Projekt Eigenverantwortung ist gescheitert
Solidarität ist out, die Intensivstationen sind voll
Wisst ihr noch, als ich einen Text über den Lockdown geschrieben habe, als er Anfang November gekommen ist? Well, gestern wurde wieder einer ausgerufen. Die zwei Wochen zwischen der eigentlichen Verkündung und der gestrigen Ausweitung des “harten Lockdowns” waren einige verschwendete Tage, in denen man nicht rausgehen durfte - außer, man will.
Es war eine absurde Situation, dass mich Freunde darauf hingewiesen haben, dass am Samstag “der Lockdown kommt”. Wir waren bereits im Lockdown. Aber weil wir Österreicher eben sind, wie wir sind, haben wir trotzdem so getan, als wäre nichts, weil es uns einfach nicht gefreut hat, eine tödliche Pandemie zu haben. Das ist auch der Grund, warum wir Stand gestern die höchste Rate an positiven Covid19-Tests hatten. WELTWEIT.
Mein letzter Lockdown-Newsletter hieß “Es hätte nicht so kommen müssen”. Die These war, dass nicht nur die Politik, sondern auch die Gesellschaft beim Krisenmanagement versagt hat. Sebastian Kurz hat sich im Sommer nicht den Kopf darüber zerbrochen, wie man verhindern könnte, dass die zweite Welle die Intensivstationen sprengt. Und wir alle kennen Leute, die den Sommer damit verbrachten, auf Facebook und Instagram so zu tun, als wäre die Pandemie wahlweise nicht so schlimm, erfunden oder nur Panikmache. Alle sind Schuld.
Aber seit der Lockdown ausgerufen wurde, habe ich einige Diskussionen im Freundes- und Bekanntenkreis darüber geführt, wie man das jetzt eigentlich rational am besten machen sollte. Was wäre denn die Alternative zu einem harten Lockdown? Eine befreundete Ökonomin vertritt die Ansicht, ein Lockdown würde durch wirtschaftliche Folgeschäden mehr Leben kosten als retten, was ich komplett anders sehe. Mehrere andere schreiben mir, dass der Handel umgekehrt sogar länger offen haben sollte, damit sich die Menschenmenge über den Tag aufteilen könnte. Sinngemäß: Die Leute kommen sowieso, might as well deal with it.
Eigenverantwortung in der Krise
Und das ist mein großes Problem bei allen Beurteilungen zu dieser Pandemie. Wir gehen da von einem Standpunkt aus, der aus “Friedenszeiten” kommt.
Normalerweise - also, wenn nicht gerade eine Pandemie wütet - würde ich mich als sozialliberal bezeichnen. Politisch bin ich so ungefähr bei den NEOS und Emmanuel Macron verortet. Kapitalismus, Freiheit, Eigenverantwortung finde ich cool, aber wenn ich mich zwischen Links und Rechts entscheiden müsste wäre ich links, weil es echte Freiheit ohne Chancengleichheit und einen gscheiten Sozialstaat nicht geben kann. Das ist die Theorie, und ungefähr in diesem Weltbild bewegen sich meine Meinungen.
Aber wenn es um Corona geht, fällt mir meine eigene Bubble da oft schwer. “Eigenverantwortung” mag ein schönes Wort und oft auch der richtige Ansatz sein - aber in dieser Pandemie ist dieses Konzept hervorragend gescheitert. Wenn wir die letzten Monate eines gelernt haben, dann war es, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass wir alle aufeinander schauen. “Schau auf dich, schau auf mich” wurde durch einen informellen Volksentscheid abgelehnt.
Am deutlichsten sehen wir das beim Thema Corona-Leugner. Jeder, der so tut, als wäre COVID-19 “nur eine Grippe” (es ist viel schlimmer) oder “nur erfunden” obviously not), wäre in normalen Zeiten einfach ein Spinner, den man ignorieren kann. Aber 2020 arbeiten diese Menschen aktiv darauf hin, andere mit ihrer Ignoranz in den Tod mitzureißen. Es ist nicht so, als würden sie den Tod anderer “in Kauf nehmen” - es ist eher so, dass sie ihn aktiv herbeiführen. Jeder, der dafür sorgt, dass 80-jährige Frauen auf Facebook öffentlich schreiben, dass das alles doch keiner mehr glaubt, ist mit Schuld daran, dass die bald sterben werden.
Es sind aber nicht nur die ein Problem, die sich seit Monaten erfolgreich und gegen jeden Widerstand gegen Fakten wehren. Es sind auch die, die es ja “eh ernst nehmen”, aber halt selbst für sich eine Ausnahme machen. Ich verstehe die Emotion voll: Auch ich hab überlegt, ob ich nach wochen- und monatelangem Zurückstecken nicht auch mit Freunden Halloween verbringen will, bevor der Lockdown kommt. “Heute ausnahmsweise mal”. Sollen doch die anderen schauen, dass sie sich daran halten - heute bin ich dran. Das Resultat sehen wir heute, 15 Tage nach Halloween, auf der überfüllten Intensivstation.
Letztendlich sind es aber auch alle, die sich an der österreichischsten Aktivität überhaupt beteiligen: Dem Sudern. Was man besonders oft liest, ist, dass “die Regierung versagt hat” und “die Politiker keinen Plan haben”. Ja, was sollen sie denn tun? Der harte Lockdown passt niemandem, aber wenn man es auf die nicht so harte Tour versucht, funktioniert’s auch nicht. Plan A und B bis Z werden immer zum Scheitern verurteilt sein, wenn die Bevölkerung eines Landes bis ans Limit geht, um sich nur ja nicht darauf einstellen zu müssen, dass man in einer Pandemie nicht bequem vor sich hinleben kann, als wäre nichts.
All das macht es schwer, an die Eigenverantwortung zu appellieren. Sie hat uns dahin gebracht, wo wir sind - und jetzt ist Feuer am Dach. Wir können also nicht mehr so tun, als könnten wir das Problem lösen, wenn sich nur jeder zusammenreißt. Denn wenn sich jeder zusammenreißt, sieht das anscheinend so aus:
Anders geht es wohl nicht
Dabei war ich eigentlich ein großer Fan von Eigenverantwortung. Im Frühjahr war ich auch überzeugt davon, dass wir nach dem ersten Lockdown damit weiterkommen. Denn “Operation Eigenverantwortung” ist nicht wahnsinnig schwer, sondern sollte in jeder Gesellschaft fehlerfrei und ohne große Mühe funktionieren:
Achte darauf, dass du genug Abstand hast.
Wenn das nicht möglich ist, setz deine Maske auf.
Sei nicht grausig und wasch deine Hände.
Lüfte Räume gut durch, wenn du mit anderen drin bist.
Überlege dir, welche persönlichen Termine du wirklich brauchst.
That’s it. Das ist alles, was wir tun hätten müssen. Aber dafür gibt es zu viele, die glauben, es besser zu wissen als alle Wissenschaftler, Mediziner, Politiker, Journalisten und sonstige Experten und so tun, als wäre nichts. Wenn man das noch mit “heute ausnahmsweise nicht” mischt, kriegt man eben fast 10.000 Fälle pro Tag. Und dann kommt auch das beste Gesundheitssystem ganz schnell an seine Grenzen - auch, wenn sich einige Scharlatane im Sommer eine goldene Nase damit verdient haben, das zu leugnen. (Ich hoffe, Sucharit Bhakdi kann nie mehr in den Spiegel schauen.)
Insofern will ich nochmal betonen: Nicht nur die Politik ist Schuld an dieser beschissenen Situation. Es ist ein kollektives Problem, an dem jeder beteiligt ist, der sich nicht an die Maßnahmen hält. Und ich glaube, dass jetzt wirklich der Zeitpunkt wäre, um in einer Krise einzugestehen, dass das Projekt Eigenverantwortung grandios gescheitert ist. Wir können es nicht. Wir wollen es nicht. Und unsere Politik kann es vielleicht auch nicht - aber sie zieht zumindest die Notbremse, wenn es wir nicht tun.
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