Heute starten wir in das letzte Wochenende des zweiten “harten Lockdowns”. Grund zur Freude, oder? Am Montag sperrt das Land wieder auf, wir können wieder Leute sehen, auch wenn es weiterhin Maßnahmen gibt, und das Virus ist besiegt. Zumindest theoretisch: Am Donnerstag wurden 3.969 neue Corona-Fälle gemeldet. In der vierten Woche des Lockdowns.
Nur zur Einordnung, in welcher Situation wir uns befinden: Am schlimmsten Tag der ersten Welle im März und April gab es 31 Tote an einem Tag. Dieser Wert war der niedrigste des gesamten Novembers - am 1.11. Seitdem sterben mehr Menschen, oft über 100 am Tag. In überfüllten Intensivstationen, die im Frühjahr noch eine Erzählung aus Italien und Spanien waren, und die es bei uns ja nie geben konnte.
Klingt nicht so, als hätte die Politik das im Griff, oder? Richtig - hat sie nicht. Aber zwischendurch: Falls ihr den Überblick verloren habt, empfehle ich die täglichen Updates der wahrscheinlich besten Social-Media-Teams des Landes: ZEIT IM BILD und STANDARD.
Jedenfalls wird gelockert, obwohl 100 Leute am Tag sterben und wir immer noch über 3.000 Ansteckungen pro Tag haben. Ich kann mich noch an den September erinnern, als Israel - ein Land mit vergleichbarer Einwohnerzahl - solche Zahlen hatte und in den Lockdown ging. Damals wirkten 3.000 zurecht absurd hoch. Heute kümmert es uns nicht mehr.
Kurz ist und bleibt ein One-Trick-Pony
Am deutlichsten wird der Kontrollverlust aber, wenn man sich auf die Politiker konzentriert, die ihn verursacht haben. Und auf den Chef-Kommunikator der Regierung, Sebastian Kurz himself. Kurz war am Mittwoch zu Gast im ZIB2-Studio und musste sich zurecht kritische Fragen anhören darüber, was er den ganzen Tag über gesagt hatte.
Armin Wolf konfrontierte Kurz damit, dass seine Erklärung für die hohen Zahlen nicht haltbar sei. Der Bundeskanzler hatte am gleichen Tag bei der Präsentation der Lockerungsmaßnahmen behauptet, dass die zweite Welle vor allem auf “Rückkehrer aus ihren Heimatländern” zurückzuführen sei - also auf Ausländer. Wie immer. Wolf konfrontierte ihn mit den Fakten, dass Österreich kurzzeitig die höchste Sterberate weltweit hatte und dass die Zahlen der Länder, vor denen wir uns angeblich schützen müssten, teilweise viel besser sind als unsere eigenen.
Aber was konnte man da als Antwort schon erwarten? Die üblichen Formulierungen. “Ich wollt ihre Frage gerade beantworten. Sie haben Recht, die zweite Welle ist eine große Herausforderung. Und ich wurde auch viel kritisiert.” Bla Bla Bla.
Nach diesem Interview dachte ich mir: So muss es für Amerikaner sein, die Trump nicht mehr zuhören. Der US-Präsident verbringt jeden Tag damit, absurde Verschwörungstheorien aufzustellen um die Demokratie zu Fall zu bringen - und die Mehrheit der US-Bürger hört nicht mehr zu. Er kann eben nur das eine Spiel. Deep State! Verschwörung! Fake News! Ich hab alles richtig gemacht, alle anderen sind Schuld! Look at me!
Diesen Plattenspieler sind die Amerikaner nach vier Jahren mittlerweile gewohnt. Unser Kanzler ist drei Jahre im Amt, und ich glaube wir gewöhnen uns auch langsam daran. Mir ist in dem Moment gedämmert, was so ermüdend an dieser Regierung ist, der ich eigentlich am Anfang recht offen gegenübergestanden bin: Sebastian Kurz kann eben auch nur das eine Spiel. Ausländer. Wien. Böse Kritiker. Niemals verlieren, alle anderen sind Schuld. Look at me.
Blame Game als oberste Priorität
Und das wäre alles nicht so schlimm, wäre Kurz einfach nur ein Narzisst, der von Experten umgeben ist, die das alles für ihn managen. Aber auch die anderen kommen mir planlos vor. Viele Regierungsmitglieder hören sich in Interviews an wie vorprogrammierte Sprachnachrichten, die unabhängig von den Fragen ihre Phrasen aus der Kurz-Maschinerie abspielen. Und die, die es nicht sind, sind meist die Grünen, die es zwar gut meinen und oft nett klingen, aber im Endeffekt die grausige Politik mittragen, die sie eigentlich bekämpfen wollten. Zum Beispiel, wenn man nicht nur in österreichischer Manier im Klubzwang alles abnickt, sondern nicht mal mehr mit dem politischen Mitbewerb redet:
Und das Allerschlimmste daran ist für mich: Ich glaube wirklich, dass es Sebastian Kurz immer noch nur um die Kommunikation geht. Über die gesamte Pandemie war es seine Top-Priorität, für keine Probleme verantwortlich gemacht zu werden. Ein halbwegs vollständiger Auszug wäre ein eigenes Buch, aber ein paar Beispiele erlaube ich mir.
Als Kurz im Kleinwalsertal seine Jesus-Show abgezogen und in der Menge gebadet hat, waren andere Schuld: Die Bürger halten keinen Abstand, nach den Bildern hat eh alles gepasst, ich hab’s ihnen eh gesagt. Das war in etwa zur gleichen Zeit, als von “Lebensrettern und Lebensgefährdern” die Rede war.
Als im Sommer die Corona-Zahlen niedrig waren und man sich als Kanzler auf die absehbare zweite Welle vorbereiten sollte, waren Kurz und seine ÖVP mit dem Wien-Wahlkampf beschäftigt. Die anlasslose “Wien macht alles falsch”-Pressekonferenz wird mir Jahre in Erinnerung bleiben.
Als die Zahlen im Herbst wieder stark angestiegen sind, war Kurz nicht viel in den Medien zu sehen. Aber wenn, dann sprach er vom “Licht am Ende des Tunnels”. Zu Infektionszahlen und Toten auf den Intensivstationen sollte man bitte den Gesundheitsminister fragen.
Als die Lockdown-Verordnung wieder vorhersehbar an die Medien geleakt wurde, während rot regierte Bundesländer raten mussten, und sich Menschen noch schnell für die Rabattaktionen angestellt haben, war auch nicht Sebastian Kurz Schuld. Sollen die Leute halt nicht Schuhe kaufen gehen, wenn sie gerade billig sind und bald einen Monat eingesperrt werden und das aus den Medien erfahren.
Und im ZIB2-Interview spricht er dann über internationale Sterbezahlen und sagt, dass wir bei den Todeszahlen “in der besseren Hälfte” sind, auf Platz 11, und Deutschland sei immerhin Platz 8. “Vor uns” liegen einige Staaten, aber das sind eh nur Inseln. Kein Wimpernzucken, als Armin Wolf die Frage nach den Todeszahlen stellt, nur das übliche “Ich wollt’s gerade beantworten”, weil er davor wieder über die ach so unfaire Kritik gesprochen hat. Dass es einem Bundeskanzler einer Republik bei 100 Toten am Tag immer noch um Umfragewerte und Image geht, ist wirklich schwer auszuhalten.
Es gibt keinen Grund mehr, zuzuhören
Meine Hoffnung ist, dass diese Woche zum ersten Mal massentauglich kommuniziert wurde, wie Sebastian Kurz wirklich tickt. Mehr als 3.000 Neuinfektionen und 100 Tote am Tag, Probleme bei den Massentests, volle Intensivstationen - und der Kanzler redet darüber, wie hart zu Unrecht dafür kritisiert wird, wie dieses Land durch die Pandemie geführt wird.
Und es ist auch völlig unsinnig, diese Statements noch anzuschauen. Sie sind immer gleich. Sie haben sich seit 2017 nur um die Phrasensammlung “internationaler Vergleich” erweitert. Da ist nichts da. Keine Vision, kein Plan, nicht mal ehrliches Interesse. Und wirklich schlimm ist es, wenn man Interviews mit dem Kanzler genauso gut als Selbstgespräch im Kopf nachstellen kann, weil sie so vorhersehbar sind:
Ich wollt Ihre Frage gerade beantworten. Ja, es ist richtig, irgendwas ist eine große Herausforderung. Und Sie haben vollkommen Recht, dass das schwierig ist. Aber wir stehen im internationalen Vergleich auf Rang Nummer X, vor Ländern wie Y. Da müssen Sie den Gesundheitsminister fragen. Die werden ihre Probleme sicher lösen.
Fakt ist, wir sind gut durch die erste Welle gekommen. Balkan. Migranten. Rückkehrer aus der Heimat im Sommer. Grenzen. Rot geführte Bundesländer. Wien. Der Koalitionspartner. Der Gesundheitsminister. Einige Leute, die alles schlecht reden wollen. Dafür werde ich so viel kritisiert. Ein Satz noch.
(…)
Ich wollt Ihre Frage gerade beantworten.
Darum geht’s auch mir als Polit-Junkie mittlerweile ähnlich wie den Amerikanern: Ich habe aufgehört, zuzuhören. Es ist zwar der Kanzler und es sollte an sich Substanz haben und wichtig sein, wenn er spricht - aber diesen Gedanken müssen wir wohl leider aufgeben. Uns auf unsere eigenen Problem konzentrieren, wenn sie sonst keinen interessieren. Und das ist eine Entwicklung, die Sebastian Kurz schon bald auf den Kopf fallen könnte.