Warum die Grünen nicht die Regierung sprengen sollten
Und: Wer hätte etwas davon, wenn neu gewählt würde?
Eine Konstante im Leben eines jeden Österreichers ist die ständig laufende Neuwahl-Debatte. Zumindest, wenn man nach 2000 politisiert wurde. Kaum war die Faymann-Spindelegger-Regierung 2013 angelobt, gab es ein Budgetloch und wir redeten vier Jahre lang darüber, ob man das Experiment Rot-Schwarz nicht endlich beenden sollte. Bis es 2017, als die Regierung endlich langsam in eine Art Arbeitsmodus kommen konnte, endlich passierte.
Ich habe schon an anderer Stelle über Neuwahlen geschrieben. Und warum ich nicht glaube, dass wir dieses Jahr wählen werden. In Kurzform ist mein Argument, dass niemand davon profitieren würde: Die SPÖ scheint noch immer nicht kampagnenfähig zu sein, sowohl sie und die NEOS haben kaum echte Machtoptionen, die Grünen werden für ihre bisherige Regierungsarbeit eher abgestraft und auch die ÖVP scheint aktuell nicht gerade dazuzugewinnen. Für mich ist also das größte Fragezeichen, wer die Neuwahl provozieren sollte.
Die Antwort lautet immer offensichtlicher: Die Grünen. Die haben am 13. Juni ihren Bundeskongress, wo theoretisch ernsthaft ein Ende der Koalition durchgehen könnte.
Die Frage ist, wie realistisch das ist. In anderen Parteien, die Macht schon ein bisschen länger gewohnt sind und sich schon einmal in Koalitionen durchsetzen konnten, wäre ein Koalitionsende am Parteitag meist undenkbar. Dort nerven maximal die Jugendorganisationen - bei der ÖVP nicht einmal das -, aber die meisten sehen doch ein, dass eine Regierungsbeteiligung viel wert ist. Ob das bei den Grünen wohl genau so ist?
Geben sich die Grünen gerade selbst auf?
Für viele grüne Parteimitglieder dürfte die bisherige Regierungsarbeit der Grünen enttäuschend sein. Von den großen inhaltlichen Schwerpunkten der Partei ist nur der Umweltschutz übrig geblieben. Das Image der “sauberen Politik” werden sie wohl nicht mehr glaubwürdig vermitteln können, nachdem sie sich gegen eine Verlängerung des U-Ausschusses stellt - einem Ausschuss übrigens, in dem Werner Kogler als Oppositionspolitiker erst richtig aufgeblüht wäre. Und das mit der “Menschenrechtspartei” ist nach völlig unverständlichen Abschiebungen von integrierten Schülerinnen auch von gestern. Nicht ganz umsonst werfen andere progressive Politiker den Grünen vor, ihre Werte aufgegeben zu haben.
Ich teile viele Kritikpunkte an den Grünen. Auch ich hätte mir gewünscht, dass diese Koalition weniger nach einer ÖVP-Alleinregierung aussieht und dass sich auch ab und zu progressive Politik durchsetzen kann. Aber den Grünen fehlt es an Erfahrung und Struktur, um mit einer Partei zu konkurrieren, die seit 34 Jahren im Bund regiert und in jedem Bundesland und jeder Gemeinde vertreten ist.
Trotzdem gibt es auch zwei Gründe, die gerade sehr stark für die Grünen in der Regierung sprechen:
Eine Pandemie mit den Grünen ist besser als eine Pandemie mit der FPÖ. Ich kann nicht oft genug betonen, wie viele Leben die Ibiza-Aufdecker durch das Video gerettet haben. Mit den Corona-Leugnern und -Verharmlosern Strache und Kickl in der Bundesregierung haben wir weit mehr Tote als unter einem Gesundheitsminister Anschober. Die zuständige Ministerin hieße Beate Hartinger-Klein. “Die FPÖ verhindern” mag nicht das beste Argument sein - aber in der Corona-Pandemie bin ich verdammt froh, dass die esoterisch angehauchte Truppe rund um Strache weit entfernt von der Macht ist.
Gewessler arbeitet. Ein neues Abfallwirtschaftsgesetz ist fertig, das 1-2-3-Ticket scheint zumindest (pun intended) auf Schiene zu sein. Dazu gibt es zahlreiche Förderungen, z. B. für thermische Sanierungen, grünen Wasserstoff oder Rad-Infrastruktur. Und öffentliche Unternehmen wie ASFINAG oder ÖBB stellen auf emissionsfreie Dienstwägen um. Mit vielen kleinen Maßnahmen verändert Leonore Gewessler das Land in eine klimafreundliche Richtung.
Dazu kommt ein wahlstrategisches Dilemma, an dem nicht nur die Grünen zu scheitern drohen: In Österreich werden Parteien oft für das abgewählt, was vom Koalitionspartner kommt. In den Koalitionen mit der SPÖ und FPÖ wurde auch hauptsächlich ÖVP-Politik betrieben - der gemeinsame Nenner wurde aber nie ausgetauscht. Wer sich mehr grüne Politik wünscht, aber von türkiser Politik enttäuscht ist, muss die Grünen stärken. Aber das scheint ihr Publikum noch nicht ganz verstanden zu haben.
Warum sich die Neuwahl erübrigt
Am wichtigsten ist mir aber die Frage nach den Machtoptionen. Und da gibt es momentan keine bessere Alternative. Trotz Postenschacher, Verfassungsbruch und sinkender Umfragewerte ist die ÖVP nach wie vor mit Abstand die stärkste Partei. Und auch, wenn dieses “Sie wollen das Wahlergebnis mit Anzeigen verhindern” ein durchschaubarer Spin der Volkspartei ist - dass sie aktuell immer noch jede Wahl gewinnen würden, ist einfach ein Fakt.
Sogar, wenn wir großzügig annehmen, dass Sebastian Kurz bei einer hypothetischen Neuwahl noch weiter verliert und die Oppositionsparteien - warum auch immer - dazugewinnen: Man kommt nicht leicht auf eine Regierungsmehrheit ohne ihn. Bei der letzten Wahl war die ÖVP stärker als SPÖ und FPÖ zusammen. Und eine Minderheitsregierung mit drei progressiven Parteien, die von der FPÖ gestützt wird? Das ist ein Satz mit drei zu großen Wenns, um auch nur ansatzweise realistisch zu sein. (Was den Chef der SPÖ Niederösterreich nicht davon abhält, öffentlich darüber nachzudenken. Profis einfach, Profis.)
Am Ende blieben also nicht viele Optionen für die Koalitionsbildung:
Gegen Türkis-Rot spricht, dass sich die beiden Parteien nach wie vor gegenseitig hassen. Die SPÖ-ÖVP-Regierungen unter Faymann und Kern haben unter anderem deswegen nichts weitergebracht, weil sie von einem Politikertyp dominiert werden, der dem jeweils anderen nichts gönnt. Dieser Stillstand mag besser gewesen sein als das Gegenangebot mit Strache - aber er ist sicher nichts, wonach sich Österreich sehnt.
Gegen Türkis-Blau spricht, dass diese Regierung - wie übrigens jede ÖVP-FPÖ-Regierung - nach wie vor die Justiz beschäftigt. Außerdem dürfte die Erde zwischen Sebastian Kurz und Herbert Kickl verbrannt sein. Die Freiheitlichen können keine Koalition ohne ihren “besten Innenminister aller Zeiten” eingehen, den der Kanzler aber um jeden Preis aus der Regierung haben wollte. Mit ähnlichen Argumenten übrigens, die heute Kickl gegen Kurz verwendet: Wenn es aktive Ermittlungen im eigenen Einflussbereich gibt, könne man nicht in der Regierung bleiben.
Gegen Türkis-Pink spricht - ihr erkennt das Muster -, dass sich die Parteien gegenseitig hassen. Was durch türkise Chatprotokolle mit “Ich hasse die NEOS” relativ offen belegt ist, dürfte auch umgekehrt zutreffen: Beate Meinl-Reisinger merkt man an, mit welcher Abscheu sie über den Postenschacher der Regierung spricht, und Helmut Brandstätter sieht Sebastian Kurz als eine Art Nemesis, weil er mutmaßlich in den KURIER hineinregieren wollte. Eine konstruktive Zusammenarbeit wäre mit dem aktuellen Personal beider Parteien recht schwierig.
Bleibt Türkis-Grün. Wobei da wiederum dagegenspricht, dass sie nach einer Neuwahl wieder zusammen regieren könnten, die sie selbst vom Zaun gebrochen haben. Wenn die Grünen Sebastian Kurz sagen, dass es reicht, hat er drei Koalitionen mit drei Parteien in kürzester Zeit wieder verloren. Dann wird es sogar für die ÖVP schwer - aber an ihr führt in der aktuellen Konstellation einfach kein Weg vorbei.
Natürlich wäre es ein lustiger Troll-Move, Sebastian Kurz schon wieder eine Regierung zu nehmen und dann ein drittes Mal zu zeigen, dass es einfach schwierig ist, mit (oder gegen) die ÖVP zu regieren. Aber was hätten die Grünen davon, außer weg von der Macht zu sein und vermutlich Wählerstimmen zu verlieren? Solange es kein 1-2-3-Ticket gibt, können sie sich noch nicht mal auf genügend Umweltschutz-Politik ausreden, um am hypothetischen Wahltag gleich gut dazustehen wie vorher. Es mag zwar idealistisch und mutig wirken - aber ein Auflösen der Regierung vonseiten der Grünen wäre einfach nur dumm.
Smarter als Neuwahlen
Wenn die Grünen smart sein wollen, machen sie es anders. Wie jeder weiß, gelten in Österreich sowohl Klubzwang als auch Koalitionsräson. Das heißt, wenn eine Partei mit der anderen nicht mitstimmt, kommt das de facto einem Koalitionsbruch gleich. Die Grünen sollten koalitionsintern - hinter verschlossenen Türen, wohlgemerkt - den Hebel ansetzen und umso mehr in ihren eigenen Themen rausholen, um im Gegenzug bei ÖVP-Skandalen einfach still zu sein.
Sebastian Kurz kann es nicht gebrauchen, wenn der eigene Koalitionspartner jetzt immer wieder verhaltensauffällig wird und mit der Opposition gemeinsam Postenschacher kritisiert. Also ist Kogler leise, sofern er etwas davon hat. Wenn es dann zu einem Konflikt kommt, bei dem die Grünen die Mehrheit der Bevölkerung auf ihrer Seite wissen - sagen wir mal, Abschiebungen von gut integrierten Kindern -, haben sie einen Hebel, um auch etwas zu gewinnen.
Meine Vermutung ist, dass die Grünen auch exakt daran schon arbeiten. Anders ist nicht zu erklären, dass Politik-Typen wie Sigi Maurer so lange so freundlich bleiben, obwohl es auch ihnen den Magen umdreht, wenn sie die türkisen Chatprotokolle lesen. Vielleicht bin ich zu naiv - aber da muss es einen Plan dahinter geben.
In dieser innenpolitischen Konstellation gibt es aktuell nur zwei Variablen:
Wie geht die Oberösterreich-Wahl aus?
Wird Sebastian Kurz verurteilt?
Wenn die Oberösterreich-Wahl für die ÖVP gut ausgeht und sich der Bundestrend nicht auf das Bundesland übertragen lässt, wittert die Volkspartei eventuell Potenzial für einen “Alle gegen Kurz”-Wahlkampf. Die Opposition wird ihm diesen Wunsch gerne erfüllen. Wenn aber der Kanzler nicht nur angeklagt, sondern auch verurteilt wird, könnte es trotz aller Kalkulation auch für die Grünen zu eng werden - mit “sauberer Politik” antreten und dann einen verurteilten Bundeskanzler im Amt halten, das wird sich nur schwer ausgehen.
Das sind aber Entwicklungen, die es abzuwarten gilt. Über den Sommer vergeht erwartungsgemäß auch viel an der Neuwahl-Spekulation, die sich meist im Mai aufbaut. Und wenn da nicht noch eine Bombe kommt, sieht es so aus, als würde die Serie an Rücktritten in diesem Monat - und damit auch die an September-Neuwahlen - nach einer langen Zeit enden.
Zusammengefasst: Ich glaube nicht, dass irgendjemand Interesse an Neuwahlen hat. Aber das kann sich ändern.
Schönes Wochenende