Ich habe es schon öfter gesagt, aber: 2020 ist das erste Jahr, in dem Menschen so dumm sein können, dass andere daran sterben müssen. Heute geht‘s um dieselbe Aussage mit einer anderen Richtung: Könnte das auch etwas Positives sein?
Da man in diesem Katastrophenjahr ja jeden Silberstreif suchen muss, muss man wohl auch damit irgendwie umgehen lernen. Es ist natürlich nicht positiv, dass Corona-Leugner gerade aktiv zum Tod anderer Menschen beitragen - aber aus dieser Zeit könnten wir die ein oder andere wertvolle Lektion lernen, um die gleichen Fehler nicht mehr zu machen.
Hier ein paar Learnings, die ich gerne für die Zukunft mitnehmen würde.
#1: Meinungen sind nicht immer wertvoll
Das ist nochmal der No-Brainer aus der ersten Zeile. Es hat sich die letzten Jahre schon angekündigt und als jemand, der in Österreich aufwächst, wo die FPÖ seit 2010 die Kommentarspalten mit Hate Speech flutet, muss man es nicht lange erklären: Es gibt ein falsches Verständnis von Meinungsfreiheit, das für viele Probleme der letzten Jahre verantwortlich ist.
Dieses Verständnis hat dazu geführt, dass sich Leute, die wir früher zurecht für ihre rechtsradikalen Meinungen ausgegrenzt hätten, sich nun wieder trauen, ihre Hassbotschaften auf Facebook öffentlich rauszuballern - weil Meinungsfreiheit. Es sorgt dafür, dass Menschen sich seit Februar systematisch gegen Experten, Mediziner, Politiker, Journalisten und jede andere Person, die es besser weiß, wehren können und eine Pattsituation sehen, weil „man wird ja wohl noch seine Meinung sagen dürfen“. Und die im kleinsten Widerspruch zu den wahnsinnigen Narrativen in ihren Köpfen eine totalitäre Tendenz sehen. Sie wollen zwar Menschen aufgrund ihrer Herkunft und Hautfarbe ausgrenzen, aber wenn man „Lieber nicht“ sagt ist das literally Hitler. Auf diesem intellektuellen Niveau bewegen sich diese Meinungen.
Ein Learning aus diesem Jahr sollte sein, dass es eben nicht so ist. Donald Trump und seine Anhänger haben die Meinung, dass die Wahl anders ausgegangen ist, als sie ist. Trotzdem scheint es noch immer möglich zu sein, nicht einfach das Wahlergebnis zu ändern, weil Konservative traurig sind. Das haben in diesem Election Cycle auch die großen Social-Media-Konzerne verstanden, die diese Lügen - und eben nicht „Meinungen“ - nicht mehr unkommentiert stehen lassen, sondern mit Warnhinweisen verstehen, ihre Reichweite einschränken oder sie löschen.
Gutes Learning für die Zukunft: Am Marktplatz der Ideen ist nicht jeder gleich gut aufgestellt, und darum muss man auch nicht jeden Troll ernst nehmen.
#2: Das Establishment muss nicht schlecht sein
Gleiche Debatte, anderer Punkt. In den meisten weltanschaulichen Fragen dominierte in den letzten Jahren die Erzählung des „Establishments“, das für all unsere Probleme verantwortlich sei. Donald Trump wurde auf diese Weise Präsident, der Brexit war ein Zeichen gegen die „Eurokraten“. Boris Johnson, Jair Bolsonaro und rechtsextreme Parteien in ganz Europa profitieren davon, dass eine große Masse an desinteressierten (oder, wertfreier gesagt: ent-politisierten) Menschen wittert, dass es Probleme gibt, und einfach gerne mal das Personal austauschen würde um zu sehen, was passiert.
Und jetzt sehen sie, was passiert. Staaten, die Populisten zum Präsidenten gewählt haben, managen die Corona-Krise zum Teil deutlich schlechter als Staaten mit einem „Establishment“. Das Vereinigte Königreich und die USA hätten die Infrastruktur, um so eine Pandemie zu überstehen - aber das wird schwierig, wenn das politische Projekt der letzten Jahre war, alle zu kritisieren, die sich mit Themen beschäftigen. Wenn man dann noch monatelang diskutieren muss, ob Masken wirken oder nicht - die Demokraten und die Realität sagen ja, die Republikaner sagen aus parteitaktischen Gründen nein - hat man eben 250.000 Tote zu verzeichnen, von denen sehr, sehr viele vermeidbar gewesen wären. (Was sagt es über Österreich aus, dass wir uns in der zweiten Welle auch im Bereich der Populisten-Regierungen bewegen?)
Wer gut durch die Pandemie kommt? Deutschland zum Beispiel. Weil es Angela Merkel, einer Naturwissenschaftlerin, eben nicht um politisches Kleingeld geht, sondern um seriöse Politik. Establishment pur! Oder die Skandinaven, mit der Ausnahme von Schweden, das die Kontrollgruppe spielen wollte. Vorsichtig und evidenzbasiert. Und sogar Emmanuel Macron, der für viele der Inbegriff des Establishments, des Neoliberalismus oder sonstiger „die da oben böse“-Weltbilder ist, hat zwar einige Fehler gemacht, aber zumindest diesen zweiten Lockdown wirklich effektiv hinbekommen. Während sie in den USA immer noch darüber reden, ob man an Masken „glauben“ sollte.
2020 ist eine menschliche Tragödie. Aber im Nachhinein, wenn wir diesen emotionalen Schaden überwunden haben, wird es auch eine interessante Case Study sein. Dafür, dass man sich Anti-Establishment-Populisten in einer Krise nicht leisten kann. Wir sollten sie eher als ein Feelgood-Projekt sehen für Zeiten, in denen wir zu wenig echte Probleme haben.
#3: Eliten sind gut für uns
Was ist der Unterschied zwischen Establishment und Elite? Das Establishment ist meistens ein politischer Begriff und meint „die, die (schon lange) an der Macht sind“. In Österreich wäre das die ÖVP, obwohl die gleichzeitig unter den Begriff „Populisten“ fallen kann und damit eine Art Sonderfall darstellt. In Deutschland wäre das auf jeden Fall die CDU/CSU. Oft sind damit auch Medien gemeint, die eine gewisse Macht haben, wenn es um die Weltanschauung der Massen und die öffentliche Meinung geht.
Aber wer damit nicht gemeint ist: Experten.
Wenn uns dieses Jahr irgendetwas lehren sollte, dann, dass wir Experten trauen können.
Wer von Anfang an auf die Experten gehört und Testen und Contact-Tracing aufgebaut hat, steht international am besten da. Taiwan lebt gerade ein Leben ohne das Coronavirus. Und das ist nicht nur, weil es eine Insel ist: Auch Vietnam hat diese Anleitung schon im Frühjahr umgesetzt und die Krise gut gemeistert.
Masken wirken. Es ist eindeutig belegt und es lässt sich anhand von Vergleichen beweisen. Wo mehr Masken getragen werden, gibt es weniger Fälle und Krankenhaus-Besuche durch Corona. Wo diskutiert wird, läuft es schlechter, als es laufen müsste. Das liegt nicht nur daran, ob man Experten glaubt, sondern auch daran, wie gut die Gesetzgebung dazu ist - aber das Masken-Thema zeigt eine eindeutige Korrelation zwischen „Eliten folgen“ und „Tote vermeiden“.
Auch in Österreich können wir beobachten, dass es gut läuft, wenn wir Experten folgen. Im Frühjahr war das noch recht einfach: „Ein Lockdown, damit die Intensivmedizin nicht an ihr Limit kommt“. Das hat jeder verstanden, und daher ist es auch so passiert. Aber als im Sommer dann damit begonnen wurde, Kommunikation vor Menschenleben zu stellen, und als die Experten-Tipps komplexer wurden, stiegen auch die Zahlen - exponentiell, für eine zu lange Zeit. Jetzt erleben wir die Konsequenz daraus.
Für die „Meinungsfreiheit, alle Ansichten gleich gut“-Fraktion mag das überraschend sein, aber: Es gibt Menschen, die etwas besser wissen als man selbst. Und wenn man auf sie hört, passieren gute Dinge. Das mag mittlerweile kulturell verpönt sein - aber es ist wichtig, dass wir uns daran erinnern und uns wieder ins Bewusstsein führen, dass wir nicht alle Experten sind, nur weil uns der Cousin eines Schwippschwagers ein Bild von WhatsApp weitergeleitet hat von einem Freund eines Freundes, der einen aus dem Gesundheitssystem kennt.
Fazit
Wenn wir irgendwann auf das Jahr 2020 zurückblicken, wird es hoffentlich eine Art Turning Point für vieles, was uns in den letzten Jahren Probleme gemacht hat. Es sollte uns eindrucksvoll demonstrieren, dass nicht jede Meinung gleich viel Wert ist, dass Populisten in Krisenzeiten schlechter abschneiden und dass es wichtig ist, auf Experten zu hören.
Das Traurige ist, dass das alles Erkenntnisse sind, die schon vor diesem Jahr logisch waren. Aber wir haben uns in westlichen Gesellschaften einfach immer mehr von Werten verabschiedet, die sich historisch als sinnvoll erwiesen haben. Auf Menschen zu hören, die etwas besser wissen als man selbst - und auch einzusehen, dass man nicht alles am besten weiß - sollte ein Wert an sich sein, eine demokratische Selbstverständlichkeit. Das heißt nicht, dass man keine Kritik üben soll - das heißt einfach, dass man das Hirn einschalten soll, bevor man spricht.
Eine optimistische Zukunftsvision wäre, dass wir in den nächsten Jahren zurückschauen und daraus lernen können. Als Amerikaner muss man sich fragen, warum die USA es als so entwickelte Nation so schlecht dastehen - und warum sich das nach dem Wechsel im Weißen Haus vermutlich ändern wird. Und was das angeht, haben wir unseren eigenen Trump. Darüber zu reflektieren, könnte uns als Gesellschaft wieder etwas näher an demokratische Ideale bringen, die unser Leben insgesamt besser machen.
Hoffen wir, dass wir es schaffen.
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