Österreichs politische Kultur der Scheindebatte
Warum wir über nichts mehr ernsthaft diskutieren können
Dieses Jahr bin ich ja in die Politik gewechselt. Eine berufliche Veränderung, die ich nicht bereue, aber die auch privat viel verändert.
Mehr als je zuvor bin ich „dieser Politik-Typ“, bei dem man sich einfach auslassen kann. Kein Problem, ich diskutiere eh gerne und glaube, das ist eine verständliche Rolle – die meisten interessieren sich außerhalb von Wahlkämpfen kaum für Politik, die Mediennutzung lässt nach, das Angebot der politischen Information ist dürftig und es ist extrem schwer, in den unzähligen Nebelgranaten den Überblick zu behalten. Wenn ich da ein Ventil sein kann, und vielleicht sogar noch im Vorbeigehen die ein oder andere Meinung ändere, gerne doch.
Ich glaube, dass ich in den unzähligen Diskussionen, die ich seit meinem Branchenwechsel geführt habe, ein gutes Bild davon bekommen habe, was die Menschen an der Politik stört. Und Überraschung: Es ist gar nicht so sehr eine gewisse Person, eine Partei oder gar eine politische Maßnahme. Es ist die politische Kultur, die so vielen Leuten „am Oasch geht”.
Dafür muss ich ein bisschen ausholen.
„Politik“ ist nämlich ein viel zu breiter Begriff für eine ernsthafte Diskussion.
Nehmen wir dafür kurz ein Beispiel: Wirtschaft, Wirtschaftlichkeit, Volkswirtschaft, Konjunktur, Ökonomie, Wirtschaftslehre - all diese Begriffe heißen im Englischen einfach economy. Wir haben mehrere Worte dafür, im englischsprachigen Raum wird all das unter einem Ausdruck gemeint. Das sorgt für Unschärfen in der Begriffsverwendung, die wir im Deutschen nicht haben.
Klingt komisch? Wir haben aber genau das Gleiche. Und zwar mit dem Wort Politik.
In der Politikwissenschaft gibt es die sogenannte „Policy-Trias“: Polity, Politics, Policy. Das sind die drei Arten der Politik, die bei uns alle unter diesem einen Wort summiert werden.
Polity bezieht sich auf die strukturelle Dimension der Politik. Welche Institutionen es in einem Staat gibt, was die Verfassung vorschreibt, welche Organisationen Macht ausüben können, aber auch die politische Kultur, die diese Prozesse prägt.
Politics bezieht sich auf die Prozessdimension von Politik und darauf, wie Entscheidungen zustande kommen: Abstimmungen, Mehrheitsfindung, aber auch der politische Diskurs, der dorthin führt.
Policy bezieht sich auf die inhaltliche Dimension der Politik. Also auf die konkreten Gesetze, die in einem politischen System gemacht werden. Das ist quasi die „Problemlösungsfunktion“ der Politik.
Dass wir dafür keine getrennten Begriffe verwenden, führt zur Tilgung gewisser Bereiche aus dem Diskurs. Denn wenn wir in Österreich über „Politik“ reden, meinen wir in der Regel Politics. Denn darunter fällt das „Über Politik reden”, das „Wer mit dem“, alles, was Wahlkampf ist. Und in einem Staat mit Bund-, Länder- und Gemeindeebene macht das so ziemlich 99 % dessen aus, was politisch diskutiert wird.
Ich glaube nämlich, dass sich die meisten von uns nicht mehr Diskussion, sondern mehr Lösungen wünschen würden. Momentan dringend fände ich z.B. Reformen für unser Pensionssystem, das uns bald auf den Kopf fallen wird, oder im Bildungsbereich, wo gefühlt seit Jahrzehnten nichts weitergeht. Oder wollen wir lieber darüber reden, dass wir eine Zwei- bis Dreiklassenmedizin haben, in der man sich gute Behandlung leisten können muss? Und wie schaut’s eigentlich mit dem wichtigsten Thema unserer Zeit, dem Klima aus?
Stattdessen produziert unsere Politik hauptsächlich Gespräche.
Denn Klimaschutz interessiert uns auf Policy-Ebene wenig - lieber diskutieren wir, ob sich junge Menschen irgendwo ankleben dürfen. Dass wir gegen das Aussterben kämpfen, von mir aus – aber dürfen die das?!?
Das hat die „Letzte Generation“ auch gut verstanden: Sie provoziert immerhin extra, um das Klima-Thema in die Medien zu bekommen. Das passiert auch, und wir sind auch ganz knapp dran, wirklich über Lösungen zu diskutieren. Aber stattdessen echauffieren sich die Leute lieber darüber, ob junge Menschen, die den Zusammenbruch der Zivilisation noch erleben könnten, in die Schule gehen oder sich irgendwo ankleben. Genau die richtigen Prioritäten, oder?
Ein anderes Beispiel: Wir haben keine Pensionsreform, dafür aber regelmäßige Debatten darüber, dass die Jungen ja nicht mehr arbeiten wollen. Und ja, auch ich bin da mit Schuld – es ist einfach viel zu verlockend, auf solche Phantomdebatten einzusteigen.
Ich habe manchmal das Gefühl, als würden viele in der Politik denken, dass diese Gespräche politische Resultate ersetzen könnten. Wenn man kein Gesetz zustande kriegt - oder sich vielleicht gar nicht dafür interessiert, eins zu machen -, kann man immer noch eine gesellschaftliche Debatte starten, um so zu tun, als würde man sich dafür interessieren. Scheiß aufs Klimaschutzgesetz – eine Diskussionssendung, in der wir darüber reden, ob wir eines brauchen, bedeutet in Wählerstimmen genau dasselbe. Oder anders gesagt: Politics über Policy.
Das führt zu genau der politischen Kultur, die Lösungen unmöglich macht.
Denn wenn wir uns nur noch über Talking Points im gesellschaftlichen Diskurs definieren, reden wir nicht mehr über Lösungen. Wann habt ihr das letzte Mal eine nuancierte Debatte über Bildungs-, Sozial- oder Gesundheitspolitik mitbekommen? Wie oft wurden Politiker:innen in einer Fernsehsendung darauf angesprochen, dass den Jungen das Pensionssystem auf den Kopf fällt? Wie viele machen sich regelmäßig Gedanken darüber, was ihre Klimapolitik ist, weil sie sonst vom Volk abgestraft werden?
Das alles gibt eine politische Kultur nicht her, in der Themenführerschaft mit Kompetenz verwechselt wird. Eine Kultur, die von der FPÖ massiv aufgebaut wurde - sie profitiert am meisten davon, weil ihre authentische Wut beim unpolitischen Volk so wirkt, als könnte sie etwas verändern. Dass all ihre Regierungsbeteiligungen die Justiz beschäftigen, ist da nebensächlich – „wer über Ausländer redet, macht was gegen die Ausländer. Auch, wenn ich nicht so recht weiß, warum ich eigentlich gegen Ausländer bin.“
Diese politische Kultur führt auch dazu, dass man nicht mehr normal miteinander reden kann.
Wenn alle Parteien an Lösungen orientiert sind - oder zumindest einen Anreiz haben, sich mit ihnen zu beschäftigen -, können Regierung und Opposition wertschätzend miteinander diskutieren. Aber wenn schlechte Umfragewerte dazu führen, eine komplett verkehrte Außenpolitik zu machen - was sollen wir denn diskutieren?
Alle Beteiligten wissen, warum aus innenpolitischen Gründen Dinge passieren, die keinen Sinn ergeben. Aber eine Seite muss sich dann hinstellen und so tun, als wäre es eine sinnvolle Idee, den Schengen-Beitritt von Rumänien und Bulgarien zu blockieren. Nein, das hat definitiv nichts mit den Umfragewerten in Niederösterreich zu tun, das ist total seriöse Politik! Wenn es um Asyl-, Migrations- und Außenpolitik geht, steigt die Wahrscheinlichkeit gegen 100 %, dass es eine Scheindebatte ist. Und wenn man dieses unwürdige Spiel zu regelmäßig spielt, wird man zynisch.
Im Endeffekt will, nein, kann einfach niemand zugeben, dass die Politik zu umfragegetrieben ist. Die ÖVP kann nicht anders, als sinnlose Scheinmaßnahmen zu setzen, weil sie sich vor der FPÖ fürchtet. Die Grünen können nicht anders, als in der Regierung zu bleiben, auch wenn es ihnen vor der ÖVP-Korruption grausen muss - sie brauchen noch einen großen Erfolg vor der nächsten Wahl. Das kann man von außen schlecht finden, innerhalb des Systems ist es zweckrational.
So wird das Spiel halt gespielt.
Und solange es keinen breiten Konsens gibt, dass wir die Regeln ändern sollten, wird es sich auch nicht ändern.
Als Einzelperson oder einzelne Partei in der Politik hast du damit keine Chance. NEOS hat die Wertschätzung in der DNA - aber auch wir sehen, dass evidenzbasierte Lösungsansätze die Menschen weniger interessieren als (berechtigte) Kritik an der Bundesregierung. Jetzt kann man natürlich daran arbeiten, diese zumindest seriös zu äußern: „Die Gießkanne ist böse“ ist etwas anderes als „Wenn man schon die Gießkanne einsetzt, dann sollte man auch ehrlich sagen, dass es ein Notfallplan ist, während man die notwendige Datenlage aufbaut“. Aber im Endeffekt dringen beide Varianten zu wenig durch – wir sind schon mit der nächsten Scheindebatte beschäftigt.
Auch dieses Jahr konnten wir wieder extrem viele Scheindebatten beobachten. Beispielsweise, als die ÖVP im U-Ausschuss (der sich mit ihren zahlreichen Korruptionsskandalen beschäftigt) ernsthaft thematisiert hat, ob man mit „Grüß Gott“ grüßen darf oder nicht. Natürlich wollte das niemand verhindern – aber darum geht’s auch gar nicht. Hauptsache nicht ernsthaft über Korruption reden. Erst recht nicht über Policy, die diese verhindern könnte.
Dazu kommen viele andere Feuilleton-Debatten, die meistens gegen Phantom-Forderungen gehen. Was wurde eigentlich aus der Bargeld-Abschaffung? Wie viele Menschen wollen ernsthaft Winnetou verbieten? Und sind ukrainische Kennzeichen auf Autos in Wien wirklich das bestimmende Thema unserer Zeit?
All diese Themen sind Scheindebatten, die aber zu viel Diskussion führen. Und damit den Leuten das Gefühl geben, dass sich viel bewegt in unserer Zeit. Währenddessen geht in den Bereichen nichts weiter, für die wir Politik haben, hier im Sinne von „Policy“ verstanden: Schule ist noch gleich wie vor ca. 100 Jahren, das Gesundheitssystem funktioniert hinten und vorne nicht, Österreich verpasst seine Klimaziele, das Pensionssystem wird jeden Tag teurer, und das soziale Aufstiegsversprechen ist schon lange tot.
Okay, aber wie kommen wir da raus?
Hier kommt wie immer mein extrem granularer, unbefriedigender Lösungsansatz: Indem wir es für uns persönlich anders machen. Ein politischer Prozess lebt von der Summe an Einzelnen - und je weniger Leute sich von Scheindebatten beeindrucken lassen und Parteien wählen, die auf der Policy-Ebene nicht liefern, desto besser. Wem es nicht reicht, am Wahltag seine Stimme abzugeben, kann sie auch außerhalb eines Wahlkampfs nutzen und mit Leuten über Politik reden. Versuchen, andere zu überzeugen.
Ich für meinen Teil versuche damit so umzugehen, wie ich seit Jahren damit umgehe: Indem ich darüber schreibe. In der Materie geht es um Lösungen und die Grundlagen, die man braucht, um sich eine politische Meinung zu bilden. Und dieser Newsletter ist mein Ventil für die „Lasst euch nicht verarschen”-Artikel. Dieses Jahr habe ich auf beiden Plattformen zusammen 87 Texte geschrieben. Und ich hab den Verdacht, dass es 2023 deutlich über 100 werden.
Wichtig ist mir, dass ich meinen Teil dazu beitragen kann, dass wir weniger verarscht werden und dass diese politische Kultur zumindest ein bisschen besser wird. Und auch, wenn man da gegen ein System anläuft, das seit über 30 Jahren mit extrem viel Geld und Personal daran arbeitet, das alles so bleibt, wie es ist – ich glaube, das ist ein recht ehrenhafter Platz im polit-medialen Komplex.
Noch mehr Lesestoff
💡 Das Gegenteil von Scheindebatte: Es gibt ja ganz viele Themen, über die wir nicht genug reden. Darum haben wir uns in der Materie gedacht, wir widmen denen einen Themenschwerpunkt über die Feiertage.
Armin Hübner schreibt darüber, dass die Staatsschulden wesentlich teurer werden.
Gerald Karner zeigt, was in einer österreichischen Sicherheitsstrategie stehen sollte - wenn wir denn eine hätten.
Stefanie Braunisch gibt einen Überblick über die vielen Baustellen im Gesundheitssystem und weist darauf hin, dass ein Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung eine Lösung für viele unserer Probleme wäre.
Julia Kloess schreibt über ein Instrument, das die Politik dieses Jahr dominiert hat: Die Gießkanne.
Lukas Sustala weist auf ein “window of opportunity” hin: Nach den Landtagswahlen nächstes Jahr könnte sich die Bundesregierung endlich den Reformen widmen, die wir dringend brauchen.
📰 Reinhold Mitterlehner mit einem bekannten Take. Es ist ja eher selten, dass ich ÖVP-Politikern recht gebe - aber in diesem Doppelinterview mit Kern und Mitterlehner übernimmt der frühere Parteichef ziemlich genau meine Analogie zwischen der ÖVP und den Republikanern. In meinem letzten Artikel habe ich ja geschrieben, dass sich beide nicht von ihrer Vergangenheit distanzieren können. Mitterlehner sagt dazu:
Es müsste Selbstreflexion statt versuchtem Aussitzen stattfinden. Es reicht nicht, auf die Gerichte zu warten. Es gibt auch politische und moralische Verantwortung. Kurz gewann Wahlen, das überstrahlt für manche alles. Das kann man mit Donald Trump und den Republikanern vergleichen. Viele verurteilen die Aufwiegelung im Kapitol, können sich aber nicht von Trump lösen. Das gleiche Dilemma hat die ÖVP. Sie löst sich nicht, betraut sogar Kurz-Vertrauten Gerald Fleischmann mit der Kommunikation. Eine fatale Fehlentscheidung. Die ÖVP wird ohne klaren Schnitt jahrelang mit dem Thema Korruption konfrontiert werden.
Recht hat er, der Reinhold Mitterlehner. Hier gibt’s meinen Text zum Nachlesen: