Wenn wir uns auf einen Trend einigen wollen, der die letzten Jahre politisch beherrscht hat, ist es wohl die Polarisierung.
Unter “Polarisierung” verstehe ich die Tendenz, dass Politiker und Parteien unterschiedlicher Ideologien gefühlt immer weniger miteinander können. Mein Begriff bezieht sich damit also auf die Politik, nicht zwangsläufig auf die Bürger. Full Disclosure also: Das ist jetzt eine subjektive Wahrnehmung und nicht unbedingt eine wissenschaftliche Analyse.
Gerade Österreich war nicht immer polarisiert - Rot und Schwarz war zwar selten eine Liebesheirat, aber das Land war lange Zeit zwischen zwei Ideologien, Positionen und Parteien “aufgeteilt”. In einem Modus, in dem Konsens oder Kompromisse möglich sind, kann das auch einigermaßen funktionieren. Aber irgendetwas ist da weggebrochen die vergangenen Jahre.
Heute wäre nur schwer vorstellbar, dass ÖVP und SPÖ wieder koalieren würden. Sebastian Kurz und seine Freunde teilen nicht nur in Chatprotokollen mit, wie groß ihre Abscheu gegen die Sozialdemokraten ist. Diese wiederum sprechen auch regelmäßig in Superlativen darüber, wie furchtbar die (gefühlte ÖVP-Allein-)Regierung sei. Da wäre einiges an Paartherapie nötig, um diese beiden Parteien zu einer Koalition zu bringen, die irgendetwas zusammenbringt.
Gründe für die Polarisierung
Ich glaube, dass im Wesentlichen zwei Gründe für Österreichs polarisierte Politik verantwortlich sind: Die historische Tragödie der letzten rot-schwarzen Regierung und globale Wellen, auf denen wir als kleines Land einfach nur mitschwimmen.
Das Trauma der rot-schwarzen Regierung
Der erste Grund ist, dass die letzte SPÖ-ÖVP-Regierung dem Ansehen der Demokratie nicht geholfen hat. Die Faymann/Spindelegger-Regierung, die schnell zur Faymann/Mitterlehner- und dann zur Kern/Mitterlehner-Regierung wurde, war lange Zeit der Inbegriff des Wortes “Stillstand”. Dass ich mit dieser Wahrnehmung nicht ganz alleine bin, zeigen die Wahlergebnisse dieser Zeit: Die FPÖ war lange auf Platz 1 in den Umfragen, obwohl es mit dem Team Stronach Potenzial für eine zweite Protestpartei gab. Und die Ablehnung des Stillstands brachte auch die NEOS auf Anhieb ins Parlament.
Der Modus dieser Regierungen war hauptsächlich, dass man dem Regierungspartner keinen Triumph gönnen durfte. Darum konnte Faymann auch von Vermögens- und Erbschaftssteuern reden, was er wollte - mit der ÖVP war das nie zu machen. Diese Blockade ging nicht nur in eine Richtung. Aber wenn die Regierung wirklich Gesetze änderte, dann eher das Fremdenrecht oder Überwachungsmaßnahmen. Dabei ließ sie sich auch von der FPÖ treiben, weil deren Umfrageergebnisse schon zu bedrohlich wurden - “Faymann greift durch” war aber trotzdem immer zu weit hergeholt, um irgendwie glaubwürdig zu sein.
Wer kann es SPÖ und ÖVP also verübeln, wenn sie dieses Spiel nicht wiederholen wollen? Sie können sich ganz leicht gegenseitig dafür verantwortlich machen, dass in diesen Jahren nicht viel passiert ist. Für die Sozialdemokraten ist vor allem bitter, dass sie seitdem nicht mehr mitregieren dürfen und das Land kurzzeitig - auf die Inkompetenz der FPÖ ist Verlass - an die Rechten verloren haben. Die Antipathie zu Sebastian Kurz kommt da noch hindernd dazu.
Es ist in, polarisiert zu sein
Der zweite Grund ist ein Trend, den wir global beobachten können und mit dem sich die Politikwissenschaft quasi reflexartig beschäftigt: Der Populismus. In meinem Studium waren Seminararbeiten der meisten Studenten reflexartig “Wie wirkt sich Populismus auf [Thema des Seminars] aus” - wahrscheinlich, weil man in meinem Jahrgang hauptsächlich Politik studieren wollte, um den Aufstieg der FPÖ aufzuhalten. Jedenfalls gibt es dazu massig an Forschung und Publikationen, auch der Journalismus hatte vor allem den rechten Populismus jahrelang als Lieblingsthema. Das hat Gründe.
Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien, Boris Johnson im Vereinigten Königreich. Der Aufstieg rechter Parteien in Italien, Spanien, Griechenland und Dänemark. Rechte Regierungen in den EU-Ländern Polen und Ungarn. Und Marine Le Pen, die Emmanuel Macron im Präsidentschaftsrennen in Frankreich gefährlich wird. Wenn wir uns internationale Nachrichten anschauen, sind wir permanent mit dem Narrativ konfrontiert, dass jetzt die Rechten kommen und mit dem Establishment aufräumen. Und wenn der mächtigste Staat der Welt einen ungeeigneten Außenseiter regieren lässt - was haben wir zu verlieren?
Viele dieser Populisten sind bereits wieder aus dem Amt gejagt worden oder sind dabei, ihren Zenit zu überschreiten. Aber die Logik, die unsere Politik von internationalen Populisten übernommen hat, die bleibt: Der politische Gegner ist der Feind, es darf keine Zugeständnisse geben, und wenn man nicht im Recht ist: Flood the zone with shit.
Wie sehen das die Wähler?
Interessant an der Debatte um die Polarisierung ist, dass der Einfluss auf das Wahlvolk meistens nur angenommen wird. Und da nehme ich mich selbst nicht aus. Aus meiner Sicht ist die Gesellschaft in den letzten Monaten und Jahren stark nach rechts gerückt - aber das könnte nun mal auch daran liegen, dass ich nicht rechts bin. Und selbst wenn man einen Rechtsruck der Meinungen feststellen könnte: Vergangene Forschung zeigt, dass sich die meisten Menschen trotzdem noch in der Mitte einordnen, auch wenn sich an den Rändern etwas bewegen kann. Wir sollten also aufpassen, aus Diskussionen zu unserer eigenen Wahrnehmung eine Art empirischen Trend zu machen.
Trotzdem sind die Meinungen der Wähler nicht unabhängig von dem, was Politiker sagen oder tun. Wenn wir etwas von Menschen hören, die wir als Autorität wahrnehmen - und dazu gehören Politiker nun mal -, glauben wir das eher. Als sich Donald Trump und seine Republikaner negativ über Masken äußerten und innerhalb der republikanischen Partei die Corona-Verharmloser zur dominanten Strömung wurden, gingen ihre Wähler mit: Sie beschweren sich deutlich häufiger über die Maske und tragen sie seltener.
Nach ähnlichen Beispielen muss man auch in Österreich nicht lange suchen. Das erklärt auch die Kampagne der ÖVP gegen die Justiz und Staatsanwälte.
Ein Ende der Polarisierung ist möglich
Das mag jetzt eher eine Nischenmeinung sein, aber: Ich glaube, die meisten Menschen finden Polarisierung nicht unbedingt geil.
Die meisten Menschen wollen Sicherheit, Wohlstand oder die Chance, sich einen zu erarbeiten. Gerade jetzt, nachdem wir ein Jahr lang gefühlt nicht mehr normal leben konnten, brauchen wir eigentlich keine Kindergarten-Politik, die immer nur schreit, dass die anderen angefangen haben. Wir brauchen auch keine Politiker, die sich gegenseitig als Todfeinde sehen und nie miteinander zusammenarbeiten würden. Ich glaube, wir brauchen vernünftige Leute, die sich zusammensetzen und eine Lösung finden.
FPÖ-Wähler wird man mit einer ruhigen, moderaten Linie vermutlich nicht zufriedenstellen. Zumindest nicht in nächster Zeit. Die FPÖ war immer schon radikaler als die anderen und hat damit ihren Platz, aber keine Mehrheit. Ein Großteil der Gesellschaft wäre für konstruktive Lösungen ohne übertrieben emotionale Feindhaltung zu haben - und wenn nur eine Partei Bürgerkriegsrhetorik verwendet, macht sie sich eher selbst zum Affen.
Übrigens: Denkt jetzt bitte nicht, dass ich Rot-Schwarz vermisse. Niemand vermisst Rot-Schwarz. Aber der Gedanke, dass sich Politiker auch ohne zu viel Emotion zusammensetzen können und konstruktiv zusammenarbeiten, der dürfte definitiv noch mehrheitsfähig sein. Durch die vergangenen Jahre mit Brexit, Trump, Ibiza und Anti-Justiz-Rundumschlag der ÖVP haben wir nur vergessen, wie das ausschauen könnte.
Die Zeit ist reif, die Polarisierung ein Stück weit sein zu lassen und wieder einen Schritt auf die anderen zuzugehen. Die Frage ist nur: Wer wird der erste sein, der das versteht? Und welche Partei wird den ersten Schritt machen?