Meine größte Lektion aus dem Superwahljahr
Und wie viele Verschwörungstheoretiker ich an einem Tag kennengelernt habe
„Wissen Sie schon, wen Sie wählen?“
„Danke, aber ich gehe nicht wählen.“
„Aha. Dürfte ich wissen, warum nicht?“
„Weil ihr alle Freimaurer seids.“
Das war eine meiner Lieblingsszenen aus diesem wirklich, wirklich langen 2024. Und sie demonstriert gleich eines meiner Key Learnings aus einem Wahlkampfjahr, das für mich schon sehr früh gestartet hat: Bei der Gemeinderatswahl in Salzburg-Stadt, wo dieser Dialog herkommt.
Ich war Tür-zu-Tür-Wahlkämpfen mit unserer früheren Gemeinderätin Nevin Öztürk. Und wie immer gilt: Einmal am Tag erwischt man die Verschwörungstheoretiker. Diese eins ist keine Plus-Minus-Zahl, sondern ein Naturgesetz: In meinen gefühlt 200 Wahlkampf-Aktivitäten dieses Jahr gab es immer genau eine verrückte Person pro Tag, nicht mehr, nicht weniger. Nur eine der vielen Dinge, die ich 2024 über Wahlkampf lernen durfte.
Draußen fühlt sich Wahlkampf ganz anders an.
Nicht nur, weil in meinem ersten Wahlkampf des Jahres noch Schnee lag – sondern auch, weil der Unterschied zwischen On- und Offline nicht größer sein könnte. Ja, auch bei Tür-zu-Tür-Gesprächen kann es hitzig werden, am Wahlkampfstand erst recht. Aber die meisten „normalen Menschen“, die sich nur selten für Politik interessieren und nur ein paar Minuten pro Wahlkampf für ihre Entscheidung aufwenden, sind zwar streitbare, aber auch interessierte und höfliche Leute. Also das Gegenteil davon, wie sich Wahlkampf online anfühlt.
Denn auf Social Media, vor allem auf Twitter, zählt nicht der persönliche Austausch, sondern das Engagement. Nur durch viele Retweets und Quote-Tweets kommt man auf ansehnliche Reichweiten, mit der man die eigene Bubble sprengen kann. Und das ist quasi Mindestvoraussetzung: Denn nur die zu überzeugen, die einen eh schon geil finden, das reicht nicht für einen Wahlsieg. Darum schaut man, dass man Hot Takes raushaut. Und das funktioniert meist nur über Konflikt.
Ich bin da selbst nicht ganz unschuldig.
Auch mein Twitter-Account hatte ein gutes Jahr, weil Wahlkampf eine gute Zeit für Traffic und Diskussion ist. Wobei ich mit „Diskussion“ nicht die gute alte gesittete Debatte meine, die schon die alten Griechen in der Agora geführt haben – sondern das maximal angriffige Anficken, das absichtliche Falschverstehen, das tägliche Dammbruch-Argument.
Dieser Stil dominiert unsere politische Debatte über Twitter, einen kleinen Nebenkanal, der nicht wirklich eine reale Relevanz hat, weil dort nur die Bubble versammelt ist. Aber wenn Journalisten und Politiker gleichermaßen dort sind, sind auch alle dort, die wichtig sind – und das reicht, um die Berichterstattung zu dominieren.
Genau diese Dynamik macht es schwer, positive Gefühle und Themen zu kommunizieren – was aus meiner Sicht auch die Aufgabe von Politik sein sollte. Dass Herbert Kickl mittlerweile der „Main Character“ von Österreich ist, hilft nicht unbedingt dabei, die Temperatur zu verringern. Vielmehr geht es immer um alles: Eine falsche Entscheidung, du dummer, uninformierter Wähler, und die Demokratie geht zugrunde.
Diese Dynamik macht was mit einem.
Ich kenne diesen Effekt auch aus Wahlkampf-Simulationen und Medientrainings: Wenn man im Gefecht ist, dann steigt der Druck, auf alles mögliche reagieren zu müssen. Auf Twitter redet jemand, der keine reale Relevanz hat, schlecht über einen? Schnell zurückfeuern, das darf nicht unwidersprochen bleiben! Was man mit dieser Zeit machen könnte, wenn man stattdessen draußen mit Menschen spricht, ihnen zur Not sogar einfach nur einen Flyer in die Hand drückt.
Wir NEOS haben das ausprobiert. Dieses Jahr waren wir auch als eine der kleineren Parteien mit so vielen Menschen im Gespräch, wie es nur ging. Und das hat zu einem Kontrast geführt: Während im Inneren das Gefühl vorherrscht, dass alles auf der Kippe steht, haben unsere Aktivisten „da draußen“ einfach ihr Ding gemacht. Der negative Kulturkampf, der online geführt wird, kam nie im echten Leben an. So war ich nach der Wahlkampf-Aktion immer deutlich entspannter als davor – weil man einfach die Bestätigung bekommt, dass die ganz normalen Leute viel cooler sind als die hyperventilierende Bubble, in der man sich zu oft bewegt.
Diese beiden Welten existieren aber nebeneinander. Während auf der einen Seite die böswillige Interpretation der Gegner zur Routine wird, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, ist man selbst auch versucht, den Gegner bis zur Lächerlichkeit zu entstellen.
Wie falsch das ist, erlernt man auch erst wieder, wenn man nach der Wahl wieder miteinander arbeiten muss. So bin ich zwischen EU- und Nationalratswahl vom NEOS Parlamentsklub zu NEOS Wien gewechselt, wo ich regelmäßig mit meinem Koalitionspartner im Austausch bin. Und obwohl ich meine Tweets über den Bablerismus nach wie vor ernst meine, muss ich im Nachhinein doch einsehen, dass die SPÖ in der Theorie schlimmer ist als in der Praxis. (Wobei ich das natürlich nur für die SPÖ Wien wirklich beurteilen kann.)
Und so geht es wahrscheinlich allen. Diese verzerrte Wahrnehmung, diese Art, wie wir Wahlkampf betreiben, macht etwas mit uns. Und ich glaube, wenn man damit keinen reflektierten Umgang findet, kann man der politischen Debatte schaden.
Was lerne ich daraus?
In diesem Wahljahr habe ich mehr gelernt, als in eine E-Mail passt. Aber wenn ich angehenden Wahlkämpfern oder auch nur politisch Interessierten meine Key Learnings mitgeben darf, dann wären das folgende:
Erinnere dich immer daran, worum es eigentlich geht. Wir sind in der Politik, weil wir etwas verändern wollen, weil wir das Leben der Menschen in unserem Land verbessern wollen. Wenn man das im Auge behält, ist es schon mal schwerer, sich im parteipolitischen Klein-Klein zu verlieren. (Dass wir NEOS bei Policy stark sind, hilft uns natürlich dabei.)
Geh möglichst viel raus. Für jeden künstlichen Beef mit politischer Konkurrenz und jedem aufgeregten Austausch auf Twitter sollte mindestens ein echtes Gespräch mit einem echten Menschen im echten Leben folgen. Da merkt man dann, was wirklich draußen ankommt und was wirklich wichtig ist. Keeps you grounded.
Filtere raus, was wirklich wichtig ist. Und für mich war die größte Zeitverschwendung des Jahres die Debatte mit Bableristas, die jedem außerhalb des linken SPÖ-Flügels unterstellen, ein schlechter Mensch zu sein. Das sind Menschen, die wissen was sie wählen, nicht überzeugbar sind (I really tried) und sich selbst disqualifizieren. Nicht mal ignorieren, würde ich heute dazu sagen.
In der direkten Begegnung liegt die eigentliche Stärke der Demokratie – und sie macht auch mit Abstand am meisten Spaß.
Das ist ein Learning, das ich für meine nächste Aufgabe wirklich gut brauchen konnte: Die Wien-Wahl 2025. Es wird sicher nicht leicht, der künstlichen Aufgeregtheit zu entgehen, ich bin auch nicht perfekt. Aber dieses Jahr voller Wahlkämpfe war für mich ein extrem lehrreiches. Und ich fühle mich nach wie vor geehrt, in einer Position zu sein, mit diesen Learnings auch etwas umsetzen zu können.
Mit diesem Newsletter halte ich euch am Laufenden in meinem Abenteuer zwischen digitaler und realer Politik. Und ich bin mir sicher, nächstes Jahr hab ich noch mehr zu erzählen.
Noch mehr Lesestoff
🔮 Neues aus der Zukunft. Googles DeepMind – quasi die KI-Abteilung von Google – kann quasi unendliche Videospielwelten designen. Momentan ist Speicherplatz noch ein Problem und ohne Story und sonstiges Gameplay ist das noch kein Durchbruch, aber die Betonung liegt auf „noch“. Friendly Reminder, dass KI immer noch das größte positive Potenzial überhaupt hat. So sieht das momentan zum Beispiel aus.
🤖 Aber von mir aus, reden wir halt auch über die negativen Seiten. Im Rennen um die globale Technologieführerschaft in Sachen KI geht’s auch um geopolitische Fragen. Wer wird die Künstliche Intelligenz der Zukunft bauen – eine Demokratie? Oder eine Diktatur? Das ist auch eine politische und ethische Frage, wie der Anthropic CEO in der FINANCIAL TIMES festhält.
📊 Und, no surprise: Eine Mehrheit ist gegen neue Steuern. In allen Wählergruppen sind die Menschen der Meinung, dass Sparen eine bessere Lösung ist, als neue Steuern einzuführen. Ja, sogar SPÖ-Wähler. Wieder mal ist die Bevölkerung weiter als Teile der Politik. Jetzt müssen wir das nur noch umsetzen. Let’s go!
Stuff aus dem Internet
Elon Musk damals vs. Elon Musk heute.
Gut, dass Twitter heute nicht mehr von politisch motivierten Eliten geführt wird, hm?
Jordan Peterson damals vs. Jordan Peterson heute.
Er könnte auch wirklich mal sein eigenes Buch lesen.