Ich habe diesen traurigen Fakt schon öfters erzählt, aber mein erster Bundeskanzler war Werner Faymann. Das heißt nicht nur, dass ich Politik von Anfang an von einer besonders schirchen Seite kennengelernt habe, sondern auch, dass ich mich nicht an die “Prä-Jörg-Haider-Zeit” erinnern kann. Angeblich war dieses Land vor Haider anders. Aber ich kenne Österreich nur als Land, in dem jedes Thema auch ein Ausländer-Thema ist.
Ob Bildung, Wirtschaft oder Gesundheit - irgendwo findet man in Österreich immer einen Winkel, um das Thema mit dem Spin “Scheiß Ausländer” zu framen. In der Vergangenheit war das hauptsächlich der Job der FPÖ, seit ein paar Jahren bedient auch die ÖVP dieses Narrativ aber sehr gerne. Oder ist euch nicht aufgefallen, dass die Kopftuch-Debatten immer genau dann kommen, wenn man über etwas anderes gerade so gar nicht reden will?
Auch dieser Tage ist es wieder soweit, und wir führen eine “Ausländer-Debatte” um ein Thema, das eigentlich wenig damit zu tun haben sollte: Übermäßig viele Migranten liegen auf der Intensivstation.
Migranten auf der Intensiv - ein echtes Problem?
Da Ausländer-Debatten eben immer reflexartig auftauchen, schwingt also auch leicht der Verdacht mit, dass dieses Thema strategisch platziert oder aufgebauscht ist. Gerade der oben gezeigte Artikel von Martina Salomon, die ja oft als eine Art ÖVP-Journalistin gebrandet wird - mehr dazu hier -, war dabei besonders umstritten. Dabei ist die Feststellung nicht erfunden und der Leitartikel dazu nicht die einzige Quelle dafür. Der FALTER, der nicht im Verdacht steht, eine Anti-Ausländer-Schiene zu bedienen, schreibt dazu z. B. im lesenswerten Text “Corona und Diaspora” ($):
441.728 Österreicher waren bislang bestätigte Corona-Fälle. Von den zuletzt 7,4 Millionen Inländern hatten also etwa sechs Prozent erkannte Infektionen. Die Ansteckungswahrscheinlichkeit von Ausländern ist höher, und sie schwankt stark nach Staatsbürgerschaft. Deutsche, Bosnier und Chinesen im Land haben sich seltener infiziert als Österreicher, andere häufiger: 8,46 Prozent der Afghanen waren schon Corona-Fälle, 9,15 Prozent der Kosovaren und 10,82 Prozent der Türken in Österreich. Etwa jeder neunte Türke im Land hat schon einen positiven PCR-Test abgegeben, aber nur knapp jeder 17. Österreicher.
Zur Einordnung noch ein paar Zahlen:
11,7 % der Menschen, die wegen Corona auf die Intensivstation kommen, haben nicht die österreichische Staatsbürgerschaft. (Quelle und mehr Infos.)
17,1 % der Gesamtbevölkerung hat nicht die österreichische Staatsbürgerschaft.
22,8 % der Österreicher haben Migrationshintergrund. (Stand: 2018, Quelle hier.)
43,9 % der Wiener haben Migrationshintergrund. Wenn also jeder zweite auf den Wiener Intensivstationen - und darüber reden wir am öftesten, weil diese überlastet sind - einen solchen hätte, würde das auch nur dem Durchschnitt entsprechen.
Das Problem, das ich mit dieser Debatte habe, ist also nicht, dass man die Zahlen anspricht und sich fragt, was die Gründe dafür sein könnten. Es ist, dass wir wahrscheinlich den gleichen Fehler machen, den wir immer machen, wenn es um Migranten geht. Wir reden über die falschen Variablen. Denn die meisten “Ausländer-Themen” sind eigentlich auch Themen sozialer Klasse.
Pandemie und Status
Ja, der Politikwissenschaftler hat was von “Klasse” gesagt, shame on me. Ich mag den Begriff auch nicht. Ich bin vom Marxismus weit weg und finde es merkwürdig, einen Begriff zu verwenden, der aus einer Zeit kommt, in der es wirklich noch “das Großkapital” gab und “die Arbeiterschaft”, die ihre Arbeitszeit unter nahezu sklavischen Umständen verkaufen musste, um zu überleben. Heute fällt die Arbeiterschaft auch in den Topf “neue Selbständige” - ist das jetzt Proletariat, oder schon bürgerlich?
Wenn ich “soziale Klasse” sage, meine ich vereinfacht den gesellschaftlichen Status und Geld. Und während die Zahlen zwar darauf hinweisen, dass viele Migranten auf den Intensivstationen liegen, zeigen sie auch ganz deutlich, dass der sozio-ökonomische Status von Menschen entscheidend ist.
Corona zu vermeiden ist theoretisch ganz einfach: Kontakte reduzieren. Wenn Kontakte, dann draußen und/oder getestet. Drinnen Maske tragen, wenn dort viele Leute sind. Wir kennen das. Nichts weißt darauf hin, dass dieses Virus irgendetwas mit der Herkunft zu tun könnte, und sowas wie genetische Einflüsse auf Basis der Herkunft wird von Wissenschaftlern nicht nahegelegt. Was ist also der Grund dafür, dass sich Migranten scheinbar öfter anstecken? Dass sie diese Maßnahmen seltener einhalten können. Der FALTER schreibt:
Nicht nur Geflüchtete leben in Österreich auf engem Raum: 2016 hatte laut Statistik Austria jeder Mensch ohne Migrationshintergrund 49 Quadratmeter Wohnraum für sich, jeder mit Migrationshintergrund 30 Quadratmeter. 2019 brachten laut dem Österreichischen Integrationsfonds im Inland geborene Frauen im Schnitt 1,36 Kinder zur Welt, im Ausland geborene 1,81 Kinder. Größere Familien bedeuten mehr enge Kontaktpersonen.
Zugezogene arbeiten auch besonders systemrelevant: Jeder dritte nicht-akademische Krankenpfleger hat Migrationshintergrund, auf Baustellen und in Lebensmittelfabriken ist jeder Dritte Ausländer, im Einzelhandel etwa jeder Vierte. Solche Berufe erlauben keine Homeoffices.
Migranten arbeiten in schlechter bezahlten und weniger angesehenen Jobs, die oft im Kontakt mit vielen anderen Menschen sind. Home-Office, flexible Arbeitszeiten oder ein eigenes Büro sind in dieser Gruppe seltener. Das ist nur eine statistische Annahme und keine absolute Aussage - niemand sagt, dass Migranten Jobs mit höherem Gehalt und Status mit flexibleren Bedingungen (“Money Jobs”) nicht machen könnten.
Aber es gibt Gründe dafür, warum das so ist. Nicht alle davon sind fair. Wenn jemand neu im Land sind und mangelnde Sprachkenntnisse hat, wird diese Person eher auf Arbeit angewiesen sein, bei der diese nicht unbedingt notwendig sind. Aber selbst wenn Migranten diese Kenntnisse nachweisen, reicht das oft nicht - weil viele bei einem -ić am Ende des Namens immer noch mehr Vorbehalte haben als bei denen, die “österreichischer” klingen.
Es ist also selbstverständlich nicht die Herkunft, die bestimmt, wie schwer der Corona-Verlauf wird - wo man in der Gesellschaft steht, wie viel Platz und wie viel Geld man hat, das sind die wichtigsten Faktoren in einer Pandemie. Für mich als flexiblen PR-Berater im Home-Office ohne Vorerkrankungen sagt sich das leicht, aber viele sind da einfach der Willkür ihrer Chefs oder den notwendigen Arbeitsbedingungen ihres Berufes ausgesetzt. Und nicht jeder kann es sich richten. Das hat übrigens auch der neue Gesundheitsminister Wolfgang Mückler bei seinem Debut-Interview in der ZIB2 bestätigt.
“Ich habe jetzt sicherlich zehn Jahre lang den Zusammenhang zwischen einem niedrigen sozialen Status und Krankheit erleben können.”
Das heißt übrigens nicht, dass man jede Debatte zum Thema Migration abwürgen muss. Im gleichen FALTER-Artikel, den ich zitiert habe, kommt auch eine Studie vor, laut der Afghanen zum Thema Corona-Pandemie viel weniger informiert sind als Österreicher. Auch in den Meinungsbildern zu COVID-19, z. B. zu Verschwörungstheorien, zeigen sich klare Unterschiede. Und mir hat eine türkische Freundin aus ihrer Erfahrung erzählt, dass viele türkische Männer das Virus einfach nicht ernst nehmen.
Trotzdem sollten wir uns bei jeder “Ausländer-Diskussion” in Erinnerung halten, dass “Ausländer” oft ein Platzhalter für Menschen mit niedrigerem sozio-ökonomischem Status ist. Nur weil etwas mit Migrationshintergrund korreliert, heißt es nicht, dass eine Kausalität vorliegt - die erklärenden Variablen sind nicht Geburtsorte, sondern Mietpreise und Gehaltszettel.
Wir haben in Österreich immer wieder Anlässe, über Migration zu diskutieren, strategisch platziert oder nicht. Schauen wir, dass wir das wenigstens auf einer seriösen Ebene tun.