Über Impfgegner und die Gegengesellschaft
Was Menschen zu Impfgegner:innen macht und wie wir damit umgehen sollten
Während die Corona-Fälle steigen und Expert:innen vor den Auswirkungen der Impf-Skepsis im Herbst und Winter warnen, merke ich, dass ich in meinem Umfeld fast keinen Menschen mehr habe, der nicht geimpft ist. Der letzte “Skeptiker” im erweiterten Salzburger Familienkreis hat sich schlussendlich doch angemeldet, weil man sonst nur umständlich nach Italien kommt. So einfach kann die Motivation sein, wenn man sieht, dass wir seit Monaten impfen und niemand stirbt.
Aber eine bleibt noch. Eine Person lässt sich nach wie vor nicht impfen, weil sie noch Kinder bekommen will - und man könne ihr immerhin nicht beweisen, dass man dadurch nicht unfruchtbar werde. Dass niemand dadurch unfruchtbar wird, dass Impfungen das einfach nicht tun und dass sämtliche Wissenschaftler:innen, Mediziner:innen und so gut wie jeder, der irgendwie eine Ahnung davon hat, ganz eindeutig widersprechen, ist nicht wichtig.
Es ist bedrückend, weil man ja niemandem im Familienkreis wünscht, krank zu werden oder gar einen schweren Verlauf zu haben. Gleichzeitig wird das durch die Delta-Variante allerdings immer wahrscheinlicher - mehrere Expert:innen sagen, dass man sich langfristig entweder impfen oder anstecken wird. Die betroffene Person ist jung, es wird schon passen, aber trotzdem wünscht man sich doch, dass man irgendwie darüber reden könnte.
Darum denke ich gerade wieder darüber nach, wieso Menschen Verschwörungstheorien glauben und Wissenschaft ablehnen. Und obwohl ich schon mehrmals über Corona-Leugner und andere Spinner geschrieben habe, fällt mir auf, dass ich noch nie darüber geschrieben habe, was Menschen in deren Arme treibt. Also folgt hier ein Erklärungsversuch.
Ein Überfluss an Information
Das Deprimierende an Impfgegnern ist: Es wäre sehr leicht, keiner zu sein. Durch das Internet ist man nur eine Google-Suche von sämtlichen Studienergebnissen, Fakten und einfachen Erklärungen von Medien entfernt. Die Faktenlage ist eindeutig, sie wurde 100x übersetzt und jeder Mensch mit Zugang zur Öffentlichkeit versucht verzweifelt, seinen Part beizutragen und anderen diese ganz offensichtliche Wahrheit beizubringen: Bitte impf dich, sonst wirst du eventuell krank oder steckst andere an, die nichts dafür können.
Neben diesen offensichtlichen Informationen kursieren aber auch einige andere, die um unsere Aufmerksamkeit konkurrieren:
Medienberichte über “Impf-Nebenwirkungen”, die oft nur über vermutete Zusammenhänge berichten oder Einzelfälle berichten, die es nach jeder Impfung gibt. Die Einordnung folgt nur manchmal - aber die Titel, die man bekanntlich lieber liest als den gesamten Text, machen Angst vor der Impfung.
Desinformation, nicht nur von Verschwörungs-Blogs, sondern auch von anderen Spinnern wie Neonazis, kommt auf allen Kanälen vor und sorgt für riesiges Engagement, wird also umso öfter auf Facebook ausgespielt. Auch in Form von WhatsApp-Kettenbriefen und Telegram-Gruppen werden Falschinformationen privat weitergeleitet - ohne Chance, dass jemand den offensichtlichen Widerspruch direkt drunterschreiben kann.
Parteien, die Corona ganz generell leugnen, geben diesen Inhalten eine vermeintliche Legitimität. Wenn Herbert Kickl sich nicht impfen lässt, dann wird das schon passen - der ist immerhin Politiker und eine Autoritätsperson. Wenn die FPÖ, immerhin bei fast 20 % in den Umfragen, gegen Masken, Abstand, Lockdowns, Impfungen und jede weitere Corona-Maßnahmen ist, wie falsch kann das schon sein? Die Antwort ist: Sehr.
All diese Informationen, die gleichzeitig über alle Kanäle auf reinprasseln, zeichnen ein undeutliches Bild der Gesamtsituation. Ja, es sagen viele, dass ich mich impfen lassen soll - aber viele sagen auch das Gegenteil. Und einer von denen ist sogar Arzt, der kennt sich sicher aus. Das gilt insbesondere für jüngere Menschen, die auf mehreren Kanälen gleichzeitig unterwegs sind und dort ganz unterschiedliche Nachrichten bekommen können. Als Medienjunkie redet man leicht schlecht über Impfgegner:innen, aber ganz ehrlich - wer soll sich noch auskennen?
Kompensierter Kontrollverlust
Dieser Überfluss an Information führt ganz selbstverständlich dazu, dass es zu einem wahrgenommenen Kontrollverlust kommt. Während die Politik uns gefühlt den ganzen Winter eingesperrt hat - oder “einsperren wollte”, wie Leute sagen würden, die sich an keine Maßnahmen gehalten und fleißig gespreadet haben -, hat man als Individuum oft keine Ahnung davon, was jetzt wirklich wahr ist und wer die Quelle ist, der man am meisten trauen soll. Die Folge: Man sucht sich die einfache Wahrheit und die Version der Geschichte, mit der man sich selbst als Sieger:in fühlt.
Das ist übrigens bei Geimpften nicht anders. Auch ich fühle mich besser, weil ich der Wissenschaft vertraue und weiß, dass ich die bessere Entscheidung getroffen habe. Aber genau die gleiche Geschichte erzählen sich Impfgegner:innen: Die hören ihrer Meinung nach auch auf “Expert:innen” - den einen Arzt im Internet, der das angeblich gesagt hat - und denken sich, die anderen sind die Trottel. Und weil Confirmation Bias nun mal so ist, werden diese Leute auch weiterhin daran arbeiten, ihre Sicht mit selektiver Wahrnehmung zu bestätigen.
Böse neue Welt
Das wird aber immer schwerer für Impfgegner:innen. Nachdem es zuerst hieß, der Impfstoff sei gefährlich, zu schnell zugelassen worden und würde sicher zu zahlreichen Nebenwirkungen bis zum Tod führen, stellt sich langsam, aber sicher heraus … dass niemand stirbt. Auf der Intensivstation liegen hauptsächlich Ungeimpfte, die Inzidenz steigt fast nur durch Verweigerer, seltene Impfdurchbrüche enden meist mit einem sehr kurzen und leichten Verlauf.
Darum braucht es neue Geschichten. So wie die jüngste Aussage, dass “alle Geimpften” im September sterben würden. Dass das schon mal keinen Sinn ergibt, weil nicht jeder gleichzeitig geimpft wurde, mal beiseite - das Doomsday-Szenario wird nur verschoben, aber nicht abgesagt. Je länger man bei einer Meinung bleibt, die objektiv falsch ist, desto peinlicher wäre es, doch zuzugeben, dass man falsch liegt. (Dabei ist es völlig okay, seine Meinung zu ändern. Das heißt nur, dass man offen für neue Informationen ist.)
Ich denke also, dass sich noch einige Menschen impfen lassen werden. Wer im November beobachtet, dass sich die Intensivstation wieder füllt, während es den Geimpften besser geht, wird wohl spät aber doch die richtige Entscheidung treffen. Der Rest aber braucht eine noch drastischere Erzählung - die von den Verschwörern, den Echsenmenschen, Bill Gates und der globalen Verchippung. Aus Leuten, die eigentlich nur skeptisch zu einer schnell zugelassenen Impfung waren, werden Leute, die daran glauben müssen, dass die Politik böse und die Welt schlecht ist - andernfalls hätten sie unrecht. Und das gilt es um jeden Preis zu vermeiden.
Die Gegengesellschaft der Schwurbler
Für uns heißt das vor allem, dass Impfgegner:innen ein dauerhaftes Problem sein werden. Ein großer Teil der Menschen lehnt nicht nur die Fakten ab, sondern weigert sich auch, jemals zuzugeben, dass man falsch lag. Die Rechtfertigungen dafür werden durch die Wirklichkeit immer absurder, immer brutaler - und ein Teil der Gesellschaft wird sich dadurch enorm radikalisieren.
Darum ist es auch so schlimm, dass diese Menschen Bestätigung von denen bekommen, die es besser wissen müssten - Politiker:innen, die im Parlament über die Corona-Politik entscheiden und informiert sein sollten. Dass Herbert Kickl die Ablehnung jeglicher Pandemie-Maßnahmen rhetorisch geschickt als “normal” definiert, weil es vor der Pandemie ja auch normal war, bietet den Corona-Leugnern eine gemütliche Rechtfertigung, bei ihrer extremen Meinung zu bleiben. Obwohl die feststellbare Realität eine andere Sprache spricht, wiederholen sie im Loop: Die Impfung ist gefährlich, Masken braucht es nicht, Lockdowns darf es nicht geben.
Dass sich die verantwortungslose Propaganda der FPÖ auch in echter Impf-Ablehnung zeigt, beweisen Daten des Austrian Corona Panel Projects, das über den gesamten Verlauf der Pandemie immer wieder Daten erhebt und Licht ins Dunkel der österreichischen Corona-Pandemie bringt.
Meine Angst ist, dass sich da dauerhaft eine Parallelgesellschaft, eine Gegenöffentlichkeit aufbaut. Wer in der Corona-Pandemie zu glauben lernt, dass es eine Verschwörung gibt, dass vertuscht wird und dass die Eliten sich gegen das Volk verschworen haben, wird das auch bei der nächsten Gelegenheit glauben. Impfgegner zu sein wird dann zur Einstiegsdroge für Klimawandelleugnung und andere Meinungen, die wir uns als Gesellschaft - sorry - einfach auf Dauer nicht leisten können. Wir haben echte Krisen zu besiegen, und jeder Fünfte stellt sich quer und ist lieber ein Teil der Krise. Die FPÖ und Konsorten arbeiten daran, dass das ein Dauerzustand wird, der uns über Jahrzehnte und über viele Krisen begleiten könnte.
Soweit das Problem. Was ist die Lösung?
Wir müssen uns darauf einstellen, dass die Freiwilligenwelle im Herbst und Winter brutal wird. So gut wie jeder, der nicht geimpft ist, wird sich wohl mit Corona anstecken - und wir können nur hoffen, was die Zahl der Toten angeht.
Wir müssen Politiker:innen wie Herbert Kickl, die seit Monaten im wahrsten Sinne des Wortes tödliche Propaganda betreiben, bei jeder Gelegenheit zeigen, dass ihr Verhalten falsch ist. Diese Partei ist nicht nur unwählbar, man sollte das auch bewusst im Freundes-, Familien- und Bekanntenkreis ansprechen und bei jeder Gelegenheit erwähnen, dass wir dieses Verhalten einfach nicht dulden.
Wir müssen daran arbeiten, möglichst viele Menschen noch zur Impfung zu überreden. Und dabei sollten wir sie bestärken, dass es nicht peinlich ist, bis jetzt falsch gelegen zu sein. Im Gegenteil: Es braucht viel Mut und Intelligenz, um eine starke Meinung zu ändern.
Mir ist vor allem der letzte Punkt wichtig. Denn wir alle kennen wohl Menschen, die noch nicht geimpft sind und damit schon bald erkranken könnten - und zwar komplett vermeidbar. Es ist noch nicht zu spät, mit diesen Leuten zu reden und ihnen zu sagen, dass wir uns ehrlich Sorgen machen. Das habe ich auch dadurch gelernt, dass ich beim letzten Gespräch zur Impfung mit der besagten Person eher herablassend war. Und damit habe ich wohl die Chance verspielt, sie von der Impfung zu überzeugen.
Es ist noch nicht zu spät, die Freiwilligenwelle zu verhindern. Machen wir das beste draus und schauen respektvoll, aber bestimmt, dass wir noch genug Menschen überzeugen können, das Richtige zu tun.
Euer Vollimmunisierter