Meinungen in „normal“ und „abnormal“ einzuteilen, ist keine Frage, mit der sich die Politik beschäftigen sollte. Eine normale Meinung ist nicht zwingend besser oder wertvoller als eine andere, und eine liberale Demokratie lebt vom Wettbewerb aller Ideen - egal, ob man sie normal oder extrem findet.
Das war jetzt die Executive Summary dieses Newsletters, wenn ihr wohin müsst, könnt ihr den Tab jetzt schließen. Ansonsten gehen wir die drei Punkte jetzt durch.
1. Die willkürliche Einteilung des „Normalen“
An Nehammers Verständnis von Normalität stören mich vor allem zwei Dinge: Er pickt sich willkürliche Beispiele aus, denen alle irgendwo angehören wollen, und er friert diese als einzig legitimen Status Quo ein.
Und die Nehammer-Liste der Normalität ist wirklich merkwürdig.
Ich beziehe mich da im Wesentlichen auf das Video, das Nehammer nach der Kritik des Bundespräsidenten gepostet hat.
Normal, das sei laut Nehammer etwa, wer früh aufsteht und arbeiten geht. Mal abgesehen davon, dass nicht nur Frühaufsteher gute Arbeit leisten und das ein sehr veraltetes Weltbild ist – dürfen Leute, die nicht arbeiten, keine politische Meinung haben? Sind die dann automatisch abnormal?
Normal ist auch, wer sich mit seiner Familie etwas aufbauen will. Was ist Familie? Zählen Kinderlose mit Ambitionen nicht als normal? Ist das dann weniger legitim?
Normal ist auch – ja, der meint das ernst – wer sich gerne mit Freunden trifft. Das Standard-Hobby aller Menschen ohne Sozialphobie wird jetzt in einer politischen Botschaft als Gegenentwurf für „die Extreme“ herangezogen. Wer den Status Quo kritisiert, ist extrem und hat keine Freunde. Muss mir entgangen sein.
Normal ist Autofahren, auch wenn es „in Ordnung ist“, mit dem Fahrrad in die Arbeit zu fahren. Warum muss man eigentlich als Bundeskanzler werten, welche Art der Fortbewegung die beste ist? Und wenn man das schon macht – warum genau der Bereich, in dem wir ein offensichtliches Klima-Problem haben, weil die ÖVP die E-Mobilität verschläft?
Wenn diese Aufzählung für euch bizarr klingt: Gratuliere zu eurem funktionierenden moralischen Kompass. Und ja, es ist bizarr.
Und zur Fairness sei natürlich dazugesagt: Nicht alles an diesem Video ist falsch. Man soll wirklich aufhören, Autofahrern ein schlechtes Gewissen zu machen, wenn sie aufs Auto angewiesen sind. Aber wenn das von einem Bundeskanzler kommt, der nichts dafür tut, diese Abhängigkeit vom Verbrennungsmotor zu ändern – E-Autos sind am Land wohl die realistischere Lösung als Öffis in jedes Tal –, dann fühlt man sich zurecht verarscht.
Und außerdem sind diese Punkte einfach banal. Normal sind Leute, die einen Job haben und gerne ihre Freunde treffen. Wer nicht normal ist, der ist arbeitslos und hat keine Freunde, und dessen politische Meinung nehmen wir nicht ernst, weil er kein Teil der Mehrheit ist. Das ist jetzt kein Plädoyer, mehr Liebe für die Klimakleber zu haben – aber muss man da wirklich mit Dingen spalten, wo sich eh so ziemlich alle einig sind?
„Extrem ist, wenn man seine Meinung über die der anderen stellt“
Kommt drauf an. Wenn das über diktatorischen Zwang geschieht, ja, dann sind wir außerhalb des Verfassungsbogens und bei einem Normalitäts-Begriff, den ich auch für erstrebenswert halte. Aber man kann das auch als Vorwurf interpretieren, die eigene Meinung für „richtiger“ zu halten – was absolut legitim ist. Ich höre da mehr eine Kritikunfähigkeit der ÖVP heraus als ein Bekenntnis zur offenen Gesellschaft. Das wäre auch überraschend bei einer Partei, die in drei Ländern mit der FPÖ koaliert und das auch im Bund sofort wieder machen würde.
Aber es gibt einfach manche Dinge, in denen nicht jede Meinung gleichwertig ist. Das heißt nicht, dass die andere Meinung wertlos ist, immerhin ist die Meinungsfreiheit ein hohes Gut in einer liberalen Demokratie. Wessen Meinung aber auf Desinformation und Propaganda beruht, der ist nun mal weniger ernstzunehmend, und man sollte sich nicht nach dieser Meinung richten, nur weil es eine Meinung ist.
Nehmen wir ein Beispiel dazu. Wer in Österreich für den EU-Austritt argumentiert, hat kein einziges gutes Argument: Alle politischen, wirtschaftlichen und sonstigen Vorteile sprechen ganz eindeutig dafür, dass Österreich vom EU-Beitritt profitiert hat. Wer dagegen argumentiert, dem bleiben Gerüchte und Vorurteile. Das ist in Österreich zwar auch „normal“ – aber definitiv nicht die bessere Meinung. Besser wäre, bei den Fakten zu bleiben. Aber damit „stelle ich meine Meinung über die anderer“, wenn es nach Nehammer geht. Nicht normal. Nicht erwünscht.
2. Scheiß drauf, was normal ist.
Ganz unabhängig davon, ob man Nehammers Meinung dazu teilt, was normal ist und was nicht – warum müssen wir das überhaupt klären?
Wer eine Meinung als normal qualifiziert, impliziert damit notwendigerweise auch, dass andere Meinungen nicht normal wären. Ob man das nun „nicht normal“ oder „abnormal“ nennt, ist im Wesentlichen eine Nuance in der Wertung, meint aber dasselbe: Auf der einen Seite die Mehrheit, die eh verstanden hat, wie es läuft, und auf der anderen die Spinner, denen man nicht weiter zuhören sollte.
Das ist als politische Strategie natürlich aufgelegt, und es passiert auch nicht zum ersten Mal. Der Verweis auf die Mehrheit oder auf Autoritären ist gerade in Österreich beliebt – wir erinnern uns an die Pandemie, als man alle, die noch an die Wissenschaft glauben, als normal bezeichnen konnte, während die Schwurbler sich als die „schweigende Mehrheit“ bezeichnet haben. Auch sie waren in ihrer Darstellung die „Normalen“. In einer Situation, in der es um Todesfälle durch die Dummheit anderer geht, ist diese Emotionalisierung noch etwas verständlicher als bei der Frage nach dem Ausmaß des Schnitzelkonsums.
Trotzdem ist das einfach keine Frage, die ein Bundeskanzler stellen sollte.
Die Ansage, dass zufällig alles, was die ÖVP gerade vertritt, mehrheitsfähig und normal sei, soll nicht nur gegen Kritik immunisieren, sondern zeigt auch das Politikverständnis einer „Volkspartei“: Sie richtet sich danach, was die Mehrheit denkt. Völlig egal, was das ist.
Eigentlich müsste das aber nicht so sein. Eine Volkspartei kann auch dafür kämpfen, etwas populär zu machen – sie muss dem Volk nicht nach dem Mund reden. Jeder Mensch in diesem Land würde von mehr Klimaschutz profitieren, sogar die, die ihn leugnen. Wir alle gewinnen, wenn unser Bildungs- oder Gesundheitssystem endlich reformiert werden. Das geht mit der ÖVP aber scheinbar nicht. Warum eigentlich nicht?
Aber nach 36 Jahren in der Regierung ist das auch logisch. Das würde jeder Partei passieren, die mehr als eine Generation lang gewohnt ist, an der Macht zu bleiben – irgendwann wird Machterhalt die einzige Aufgabe, das Fähnchen im Wind zu sein die einzige letzte Option. Die ÖVP hat keine Vision, keine Inhalte und keine Programmatik mehr. Sie schaut einfach, was die Umfragen sagen, überlegt sich nette Wordings und gewinnt dann mit einer millionenschweren Materialschlacht die öffentliche Meinung für sich.
Mein Politikverständnis sieht anders aus.
Ich finde, ein Politiker hat die Verantwortung, eine Vision, ein inhaltliches Programm vorzulegen, wo die Reise hingehen soll. Und dann kämpft man im Wettbewerb der öffentlichen Ideen – normal oder nicht – darum, das auch durchzusetzen. Das heißt auch, dass man manchmal gegen die Mehrheit sein und unpopuläre Vorschläge machen kann.
Da wären etwa die Vereinigten Staaten von Europa. Absolute Zukunftsmusik, aber eine ambitionierte Idee, die sonst niemand in den Raum stellt. Wer stellt noch eine große Vision für die EU auf? Wer stellt sinnlose österreichische Realitäten wie den Föderalismus oder unser verwinkeltes Gesundheitssystem noch in Frage? Und warum hören eigentlich alle so schnell wieder auf, über Korruption zu reden? Die Schmid-Chats sind lange her, aber Ibiza wäre nach wie vor legal möglich. Das sollte uns alle extrem aufregen. Mich regt es jedenfalls auf.
Und überhaupt: Normalität hat nicht immer recht. Unser Umgang mit der Neutralität ist eine verlogene Debatte über einen rechtlichen Zustand, der so nicht existiert, aber verhindert, dass wir uns um unsere Sicherheit kümmern müssen. Die öffentliche Meinung zur Gentechnik ist nicht mehr aktuell und verhindert Fortschritt in der Medizin und der Landwirtschaft, von der wir alle komplett ohne Risiko profitieren könnten. Obwohl wir dringendst das europäische Energiesystem CO2-frei aufstellen müssen, wollen wir nicht nur keine Atomkraft, sondern blockieren auch andere Projekte in Europa, wo es nur geht – als ob das Kohlekraftwerke nicht zu wesentlich mehr Toten führen würde.
Außerdem brauchen wir Visionen, die das Leben der Menschen besser machen und nicht nur verwalten.
Die Energie- und Mobilitätswende würde unser Leben drastisch verbessern. Langfristig würde sie den Strom wesentlich billiger machen, weniger Lärm und Emissionen erzeugen. Was wiederum zu weniger Hitzetagen, Tropennächte, Hochwassern und weniger schweren Stürmen führen würde. Die Artenvielfalt bliebe erhalten, die Natur lebenswerter, die Städte aushaltbarer und das Land weiterhin ein Tourismus-Hotspot durch nicht ausgetrocknete Seen und erhaltene Gletscher.
Die Alternative, die Nehammers „Normal-Kurs“ dazu bietet, ist nicht eine programmatische Ansage – sondern Nostalgie und Ressentiment. Wenn wir beim Verbrenner bleiben, wird nichts besser. Wir werden die Klimakrise voll abkriegen, früher oder später trotzdem auf E-Autos umsteigen müssen und dafür doppelt und dreifach zahlen. Die Infrastruktur bauen wir dann nicht mehr selbst, sondern kaufen sie von Chinesen oder anderen autoritären Systemen, von denen wir uns abhängig machen.
Unser Leben wird in jeder Hinsicht g’schissener, wenn wir den Klimaschutz weiter verschlafen. Aber weil die Klimakleber nerven, entscheidet sich die ÖVP, das Nichtstun zur Zukunftsvision, dem Status Quo zur Perfektion auszurufen.
Normalität ist nur die nächste Ablenkung.
Ihr merkt: Mir ist relativ egal, was man von Nehammers Normalitätsbegriff hält. Es ist einfach die falsche Debatte. Politiker mit einem Hauch von Format beschäftigen sich nicht damit, was normal ist und was nicht und halten sich nicht mit lächerlichen Fragen danach auf, was die Mehrheit heute wollen könnte, ohne dass irgendjemand eine Meinung zur Orientierung in den Raum gestellt hätte. Jemand, der einen Platz in der Spitzenpolitik verdient hat, geht zuerst mit einer Idee in die Arena – und dann fechten wir aus, welche davon die beste ist.
Die Normalitäts-Debatte ist also ein Sommerloch-Versuch der ÖVP, mit einem wieder neuen Thema das Umfrageloch zu überwinden. Schätzungsweise gibt es in drei Monaten die nächste Wunderwuzzi-Idee, was diesmal der Bevölkerung so gut gefallen könnte, dass sie nächstes Jahr nochmal den Fehler macht, Türkis für die Stimme der Veränderung zu halten. Wenn dieser Plan aufgeht, ist die ÖVP am Ende der nächsten Legislaturperiode 43 Jahre an der Macht. Und wir würden nicht nur unsere Klimaziele, sondern sämtliche Chancen zur Veränderung unseres Landes verpassen.
Ich will das nicht. Und ich will auch nicht, dass mit Schmähs wie „Was wir sagen ist aber normal“ eine Mehrheit für die Verwaltung des schlechten Status Quo reicht. Mit dieser Meinung bin ich wahrscheinlich auch nicht ganz normal – aber darum geht es auch gar nicht. Und wenn ihr mich fragt: In Österreich wäre es sowieso eher eine Beleidigung, als normal zu gelten.
Grüße an alle Abnormalen und Unzufriedenen
Noch mehr Lesestoff
🇺🇦 Ein lesenswertes Interview mit Helmut Brandstätter. In der MATERIE haben wir mit dem außenpolitischen Sprecher von NEOS gesprochen. Da ich selbst dort arbeite, kann ich auch aus persönlicher Erfahrung berichten, dass er nicht nur sehr engagiert ist, was Hilfe für die Ukraine angeht - sondern dass ihn wirklich fertig macht, wenn die Freunde Putins Österreichs (FPÖ) sich weigern, die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Hier ein Zitat daraus, das mich wütend macht:
Auch bei Plenardebatten, wenn du eine Rede hältst über die Lage in der Ukraine, wenn du von den ausgebombten Schulen erzählst oder von dem Massaker in Butscha, dann sitzen in den ersten paar Reihen der FPÖ Abgeordnete und schauen dich provokant lächelnd an. Das ist das ärgste, was mir im Parlament bis jetzt passiert ist. Und sie machen das ganz bewusst.
🇷🇺 Ein Land verliert sein Potenzial. Wenn man Politik nicht als schnelles Abtauschen von Interessen, sondern als langfristige Aufgabe versteht, gibt es fast keine schmerzlichere Headline für ein Land. Der ORF schreibt das über Russland. Wegen dem Krieg haben mehr als eine Million Menschen das Land verlassen. Das Land ist komplett isoliert, die Wirtschaft wird mehr und mehr von China abhängig. Und auch wenn die Staatseinnahmen (durch unsere verfehlte Energiepolitik) immer noch halbwegs okay für diese Situation aussehen – unter Putin wird aus diesem Land sicher nichts mehr. Das ist furchtbar für das russische Volk. Aber in einem Krieg ist das wohl auch irgendwie das richtige. Wie Timothy Snyder so schon sagt: „Wir müssen Putin helfen, diesen Krieg zu verlieren“.
⏳ Ein Rückblick auf die PRESSE von früher. In der Jubiläums-Ausgabe widmet sich eines der besten österreichischen Medien (never call it Zeitung only, wenn es überleben soll) seiner eigenen Geschichte. Und ich glaube, dass es ein historischer Glücksfall war, in Wien ein liberales Reformblatt zu haben. Ein interessanter Rückblick, und ich empfehle auch viele andere Geschichten aus der Jubiläumsausgabe:
Wie die PRESSE auf den Thronantritt von Kaiser Franz Joseph reagiert hat.
Was „bürgerlich“ eigentlich bedeutet, bedeutet hat oder bedeuten soll.
Stuff aus dem Internet
Das Selbstvertrauen eines rumänischen Schulbuches müsste man haben.
Im Powi-Studium habe ich mal das Wahlfach „Osteuropastudien“ belegt und dabei gehört, dass jeder Staat in Europa sagen würde, Osteuropa beginne östlich von uns. Was wir in Österreich über Ungarn ja auch sagen. Aber Rumänien, das ist schon ein bisschen frech.
So viel % der Weltbevölkerung wohnt in diesen indischen Bundesstaaten.
Jeder 40. Mensch lebt im Bundesstaat Uttar Pradesh. Let that sink in.
Der perfekte Köder für Online-Debatten.
Einfach mal so tun, als wäre das nicht das Wahlergebnis aus Nazi-Deutschland, sondern das einer anderen Diktatur, die gerade von einem Tanky verteidigt wird. Nice.