Jeder für sich - was jetzt?
Wenn die Intensivstation voll ist, will jeder nur noch selbst überleben
Es wird besser, aber nur langsam. Nach vier Wochen Lockdown, davon zwei im “harten”, stecken sich in Österreich nach wie vor rund 5.000 Menschen am Tag mit dem neuen Coronavirus an. Stand Wochenende sind 3.702 Personen im Krankenhaus, 700 auf der Intensivstation. Die Überfüllung konnte nicht verhindert werden, sondern längst da. Eine Krankenschwester in Wien wird in der Tageszeitung HEUTE zitiert.
Wir kämpfen und kämpfen, um jedes Leben, aber es scheint irgendwie zwecklos. 80-100 Tote tagtäglich. Die Krematorien kommen mit ihrer Arbeit nicht mehr nach. Die Bilder, die wir aus Italien aus dem Frühjahr kennen, sind nun bei uns aktuell. Und wenn ich dann höre, dass spekuliert wird, dass wir bald wieder lockern, wird mir übel und ich fühle mich gefrotzelt. Damit ist die dritte Welle und der dritte Lockdown im Jänner/Februar schon vorprogrammiert. Ich bin gespannt, wieviele (sic!) Pflegekräfte dann noch da sind. Ich bin auch gespannt, wer uns unsere Alpträume nimmt und das gesehene Leid wieder gut macht.
Ich hab an dieser Stelle schon öfter darüber geschrieben, dass sowohl die steigenden Zahlen als auch der Lockdown nicht nur Schuld der Politik, sondern auch die der Gesellschaft sind. Und es zeigt sich angesichts des Status Quo wieder, dass es in der Grundgesamtheit der österreichischen Meinungen dazu ein Problem gibt.
In einem normalen Land würde man sich jetzt einige Fragen stellen:
Wie kriegen wir die Zahlen schneller wieder runter?
Wie tief müssen sie sinken, damit Weihnachten keine Katastrophe wird?
Wie sperren wir sicher wieder auf, um einen dritten Lockdown zu verhindern?
Wie sorgen wir für mehr Intensiv-Kapazitäten, um mehr Leben zu retten?
Korrigiert mich, wenn ich falsch liege, aber diese Aspekte kommen in der aktuellen Diskussion wenig vor. Viel dominanter wird gerade eine Frage diskutiert, die auf der Prioritätenliste ganz weit hinten sein sollte: Ob wir an Weihnachten wieder Ski fahren können.
Interessensvertretung in der Krise
Ich weiß, dass meine Corona-Newsletter immer zynischer werden, aber es ist fast zum Schmunzeln, wie daneben die Österreicher sein können. Zustände wie in Italien im Frühjahr und wir reden übers Ski fahren. Wenn nicht 100 Menschen pro Tag sterben würden, wäre das wirklich lustig. Aber ich will keinen weiteren “Ski-Bashing-Artikel” schreiben - es ist natürlich verständlich, dass sich eine große und wichtige Branche um das Wiederaufsperren bemüht und dass auch die Politik hier Stellung bezieht.
Den wahrscheinlich besten Artikel dazu hat AMS-Chef Johannes Kopf geschrieben. In seinem Blog plädiert er dafür, Politiker nicht reflexhaft persönlich anzugreifen, wenn sie ihre Interessensgruppen vertreten. Dabei bezieht er sich sowohl auf den Auftritt von Tourismusministerin Elisabeth Köstinger in der ZIB2 als auch auf Tweets gegen Bildungsminister Heinz Faßmann. Ein interessanter Punkt in seinem Artikel kommt aus einer persönlichen Anekdote:
Ich erinnere mich, dass ich gegen Ende meiner Mittelschulzeit gemeinsam mit anderen Jugendlichen mehrere Tage lang an einem Wirtschaftssimulationsspiel teilnehmen konnte. Wir bekamen unterschiedliche Rollen wie Regierung, Arbeitgeber, Arbeitnehmer, Umweltschützer, usw. Nach ausführlichen Diskussionen untereinander wurden unsere Spielentscheidungen von ExpertInnen bewertet und in eine Simulationssoftware eingegeben, die dann anhand von Kennzahlen errechnete, wie sich unser fiktiver Staat von Jahr zu Jahr entwickelt hätte.
In dieser Simulation kam unser Land die ersten Jahre kaum voran, die Arbeitslosigkeit war hoch, die Löhne niedrig, das Wirtschaftswachstum nur schwach. Erst, als wir unseren ursprünglichen Spielansatz, der auf extremen Konsens ausgerichtet war, änderten und jeder stärker auf die Interessen der von ihm Vertretenen achtete, sodass diese Gruppe dann auch motiviert und zu mehr Leistung bereit war, erst dann kam unser Staat richtig voran.
Etwas Ähnliches dachte ich mir auch, als ich das Köstinger-Interview nachgehört habe. Sie antwortete auf jede Frage gleich und es war als Zuhörer und politischer Beobachter wenig spannend. Aber das ergibt viel mehr Sinn, wenn ich mir denke, wer gerade zuhören soll. Wenn ich ein Hotelier wäre, oder ein Seilbahn-Betreiber, oder sonst irgendwas aus dem Bereich Tourismus, dann wäre das für mich ein gutes Interview gewesen. Denn meine Existenz wäre in den nächsten Monaten davon abhängig, was “meine” Ministerin dazu sagt.
Genau das kann man auch mit Faßmann durchspielen: Na was soll er denn machen, wenn nicht die Schulen offen halten? Dass ein Bildungsminister aufseiten der Schüler und Lehrer stehen soll - die beide von Präsenzlehre profitieren, wenn sie irgendwie möglich ist -, versteht sich von selbst. Es ist einfach sein eigener politischer Bereich. Ich erinnere an die Kritik von Matthias Strolz an Beate Hartinger-Klein: “Was ist mit Ihnen? Als Gesundheitsministerin sind Sie für die Gesundheit verantwortlich!”
Kurz danach wurde das Rauchverbot gekippt. Matthias Strolz wusste halt noch, wie politische Verantwortung aussieht.
Jeder denkt an sich - und das ist verständlich
Kopfs These ist jetzt, dass Interessensvertretung und Politik an sich besser funktioniert, wenn sich politische Akteure stark für ihre Interessen(-sgruppen) einsetzen, damit der Kompromiss am Ende besser werden kann. In eine ähnliche Kerbe schlägt auch Ex-Bundeskanzler Wolfgang Schüssel in einem Gastkommentar in der SZ.
Aber es geht nicht nur um Arbeitsplätze und Wirtschaft, sondern um sorgfältige Abwägungen miteinander in Konkurrenz stehender Grundrechte und Prioritäten. Dabei ist der Schutz der Gesundheit zweifellos sehr wichtig, aber nicht absolut. Er kollidiert mit anderen Grundrechten wie etwa der persönlichen Freiheit, der Berufs- oder Erwerbsfreiheit.
Das wirkt auf den ersten Blick einfach nur krank. Für mich ist ein No-Brainer, dass die Intensivstation und das Leben der Bürger an erster Stelle kommen muss. Alles, was die Infektionszahlen senkt, muss passieren, alles andere verboten werden. Das ist zumindest der erste Reflex, den ich bei Zitaten wie “Schutz der Gesundheit ist wichtig, aber” habe.
Bis mir auffällt, dass Wolfgang Schüssel mir wahrscheinlich nicht widersprechen würde.
Es stimmt, der Lockdown ist ein Eingriff in unsere Freiheit. Er ist eine “demokratische Zumutung”, wie Angela Merkel gesagt hat. Zahlreich Existenzen werden dadurch zerstört, die Wirtschaftskrise der nächsten Jahre wird hart und viele Arbeitslose hätten wahrscheinlich lieber einen Job zurück und etwas mehr Covid-Risiko als unseren Status Quo. Das alles ist weder gut zufriedenstellend, noch gut geplant, noch irgendwie zumutbar. Aber das Virus hat uns nicht um Erlaubnis gefragt, und wir müssen immer mit den Infektionszahlen arbeiten, die wir gerade sehen. Gestern waren es in der letzten Woche des Lockdowns noch immer über 4.000.
Ich will niemandem mehr vorwerfen, wenn er sich dafür stark macht, seinen Betrieb aufsperren zu dürfen. Gerade, weil die Verordnungen das alles so unfair machen. Warum soll zum Beispiel der kleine Spielzeughändler auf sein Weihnachtsgeschäft verzichten, während SPAR österreichweit -25 % auf die gleichen Produkte anbietet?
Am Ende denkt doch jeder an sich. An seine eigene Existenz, an seine eigene Zukunft, an seine eigenen Probleme. Man sollte das niemandem verdenken und nicht von oben herab so tun, als hätten sie halt einfach vorsorgen müssen. Nicht jeder ist privilegiert genug, um in einer Pandemie permanent von daheim zu arbeiten und auch mit dem Kurzarbeits-Geld easy auszukommen. Das ist die Lebensrealität, die viele Kritiker nicht verstehen.
Was tun? Ein paar Grundregeln für die Pandemie
Was also tun? Wenn jeder an sich denkt, hat es wahrscheinlich keinen Sinn mehr, auf andere Rücksicht zu nehmen und sich selbst einzuschränken - oder? Auch, wenn Projekt Eigenverantwortung definitiv gescheitert ist, dürfen wir nicht aufhören, sie selbst wahrzunehmen. Auch, wenn sich die meisten nicht so verhalten: Wenn wir uns an die Maßnahmen halten, helfen wir nicht nur uns selbst, sondern allen.
Das Beste, was wir jetzt tun können? Daheim bleiben. Masken tragen, wenn wir nicht daheim bleiben. 100-mal gehört. Ich würde hier gerne eine große, globale Lösung einbringen, wie wir den gesellschaftlichen Wandel herbeiführen und das Coronavirus bis Weihnachten ausrotten. Aber die beste Antwort kommt von sämtlichen Experten zum Thema und ist so einfach wie “Haltet euch an die Maßnahmen.” Und auch, wenn das nicht immer gut für unsere Mental Health ist: Ich kann jetzt auch nicht mehr für die Gesellschaft tun, als daheim zu bleiben und Corona-Leugnern im Internet aufs Maul zu geben.
Und eben diesen Newsletter zu schreiben. Damit zumindest wir einen kleinen Rahmen an Regeln etablieren können, wie wir mit dieser Pandemie umgehen sollten:
Wir sollten niemanden keinen Menschen dafür shamen, der zuerst an die eigene Zukunft denkt. Wir alle tun das, aber für ein paar von uns ist es eben einfacher als für andere.
Wir sollten verstehen, dass Politiker immer ihre Interessensgruppen vertreten und damit ihren Job machen. Das wirkt oft egoistisch oder fahrlässig, führt aber wahrscheinlich zu besseren Kompromissen.
Wir sollten uns nicht die Hoffnung nehmen lassen. Impfungen sind auf dem Weg, Massentests könnten vor Weihnachten zumindest einige Menschen rechtzeitig isolieren und das Infektionsgeschehen bremsen, und die Zahlen gehen momentan zumindest runter.
Wir sollten nicht aufhören, uns an die Maßnahmen zu halten, so gut es geht. Bleibt daheim, wascht eure Hände, tragt Masken, haltet Abstand. Erfindet keine Ausnahmen für persönliche Besuche, weil es gerade so gut passt. Und weißt auch eure älteren Familienmitglieder darauf hin.
Wenn wir das alles verstehen, sind zumindest wir gut für den Rest der Pandemie gerüstet. Oder zumindest so gut, wie es bei so einem brutalen Virus geht. Solidarität ist nichts, was wir abschaffen sollten, sobald andere nur noch an sich denken. Gerade wenn sich viele Menschen nur aufs Überleben konzentrieren, sollten wir uns darin üben. Wer also einen gut bezahlten Home-Office-Job hat: Do your thing. Und seid zumindest nicht reflexartig böse, wenn Politiker fordern, dass ihr Bereich aufsperren soll. Sie meinen es wahrscheinlich nicht böse.